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1 Durkheim und Simmel als Klassiker der Organisationssoziologie?

Emile Durkheim und Georg Simmel gehören zweifelsohne zu den soziologischen Klassikern. Durch das Aufgreifen der Schriften von Durkheim und Simmel gelingt es der Organisationssoziologie, eine an Anreiz, Effizienz, Rationalität und Ökonomie orientierte Beschreibung von Organisation soziologisch weiterzuentwickeln und auf die Bedeutung sozialen und kulturellen Handelns hinzuweisen. Beide Autoren interessieren sich jedoch dabei nicht für Organisationen als einen eigenständigen Forschungsgestand. Ihnen geht es in erster Linie darum, die gesellschaftlichen Transformationen ihrer Zeit zu beschreiben. Sie stoßen dabei zwangsläufig auf das Phänomen der Zunahme bürokratischer, verwaltungs-kooperativer Strukturen im Übergang zum 20. Jahrhunderts. Beide sehen Organisationen weniger als einen Ort der rationalen und effizienten Problemlösung, sondern sie interessieren sich vielmehr für kulturelle und soziale Folgen und Möglichkeiten dieser spezifischen Ordnungsform. Durkheim ([1893] 1988) fragt beispielsweise nach den solidaritätstiftenden Funktionen von Organisationen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, während Simmel ([1896] 1992a, [1900] 2011) die Wechselwirkungen zwischen der versachlichten Koordination durch Organisationen und neuen Formen der Vergesellschaftung, wie z. B. Individualisierung und Urbanisierung, untersucht. Trotz dieser unterschiedlichen Fragestellungen bearbeiten sie in Bezug auf Organisationen zwei ähnliche Bezugsprobleme:Footnote 1 Beide Autoren stellen erstens auf die Bedeutung kultureller Formen und Praxen für das Verstehen von Gesellschaft und ihrer Organisationen ab und arbeiten zweitens an der Beschreibung der dynamischen Beziehung zwischen dem Einzelnen und gesellschaftlichen Strukturen. Über die Auseinandersetzung mit Durkheim und Simmel gelingt es, Organisationen nicht nur als unvollkommenes Realbild eines rationalen Idealtyps zu verstehen, sondern soziale Prozesse der Bedeutungsgenerierung zu betonen. Forschungsbereiche wie die Unternehmens- und Organisationskulturforschung, aber auch der Neo-Institutionalismus, die Netzwerkforschung, die Critical Management Studies und praxis- und prozessorientierten Ansätze in der Organisationsforschung verdanken Durkheim und Simmel wichtige Impulse (vgl. hierzu die Beiträge zu diesen Organisationstheorien in diesem Band). So lässt sich zuspitzen, dass beide Autoren sowohl Referenz für eine kultursoziologisch orientierte Beschreibung von Organisationen (Starkey 1992; Dobbin 2009; Scott 2009; Johnson und Duberley 2010) sind, als auch Grundlagen für Perspektiven bieten, die Individual-, Organisations- und Gesellschaftsebene dynamisch analysieren (Starkey 1992; Kanter und Khurana 2009; Hirsch et al. 2009).

Würden Durkheim und Simmnel heute auf eine Organisation wie die UN schauen, so könnte sich Durkheim beispielweise dafür interessieren, wie weltweite kulturelle Vorstellungen von Koordination eine Organisation wie die UN erst hervorbringen und in ihrer Ausgestaltung prägen, um dann im Anschluss zu fragen, welche Funktionen die UN für die Gesellschaft dabei bereitstellt. Er würde Pathologien, wie beispielsweise schlechte Impfraten, zu geringe Bildungsmöglichkeiten für Mädchen oder ökologische Versäumnisse diagnostizieren und untersuchen, ob die UN hierfür institutionelle Lösungen bereitstellt. Auch aus einer Simmel’schen Perspektive könnte untersucht werden, durch welche Wechselwirkungen und Verknüpfungen unterschiedlicher Akteure und gesellschaftlicher Koordinationsformen, die UN in ihrer Gestalt überhaupt erst entstehen konnte. Er würde sich auch für die aktuellen Formen interner Koordination interessieren und sich fragen, wie die quantitative und qualitative Zusammensetzung von Gruppen und Netzwerken innerhalb der UN deren Dynamik beeinflussen.

In einem ersten Schritt werden im Folgenden die theoretischen Aspekte von Durkheim und Simmel und ihre Konzeption von Organisation vorgestellt (Abschn. 2). Dies dient dazu zu konturieren, wie diese Autoren Organisationsphänomene theoretisch bzw. empirisch in den Blick genommen haben und an welchen Theoriestellen spätere Organisationsforschung anknüpft. In einem zweiten Schritt werden sowohl implizite als auch explizite Wirkungen der beiden Autoren auf die Organisationssoziologie skizziert (Abschn. 3). Genauer geht es um die kultursoziologische Perspektive auf Organisationen (Abschn. 3.1) und die dynamische Verknüpfung der Indivdiual- und Organisations- mit der Gesellschaftsebene (Abschn. 3.2). Der Text schließt mit einer kritischen Würdigung und der Frage, inwiefern die beiden Klassiker für die aktuelle Organisationssoziologie theoretische Impulse liefern können (Abschn. 4 und 5).

2 Durkheim, Simmel und ihr Gesellschafts- und Organisationsverständnis

Durkheim und Simmel analysieren Organisationen nicht als ein Phänomen sui generis, sondern treffen im Zuge ihrer jeweiligen gesellschafts- bzw. sozialtheoretischen Analysen auf das Phänomen zunehmender Organisationsbildung. An dieser Stelle soll geklärt werden, für welche gesellschaftlichen Fragestellungen sich die beiden Autoren jeweils interessieren und wie sie dabei das Phänomen Organisation in den Blick nehmen.

2.1 Durkheim: Organisation als Institution

Durkheim kann als Klassiker der Kultursoziologie gelesen werden (Moebius 1999) und hat so auch der Organisationforschung, die sich auf die Konstitution und Institutionalisierung von Sinn und Symbolen fokussiert, wichtige Vorlagen gegeben.

In seinem Buch Die elementaren Formen des religiösen Lebens ([1912] 2007) untersucht Durkheim, wie Solidarität und kollektives Bewusstsein entstehen. Er untersucht, inwiefern Religion und ihre Symbole und Praktiken in segmentierten Stammesgesellschaften Solidarität unter ihren Mitgliedern herstellen und integrierend wirken, um dann zeigen zu können, welche Äquivalente dafür in der modernen Gesellschaft zur Verfügung stehen. Die Orientierung an religiösen Symbolen und Formen begründet er dabei gerade nicht psychologisch oder metaphysisch, sondern indem er analysiert, wie durch soziales Handeln Symbole hervorgebracht werden, denen dann im Nachgang eine metaphysische Bedeutung zugeschrieben wird. Hier wird seine methodologische Herangehensweise deutlich, die er in seinem berühmten Werk Die Regeln der soziologischen Methode ausführt ([1895] 1984). Er definiert dort Soziologie als „Wissenschaft von den Institutionen, deren Entstehung und Wirkungsart“ ([1895] 1984, S. 100). Gegenstand der Soziologie sind demnach alle sozialen Tatbestände, die dem Einzelnen äußerlich sind, auf ihn aber zwingend wirken, allgemein in der Gesellschaft gelten und von den Einzelnen unabhängig sind. Es geht ihm darum, Soziales durch Soziales zu erklären. Durkheim ist damit die Einsicht zu verdanken, dass Moralbewusstsein und Wertvorstellungen weder vom „Himmel fallen“, noch in „der Natur des Menschen“ begründet sind, sondern erst in sozialen Zusammenhängen entstehen. Diese Einsicht wird im Nachgang zu Durkheims Beschäftigung mit Religion zu einer (kultur)soziologischen Selbstverständlichkeit (Moebius 1999) und wird in der Organisationssoziologie aufgegriffen, wenn es ab den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts zunehmend darum geht Organisationen und ihre kulturelle Bedingtheit in den Blick zu nehmen (vgl. hierzu Abschn. 3 des Beitrags).

Ein weiterer Forschungsbereich Durkheims ist die zunehmender Arbeitsteilung in der modernen Gesellschaft und die Entstehung neuer Integrationsmodi: „Tatsächlich hängt einerseits jeder um so enger von der Gesellschaft ab, je geteilter die Arbeit ist, und andererseits ist die Tätigkeit eines jeden um so persönlicher, je spezieller sie ist“ ([1893] 1992, S. 183). Dass Arbeitsteilung koevolutionär mit der massiven Entstehung von Organisationen zusammenhängt, thematisiert Durkheim dabei nicht explizit. Vordergründig ist bei ihm die Frage, wie gesellschaftliche Differenzierung, die Freiheit des Individuums und gesellschaftlicher Zusammenhalt zusammenhängen. Sein Denken ist dabei funktionalistisch: „Die Arbeitsteilung stellt nicht Individuen einander gegenüber, sondern soziale Funktionen. Und die Gesellschaft ist am Spiel der letzteren interessiert“ (Durkheim [1893] 1992, S. 478). So diskutiert Durkheim in seinem Buch Der Selbstmord, inwiefern bestimmte Organisationstypen, wie Berufs- und Fachverbände, funktionale Äquivalente sein können, die den Verlust eines „gleichen inneren Zusammenhalts“ ([1897] 1983, S. 449), der vormals durch Konfession, Familie oder Politik gestiftet wurde, kompensieren. Damit die Berufsverbände diese Funktion erfüllen können, müssen sie jedoch reformiert werden, um in der Lage zu sein, die mangenden Kollektivkräfte zu kompensieren:

„Aber wenn man ihr diesen Einfluss zuschreibt, muss man sie auf einer ganz anderen Grundlage organisieren als heute. Zunächst ist es wesentlich, dass sie, statt eine private Gruppe zu bleiben, die das Gesetz wohl zulässt, aber der Staat ignoriert, zu einem genau bestimmten und anerkannten Organ des öffentlichen Lebens wird. […] Man muß der Gruppe bestimmte Funktionen zuweisen, damit sie nicht nur leere Fassade bleibt, und es gibt solche Funktionen, denen sie besser als jede andere Gruppe nachzukommen imstande ist.“ (Durkheim [1897] 1983, S. 450)

In diesem Zitat wird einerseits Durkheims funktionalistisches Denken deutlich. Es geht ihm nicht um das Einzelinteresse des Individuums, sondern darum, wie Institutionen gestaltet werden können, die in der Lage sind, integrierend zu wirken. Anderseits wird deutlich, dass er gesellschaftliche Steuerung qua soziologischer-empirischer Analyse für nötig und für möglich hält. Diese Haltung besitzt bis heute große Wirkmächtigkeit in der Soziologie – gerade in ihrer politisierten Form – und auch in der (angewandten) Organisationsforschung. In den Ausführungen über die Berufsverbände wird außerdem Durkheims Organisationsverständnis deutlich. Organisationen modernen Typs, wie Verwaltung, Administration oder Verbände, werden als Institutionen begriffen, die die wichtige Funktion übernehmen, die in ihr vertretenen Individuen im Zuge zunehmender Differenzierung und Konkurrenz solidarisch zu binden (Dobbin 2009). Diese Vorstellung wurde organisationstheoretisch weiterentwickelt, beispielsweise in neo-institutionalistischen Ansätzen (vgl. dazu Abschn. 3 in diesem Beitrag).

2.2 Simmel: Organisation als versachlichte Form

Während Durkheim bei seinen Arbeiten vor allem an den gesellschaftlichen Konsequenzen einer zunehmenden Arbeitsteilung ansetzt und die Frage der gesellschaftlichen Integration stellt, geht es Simmel um eine – man mag sie mikrosoziologisch nennen – Beschreibung von Formen der Vergesellschaftung (Simmel [1908] 1992a). In der Organisationssoziologie werden diese Überlegungen bei der Erforschung von Gruppenzusammensetzungen und -dynamiken und netzwerktheoretischen Analysen aufgegriffen.

Gesellschaft, wie auch Individuen, Gruppen oder Organisationen sind für ihn keine einheitlichen Gebilde, sondern die Summe von sich gegenseitig beeinflussenden und beschränkenden Wechselwirkungen:

„Wo eine Vereinigung stattgefunden hat, deren Formen beharren, wenngleich einzelne Mitglieder ausscheiden und neue eintreten; wo ein gemeinsamer äußerer Besitz existiert, dessen Erwerb und über den die Verfügung nicht Sache eines Einzelnen ist; wo eine Summe von Erkenntnissen und sittlichen Lebensinhalten vorhanden ist, die durch die Teilnahme der Einzelnen weder vermehrt noch vermindert werden, die, gewissermaßen substantiell geworden, für jeden bereit liegen, der daran teilnehmen will; wo Recht, Sitte, Verkehr Formen ausgebildet haben, denen jeder sich fügt und fügen muss, der in ein gewisses räumliches Zusammensein mit anderen eintritt – da überall ist Gesellschaft, da hat die Wechselwirkung sich zu einem Körper verdichtet.“ (Simmel [1890] 1989, S. 133)

Formen sind somit all das, dem sich das Individuum fügt, und es ist die Analyse dieser Formen, die sich der Soziologie widmen solle, nicht den Inhalten (vgl. dazu kritisch Durkheim [1900] 2009). So analysiert Simmel beispielsweise in seiner Soziologie den Streit (Simmel [1908] 1992a, S. 284), das Geheimnis (Simmel [1908] 1992a, S. 383) oder die triadische Gruppe (Simmel [1908] 1992a, S. 63) als soziale Formen, die Konsequenzen für gesellschaftliche Strukturierungsprozesse haben – Überlegungen, an die insbesondere die netzwerktheoretische Organisationsforschung anknüpft (vgl. Abschn. 3.2),

Simmel geht, analog zu Durkheim, von einer sich differenzierende Gesellschaft aus. Diese Differenzierung macht er weniger an der Arbeitsteilung als an der Durchsetzung der Geldwirtschaft fest (Simmel [1896] 1992b). Durch Geld entstehe die Möglichkeit, in unpersönlichen und raumübergreifenden Austausch zu treten. Dies führt auch dazu, dass die Einzelnen sich in unterschiedlichen sozialen Kreisen bewegen können, in denen unterschiedliche Vorstellungen, Sittlichkeiten, Rechte und Vorstellungen gelten. Durch das Kreuzen sozialer Kreise kann ein Individuum überhaupt erst entstehen, da es sich an pluralistischen Formen der Vergesellschaftung orientieren kann (Simmel [1908] 1992a, S. 456). Auch die Ausdifferenzierung von Organisationen beschreibt Simmel in diesem Sinne. Durch die Durchsetzung der Geldwirtschaft entstehen Organisationen, die ihre Ziele in völliger Sachlichkeit verfolgen können, weil sie lediglich auf das Geld ihrer Beteiligten oder Kunden angewiesen sind bzw. ihre Mitarbeiter mit Geld bezahlen können. Diese Versachlichung auf der Ebene der Organisation führt dazu, dass der Einzelne sich nicht mehr gänzlich einer Organisation hingeben muss, sondern nur in Bezug auf einen bestimmten Austausch von Leistungen gegen Geld:

„Um so sachliche Interessen sich die mittelalterliche Association auch gruppieren mochte, sie lebte doch ganz unmittelbar in ihren Mitgliedern, und diese gingen rechtslos in ihr auf. Im Gegensatz zu dieser Einheitsform hat nun die Geldwirtschaft jene unzähligen Associationen ermöglicht, die entweder von ihren Mitgliedern nur Geldbeträge verlangen oder auf ein bloßes Geldinteresse hinausgehen. Dadurch wird einerseits die reine Sachlichkeit in den Vornahmen der Association, ihr rein technischer Charakter, ihre Gelöstheit von personaler Färbung ermöglicht, andererseits das Subject von einengenden Bindungen befreit, weil es jetzt nicht mehr als ganze Person, sondern in der Hauptsache durch Hingeben und Empfangen von Geld mit dem Ganzen verbunden ist.“ (Simmel [1896] 1992b, S. 180)

Er geht davon aus, dass es in der modernen Gesellschaft ganz unterschiedliche Orientierungsrahmen für den Einzelnen gibt, je nachdem in welchen Kreisen er sich bewegt bzw. mit welchen gesellschaftlichen Formen er konfrontiert ist. Simmel wird für die Organisationsforschung erstens dann interessant, wenn es darum geht, zu zeigen, dass es in Organisationen bestimmte Formen der Rationalisierung und Versachlichung gibt, aber darüber hinaus auch andere, insbesondere kulturelle Orientierungsrahmen bedeutsam sind (vgl. z. B. Goffman 1961). Zweitens beeinflusst Simmel Arbeiten, die sich für die Beziehung von Individuen und ihrer Inklusion in organisationale Arbeitssettings und der Dynamik und Wechselwirkungen in organisationalen Gruppen interessieren (vgl. z. B. Scott 2009). Simmel wird für Theorien in Anspruch genommen, die von „unten“ schauen und nachvollziehen wollen, wie bestimmte Muster, Kulturen und Überzeugungen und damit auch soziale Praxen und Routinen prozedural entstehen. Seine Denkungsart der Wechselwirkung, der Relationalität und Prozesshaftigkeit ist daher wichtiger Impulsgeber für praxistheoretischen, netzwerktheoretischen und prozessorientierten Ansätzen in der Organisationssoziologie (vgl. z. B. Häußling 2010, 2015; Scott 2009, S. 278).

3 Simmel, Durkheim und die Organisationssoziologie

Wie lesen sich nun die beiden Werke bezüglich ihres Einflusses auf die Entwicklung der Organisationssoziologie im Vergleich? Den Werken Simmels und Durkheims ist erstens gemein, dass sie einer kultursoziologischen Organisationsforschung Vorlagen bieten. Beide Autoren weisen auf die kulturelle Rahmung von Organisation hin. Zweitens nehmen beide Theoretiker die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen Individuum, Organisation und Gesellschaft in den Blick. Im Folgenden geht es darum, anhand dieser zwei gemeinsamen Bezüge, die jeweiligen organisationssoziologischen Anschlüsse aufzuzeigen.

3.1 Kultursoziologische Perspektive auf Organisationen

3.1.1 Der Aspekt der Kultur in der klassischen Organisationssoziologie

Bereits in frühen organisationssoziologischen Arbeiten wird auf die Relevanz der kulturellen Einbettung von Organisationen verwiesen und dabei auf die Arbeiten Durkheims und Simmels rekurriert. Mit Durkheim werden Fragen der Integration bzw. der Desintegration durch geteilte bzw. nicht geteilte Werte oder Kultursymbole betont, währen Simmel dazu genutzt wird, auf die Pluralität kultureller Orientierungsrahmen und die daraus entstehende (konflikthafte) Dynamik zu verweisen.

Elton Mayo gilt als Kritiker eines in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Denkens, dass Organisationen allein gemäß eines „scientific managements“ (Taylor [1911] 2006) gestaltet werden können und sollen. In seinem Buch The Human Problems of an Industrial Civilization (1933) rekurriert Mayo auf Durkheims Arbeiten zur Solidarität, um zu zeigen, dass es Faktoren wie gruppendynamische Prozesse und außerorganisationale Werteinstellungen sind, die neben den individuellen Merkmalen der Einzelnen die Arbeitsleistung beeinflussen. Ihm wird dabei eine verkürzte bzw. missverständliche Lesart vorgeworfen, weil er Durkheims Theorie psychologisch interpretiert – was dieser gerade vermeiden wollte (Dingley 1997). Dennoch argumentiert Mayo analog zu Durkheims Ausführungen zu den Berufsverbänden, dass Organisationen durch gesellschaftliche Werte beeinflusst werden und dass diese bei der Gestaltung von Arbeitsprozessen beachtet und gesteuert werden müssen, damit keine dysfunktionalen Folgen entstehen.

Auch James G. March and Herbert A. Simon (1958) als Vertreter der Carnegie School orientieren sich in ihrem für die Organisationsforschung grundlegenden Buch Organizations an Durkheims Arbeiten zur Entstehung kultureller Symbole ([1912] 2007), wenn sie darauf abstellen, dass Rationalität zwar eine dominante Orientierungsprämisse in Organisationen ist, deren Ausgestaltung aber kulturell geformt ist. Sie zeigen, dass der Umgang mit Problemen in Organisationen und die Lösungsfindung erheblich von Gewohnheiten und Routinen abhängen. Der Modus des Organisierens ist daher nicht das rationale Entscheiden, bei dem alle möglichen Optionen ausgelotet und bewertet werden, sondern das Suchen nach analogen Lösungswegen, die in der Vergangenheit bereits funktioniert haben. Frank Dobbin stellt heraus, dass es sich bei March und Simon, um die gleiche Vorstellung von Problemlösungs-Routinen handelt, die Durkheim für Stammesgesellschaften herausgestellt hat: „Organizations, like tribes, offer different menus of past solutions to choose from. They develop precise problem-solving routines for dealing with common and predictable functions and general routines for dealing with rare and unpredictable functions“ (2009, S. 210). So wie ein eingraviertes Totem auf Waffen die gemeinsamen Regeln der Jagd für jeden einzelnen Jäger präsent hält, so beeinflussen kollektive Denkschemata und routinierte Abläufe und ihre jeweiligen Symbolisierungen in Organisationen den kognitiven Umgang mit neuen Entscheidungssituationen. In Anlehnung an Durkheim stellen March und Simon heraus, dass sich Kognition und kulturelle Gepflogenheiten gegenseitig bedingen. Die kognitiven Fähigkeiten des Einzelnen sind keine unabhängigen individuellen Eigenschaften, sondern durch kollektive Kulturmuster geprägt.Footnote 2

Die Arbeiten der Columbia School (z. B. Lazarsfeld und Merton 1954; Blau 1964) nehmen Ansätze beider Autoren auf, um die Bürokratietheorie Webers weiterzuentwickeln (vgl. zu Webers Bürokratietheorie auch den Beitrag von Windeler in diesem Band). Sie greifen Durkheims Ausführungen zur Solidarität auf, indem sie geteilten Werten eine integrierende Funktion zuschreiben. Simmel wiederum ist mit seinem Konzept der Wechselwirkungen einflussreich, wenn es darum geht, Dynamiken des Konflikts, des sozialen Einflusses und der Diffusion in Gruppen zu verstehen und so auch die Entstehung von Machtkonstellationen in Organisationen zu klären (insbesondere Blau 1964).

Auch Erving Goffman (1961), dessen Studien zu „totalen Institutionen“ zu den Klassikern der Organisationssoziologie zählen, nimmt ebenfalls sowohl auf Simmel als auch auf Durkheim Bezug. Ihn interessiert, wie Individuen in Wechselwirkung zueinander, Konsens über die Beschaffenheit ihrer Wirklichkeit erzielen und welche Kontexte diese Situationen beeinflussen. Diese Prozesse untersucht er in Krankenhäusern, Psychiatrien und Gefängnissen. So zeigt er, wie es gerade auch die Patienten, Eingewiesenen und Inhaftierten sind, die daran mitarbeiten, dass soziale Ordnung stabil bleibt. Dabei nimmt er direkten Bezug auf Durkheims Arbeiten zur Entstehung kollektiver Denkmuster, gleichzeitig orientiert er sich an Simmels Überlegungen zur Rollenübernahme und Rollendistanzierung (Goffman 1967, S. 47).Footnote 3

Den klassischen organisationstheoretischen Ansätzen gelingt es, über den Bezug auf Durkheim und Simmel,Footnote 4 das Bürokratiemodell auf der einen Seite und Vorstellungen von Rationalität und Effizienz auf der anderen Seite so zu erweitern, dass Organisationsphänomene nicht nur darüber, sondern auch in ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Verwobenheit erklärt werden.

3.1.2 Unternehmens- und Organisationskulturforschung

Ab den 1970er-Jahren des 20. Jahrhunderts manifestiert sich dann ein explizites Interesse an Organisationskultur, wobei der direkte Einfluss von Simmel nachlässt und die Arbeiten Durkheims zur wichtigen Referenz einer kulturorientierten Organisationsforschung werden (Dobbin 2009; Scott 2009; Starkey 1992). Die Unternehmens- und Organisationskulturforschung positioniert sich als ein Gegenentwurf zu kontingenztheoretischen Ansätzen (Burns und Stalker 1966; Lawrence und Lorsch 1967), die versuchten, durch quantifizierende Methoden Strukturmerkmale von Organisation zu systematisieren und zu vergleichen. Mit diesem cultural turn verändert sich die theoretische Konzeption von Organisation grundlegend (Bonazzi 2008; Cunliffe 2010). Während bisher die rationale Formalstruktur als dominierend angesehen wurde, auch wenn deren kulturelle Einbettung betont wurde (s. o.), schlägt nun die Sichtweise um: Die spezifische Kultur der Organisation, ihre grundlegenden Überzeugungen und Wertvorstellung beeinflussen die Strukturierung und die Steuerung von Organisationen (z. B. Schein 1985; Peters und Waterman 1982; Deal und Kennedy 1982). Diese Ansätze radikalisieren (und vereinfachen) Durkheims Ausführungen zu Berufsverbänden (Lincoln und Guillot 2004): Binnenmoral entsteht bei Durkheim in Organisationen, die gemeinsame Arbeitsethiken entwickeln; die Kulturforschung der Organisation knüpft an diesem Punkt an und betont, dass die Steuerung der Organisation über einen gemeinsamen Wertekonsens gelingt und dass die kollektive Ausrichtung auf ein Organisationsziel nur eine gemeinsame Orientierung an Werten zu haben ist.Footnote 5

3.1.3 Neo-Institutionalismus

Parallel zu den Forschungen, die die Unterschiede von Organisationsformen über die Unterschiedlichkeit der Kultur erklären, entwickeln sich neo-institutionalistische Ansätze (vgl. hierzu den Beitrag von Meyer zum Neo-Institutionalismus in diesem Band). Diese setzen jedoch nicht an der Unterschiedlichkeit von Organisationsformen an, sondern an der Beobachtung, dass sich Organisationen in ihren Strukturen immer mehr angleichen und sich an best practices orientieren. Auch hier geht es darum, eine Erweiterung der Betrachtung von Rationalitäts- und Effizienzvorstellungen zu entwickeln. Dass Organisationen sich in ihren Strukturen angleichen, liege nicht daran, dass sich evolutionär die rationalste Form der Organisation durchsetze. Vielmehr handelt es sich um eine Anpassung an einem Mythos der Rationalität, der so Legitimität in der weiteren Umwelt der Organisation schafft (Meyer und Rowan 1977). Diese Einsicht stellt einen direkten Bezug zu Durkheims ([1912] 2007) Elementaren Formen religiösen Lebens her: „Each new practice comes fully equipped with a story about why it is efficient, just as, in Durkheim’s tribes, each ritual comes with a story about why the spirit world requires it“ (Dobbin 2009, S. 213). Rationalität und Effizienzdenken wird somit als eine mögliche Weltsicht gesehen, an der man sich orientiert, weil sie für gesellschaftlich legitim und plausibel gehalten wird. Auch Neil Fligsteins (1990) berühmte Analyse über die Transformation von Steuerungsprinzipien in amerikanischen Unternehmen lässt sich hier einordnen. Fligstein knüpft direkt an die Arbeiten von Meyer und Rowan an, die die Kulturbedingtheit von Rationalitäts- und Effizienzverständnis stark machen und ergänzt diese Sichtweise um eine machttheoretische, die wiederum zeigt, dass es sich bei der Durchsetzung bestimmter Managementprinzipien um einen Kampf über kulturelle Deutungshoheit handelt.

3.2 Dynamische Verknüpfung von Individual-, Organisations- und Gesellschaftsebene

3.2.1 Kritische Organisationsforschung

Sowohl Simmel als auch Durkheim werden als Impulsgeber für die Critical Management Studies (CMS) diskutiert. Diese Forschungsperspektive hat weniger die Analyse der Organisation als eigenen Gegenstand im Blick, sondern vor allem die kritische Einschätzung der Arbeits- und Lebensbedingungen, die heute maßgeblich in Organisationen stattfinden. Zentrales Merkmal der kritischen Organisationsforschung ist somit: „the position of the individual in relation to the social structure […], with organizations featuring as a focal point“ (Granter 2014, S. 549). Das Interesse an Organisationen ist somit ein abgeleitetes, d. h. Organisationen sind Fokuspunkt der Beobachtung, jedoch nicht Bezugspunkt der theoretischen Beschreibung (von Groddeck 2016). In diesem Bereich sind es oft eher diskurstheoretische und (neo-)marxistische Ansätze, die zur Anwendung kommen (z. B. Fairclough 2011; vgl. auch den Beitrag von Hartz zur Diskurstheorie in diesem Band). Jedoch werden auch die Arbeiten zu Simmel und Durkheim in diesem Kontext verhandelt und diskutiert.

So loten beispielsweise Paul Hirsch et al. (2009) aus, inwiefern Durkheims Buch zur Arbeitsteilung sich heute adaptieren ließe, um die gesellschaftlichen Umbrüche, die mit der Globalisierung in Verbindung stehen, zu untersuchen. Sie schlagen ein großes Forschungsprogramm vor, das u. a. vergleichende Studien zu Deregulierung global agierender Organisationen vorsieht und das Neu-Entstehen internationaler Institutionen untersucht, die globalen Handel regulieren. Ihnen geht es darum, Durkheims Überlegungen zur Solidarität auf Probleme anzuwenden, die durch Globalisierung verursacht werden:

„All of these research topics share as their underlying theme Durkheim’s concern that for the devisioncies of labor to progress and his vision of the organic society to unfold, solidarity needs to be fostered and regulations in place to avoid unfettered opportunism. It would follow from these concerns that there is too little attention provided to developing leaders, programs, and policies that contribute to solidarity across firms constituencies.“ (Hirsch et al. 2009, S. 236)

Hier wird deutlich, dass die Autoren, nicht nur an Durkheims Überlegungen zu Solidarität und Arbeitsteilung anknüpfen, sondern vor allem auch an Durkheims Ambition, pathologische Zustände der Gesellschaft zu diagnostizieren und mögliche Lösungen vorzuschlagen.

Alan Scott (2009) zeigt, wie Simmels Unterscheidung von Inhalt und Form und seine Theorie der sich kreuzenden sozialen Kreise dazu genutzt werden können, die sich verändernden Arbeitsbedingungen der Moderne zu beschreiben. Er versteht dabei Organisation als eine Form, die Individualität und individuelle Kreativität ermöglicht und beschränkt, und analysiert so die Auswirkungen spät-kapitalistischer Organisationsformen. Während mit Weber eher die Bedrohung des Einzelnen durch bürokratische Strukturen im Vordergrund stehe, kann mit Simmels Theorieangebot analysiert werden, welche Auswirkungen Organisationsformen haben, die sich nicht anhand klassischer Bürokratiemerkmale charakterisieren lassen. Für moderne Organisationsformen kann dann gezeigt werden, dass sich die Grenzen organisationaler Zirkel so ausbreiten, dass sich die Möglichkeit, sich in unterschiedlichen Zirkeln frei bewegen zu können, für den einzelnen wieder einschränkt.

Diese beiden Beispiele zeigen, wie die Theorierahmen von Simmel und Durkheim, heute dazu genutzt werden, die gesellschaftliche Verortung des in Organisationen arbeitenden Individuums zu analysieren und kritisch zu bewerten (hierzu auch: Kanter und Khurana 2009; Johnson und Duberley 2010).

3.2.2 Netzwerkforschung und Gruppendynamik

Insbesondere Simmels Werk ist eine wichtige Referenz, wenn es um Perspektiven der Verknüpfung und um die Struktur und Dynamik von Gruppen geht (klassisch z. B. Blau 1964; Lazarsfeld und Merton 1954; vgl. hierzu auch Punkt 3.1). So ist Simmel für die relationale Soziologie und die Netzwerkforschung eine der klassischen Referenzen (neben Radcliff-Brown) (vgl. dazu Häußling 2010; Holzer und Stegbauer 2019; Windeler 2001, S. 91 f.) und damit auch für eine netzwerktheoretische Organisationsforschung (Windeler 2001, vgl. auch den Beitrag von Karafilidis in diesem Band). Simmel wird jedoch oft lediglich für sein grundsätzliches Denken in Relationen und Wechselwirkungen zitiert, als dass mit seinen theoretischen Konzepten direkt gearbeitet wird (Scott 2009, S. 271). Ausnahmen sind hier beispielsweise die Arbeiten Ronald Burts zu seiner Theorie struktureller Löcher (1992, 2005). Er rekurriert hier insbesondere auf Simmels Arbeiten zum Dritten ([1908] 1992a, S. 63 ff.), der als Sozialtyp widersprüchliche Funktionen vereint, indem er gleichzeitig trennend und verbinden wirkt. In der Triade ist nach Simmel bereits die gesamte gesellschaftlicher Komplexität angelegt (Lindemann 2006). Burt argumentiert, dass ein Dritter, der unabhängige Akteure verbinden kann, in einem Netzwerk strukturelle Macht besitzt. Simmel typologisiert diese Figur als „tertius gaudens“ ([1908] 1992a, S. 75 f.). David Krackhardt (1999) kritisierst Burts Argument der machtvollen Position des Dritten und zeigt anhand einer Studie zum Verlauf einer Abstimmung zur Gewerkschaftsbildung in einem Softwareunternehmen, dass der Dritte als „Broker“ zwischen zwei Gruppen, eher zwischen unterschiedlichen Gruppennormen zerrieben wird, als dass er eine Machtposition besitzt. Krackhardt bezieht sich ebenfalls explizit auf Simmels Arbeiten zur Triade, zeigt aber, dass eine Brückenposition besonders einschränkt, wenn zugleich enge Cliquenbeziehungen bestehen (diese Verbindungen nennt er „Simmelian Ties“, Krackhardt 1999).

Auch Rosabeth Moss Kanter (1977) bezieht sich explizit auf Simmels Ausführungen zu Gruppenzusammensetzungen, wenn Sie geschlechtsspezifische Ungleichheit in Organisationen untersucht. Sie übernimmt von ihm den Gedanken, dass die Veränderung der numerischen Größe von Gruppen auch eine qualitative Veränderung in der Gruppeninteraktion nach sich zieht. Sie erweitert diesen Ansatz, indem sie nicht nur die absolute Größe von Gruppen untersucht, sondern auch ihre proportionale Zusammensetzung. In Gruppen, in denen Frauen unterrepräsentiert sind, kommt es dazu, dass diese in Organisationen, analog zu anderen Minderheiten, die herausgehobene Stellung von „tokens“ einnehmen: sie sind besonders sichtbar, unterliegen einer besonderen Aufmerksamkeit und werden nicht als Individuen, sondern als Repräsentanten einer sozialen Gruppe wahrgenommen. Wenn die Zahl der Frauen zunehme, würden sich die token-Positionierung auflösen.Footnote 6

4 Kritik

Aus heutiger Sicht muss man konstatieren, dass Durkheims Einfluss auf die Organisationstheorie und insbesondere auf eine kulturorientierte Organisationssoziologie hoch war, aber auch nach der Hochphase des cultural turns in der Organisationssoziologie nachgelassen hat, so wie insgesamt die Auseinandersetzung mit Durkheim in der Soziologie nachlässt.Footnote 7 Mit dem cultural turn und den einflussreichen Arbeiten des Neo-Institutionalismus entsteht eine bedeutsame Forschungsrichtung in der Organisationssoziologie, die Rationalität nicht mehr als grundlegendes Merkmal diskutiert, sondern sich „nur“ noch dafür interessiert, wie bestimmte Formen des Organisierens entstehen und wie diese sich mit gesellschaftlicher Legitimität ausstatten. Die Frage nach der Rationalität wird zu einer abgeleiteten. Zu klären ist, wie es dazu kommt, dass bestimmte Praxen für rational gehalten werden und wie Rationalität zu einer legitimen Form von Organisationsprinzipien wird. In der Organisationssoziologie ist diese Perspektive zu einer organisationssoziologischen Selbstverständlichkeit geworden und die explizite Auseinandersetzung mit Klassikern, die eine solche Perspektive angeleitet haben, scheint nicht mehr drängend.

Weiter kann die abnehmende Auseinandersetzung mit Durkheim in der Organisationsforschung auch damit begründet werden, dass der Fokus auf einheitliche Wert- und Denkvorstellungen ein Organisationsbild transportiert, das sich durch klare Grenzen, hinreichende Stabilität und Homogenitätsannahmen auszeichnet. Diese Organisationsvorstellung widerspricht den aktuell zu beobachtenden Organisationsphänomen zum Teil erheblich, die eher durch ihre Entgrenztheit, Fluidität und Temporalität charakterisiert werden.Footnote 8 So kritisiert Ken Starkey weniger Durkheim als die Rezeption Durkheims in der Organisationsforschung, die ihn zu sehr auf die Frage der Integration von Organisationen festgelegt habe, und schlägt vor, seine Arbeiten zur Generierung von Symbolen und der Ritualisierung sozialer Praxis wieder in den Vordergrund zu stellen, so wäre Durkheim durchaus für eine praxistheoretische und mikrofundierte Organisationssoziologie wieder zu entdecken. Auch Dobbin (2009) erinnert daran, dass es wichtig ist, nicht nur empirisch nachzuzeichnen, welche Mythen des Organisierens sich in einem gemeinsamen kulturellen Bezugssystem durchgesetzt haben, sondern dass es auch darum gehen muss, die Diffusion und die Veränderung, die dabei über Kulturräume hinweg stattfindet, nachzeichnen zu können. Auch die Prozesse in der Organisation, die die Entstehung bestimmter legitimer Organisationsansätze erhellen könnte, ist noch nicht genügend ausgearbeitet. Dabei geht es nicht darum, den Status quo zu erklären, sondern zu verstehen, wie Innovationen entstehen und sich dann in neuen Organisationspraxen niederschlagen. Auch wenn das Kulturparadigma zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, eröffnet es bis heute wichtige Forschungsfragen.

Simmel wiederum scheint gerade in der Zeit, die soziologisch erfolgreich als Netzwerkgesellschaft oder als post- oder spätmodern bezeichnet wird, als Klassiker wiederentdeckt zu werden (Scott 2009; Kron 2000; Weinstein und Weinstein 1990). Dieser späte Erfolg liegt an der im Vergleich mit anderen soziologischen Autoren seiner Generation späten Aufarbeitung seiner hinterlassenen Texte. Auch ist sein Werk weniger systematisch, essayistischer und deckt eine immense Themenvielfalt ab, sodass die Darstellung seiner Arbeit weniger systematisch erfolgte. Doch der späte Erfolg Simmels lässt sich auch inhaltlich begründen: seine Betonung einer prozessualen Perspektive und von Formen der Wechselwirkung, die nicht inhaltlich charakterisiert werden bzw. erst in Auseinandersetzung mit empirischen Beobachtungen, scheinen besser auf die aktuelle Verfasstheit der Welt zu passen, als auf eine relativ stabile Nachkriegszeit. Doch selbst wenn man von einem Hype um Simmel in der Soziologie sprechen kann, so sind die Spuren in der Organisationssoziologie mit Ausnahme der organisationssoziologischen Netzwerktheorie im Vergleich zu Durkheim weiterhin eher spärlich. „Simmel’s growing importance to social theory generally has not gone unnoticed in organization studies. Nevertheless, we must be careful not to exaggerate Simmel’s influence here“ (Scott 2009, S. 269). So wird zwar immer häufiger auf ihn referiert, doch geht es dabei eher darum, ihn als einen Vordenker zu stilisieren und dabei weniger mit seinem eigentlichen Theorieangebot zu arbeiten.

5 Durkheim und Simmel als Klassiker der Organisationssoziologie!

Durkheim und Simmel haben Spuren in der Organisationssoziologie hinterlassen. Die Frage ist nun, inwiefern die Theoriegerüste für aktuelle Organisationsforschung Bedeutung haben können? Der Wert dieser beiden soziologischen Klassiker für heutige Forschung kann nicht darin gesehen werden, zeitgebundene Begriffe und Problembeschreibungen für aktuelle Forschungen zu übernehmen. Dennoch können auch heute die Werke Simmels und Durkheims dazu genutzt werden, aktuelle Mainstream-Forschung und ihre Ansätze zu hinterfragen. In Bezug auf die kulturorientierte Organisationsforschung kann dies beispielsweise gelingen, indem man genauer untersucht, wie bestimmte Kulturformen durch Organisation entstehen, stabilisiert werden und diffundieren. Die Klassiker können erstens dazu dienen, bestimmte Fragestellungen soziologisch grundsätzlicher und somit programmatischer zu stellen (wie z. B. in Bezug auf Simmel Cooren et al. 2011; Stohl und Stohl 2011; Parker 2016; Kanter und Khurana (2009) und z. B. in Bezug auf Durkheim Hirsch et al. 2009)

Beide Autoren nehmen sich zweitens, auch wenn sie keine Theorie der Organisation formulieren, des Zusammenhangs von Individuum, Gesellschaft und Organisation (als eine spezifisch wirksame Entität) an. So könnte die heutige Organisationsforschung durchaus von einer erneuten Auseinandersetzung mit Simmel und Durkheim profitieren, um die gesellschaftliche Kontextualisierung von Organisationsphänomenen zu stärken und diese dynamisch zu denken (wie dies beispielsweise folgende Autoren verlangen: Ahrne et al. 2016; Scott 2004). Und vielleicht gelingt dies um so besser, wenn man sich auf Durkheim und Simmel verbindend bezieht.