1 Einleitung

Parlamente sind Kerninstitutionen repräsentativer Demokratien. Idealtypisch lassen sich folgende fünf Funktionen allen Parlamenten zuordnen: Repräsentations- und Artikulationsfunktion, Wahlfunktion, Kontrollfunktion und Legislativ- oder Gesetzgebungsfunktion. Die Ausprägung der Wahrnehmung dieser Funktionen ist von Parlament zu Parlament sehr unterschiedlich. Sie hängt erstens von den verfassungsmäßigen und gesetzlichen Vorgaben ab – z.B. stehen Abgeordneten unterschiedliche Kontrollmöglichkeiten zur Verfügung – zweitens wird die Rolle von Parlamenten auch durch den Typ des demokratischen Regierungssystems determiniert. In parlamentarischen Regierungssystemen – wie in der Republik Südafrika – besteht eine Handlungseinheit von Mehrheitsfraktion(en) und Regierung. Die Kontrollfunktion wird daher vor allem, aber keineswegs ausschließlich von der parlamentarischen Opposition wahrgenommen. Im Unterschied zur präsidentiellen Demokratie kann das Parlament in parlamentarischen Regierungssystemen die Regierung durch ein Misstrauensvotum stürzen. Dieser Aspekt wird von Stefani (1979) als das entscheidende Unterscheidungskriterium zu präsidentiellen Regierungssystemen definiert. Die Stellung bzw. der Spielraum der Abgeordneten ist drittens abhängig von der jeweiligen Parlamentsinfrastruktur, den Mehrheitsverhältnissen im Parlament, dem Selbstverständnis der Abgeordneten und dem Verhältnis zwischen Partei, Fraktion und Abgeordneten.

Die Stellung des südafrikanischen Parlaments im parlamentarischen Regierungssystem Südafrikas wird von wissenschaftlicher Seite überwiegend als schwach eingeschätzt. So beantworten Venter und Taljaard (2003, S. 50–51) in ihrer Einführung in das politische System Südafrikas ihre selbstgestellte Frage „Does Parliament matter?“ zunächst positiv: „The argument (…) is that Parliament indeed does matter.“ Im Folgenden verweisen die beiden Autoren aber auf die geringe Wertschätzung des Parlaments in der Öffentlichkeit und die Dominanz der Regierungspartei African National Congress (ANC), die den Spielraum und die Bedeutung des Parlaments begrenzt (siehe dazu auch Venter und Spiess in diesem Band). Auch Joel Barkan (2005, S. 15) kommt in einem Paper, das auf Interviews mit ParlamentarierInnen und deren MitarbeiterInnen beruht, zu einem ambivalenten Urteil: „(…) whether the National Assembly is a rubber stamp or an autonomous and significant body, the answer is ambiguous.“ In einem Beitrag auf der Basis des gleichen Datensatzes führt er zur Frage, ob die Nationalversammlung ein Stempel (rubber stamp) sei, etwas optimistischer aus: „the reality is both more complex and more hopeful“ (Barkan 2009, S. 214).

Dieser Beitrag bestätigt dieses ambivalente Urteil und argumentiert, dass die Schwäche des Parlaments gerade im Bereich der Kontrolle der Regierungsarbeit in den letzten Jahren zugenommen hat und das Parlament in Südafrika nur eingeschränkt in der Lage ist, seine Kernfunktionen wie die Artikulation politischer Haltungen, Anforderungen an die Politik und Kontrolle des Regierungshandelns (im Sinne der oversight power) zu erfüllen. Die Gesetzgebungsfunktion hingegen erfüllt das Parlament. Das Parlament ist allerdings nicht der „Ort des Politischen“. Mit dem „Ort des Politischen“ ist weniger gemeint, dass die politischen Entscheidungen im Parlament fallen. Im formalen Sinne wird natürlich über Gesetze abgestimmt, aber die eigentliche Entscheidung über Gesetzesvorhaben im parlamentarischen System fällt sehr häufig in der Exekutive, die sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – der Unterstützung der Legislative sicher sein kann. Mit „Ort des Politischen“ ist vielmehr gemeint, dass Parlamente die aktuellen und kontroversen Themen aufgreifen, sie öffentlichkeitswirksam diskutieren und damit einen Beitrag zur Meinungsbildung leisten. Dieses Verständnis vom Parlament als „Ort des Politischen“ ist in Südafrika, wie gesagt, nicht gegeben. Dazu ist die Aufmerksamkeit für und das Ansehen des Parlaments in der Bevölkerung aufgrund struktureller Faktoren, aber auch einiger Skandale, zu gering. Der wesentliche Grund für die eingeschränkte Wahrnehmung zentraler Parlamentsfunktionen ist – so eine These dieses Beitrages – in erster Linie in der Disziplinierung der Abgeordneten der ANC-Mehrheitsfraktion durch die Parteiführung des ANC zu sehen.

Dieser Beitrag konzentriert sich in erster Linie auf die Nationalversammlung, eine der beiden parlamentarischen Kammern, die im Unterschied zum Provinzrat direkt gewählt und politisch bedeutender ist. Nach einem kurzen Überblick über den Forschungsstand werden in einem ersten Schritt zunächst ausführlich die verfassungsmäßigen Kompetenzen der Nationalversammlung vorgestellt. Danach wird untersucht, inwieweit die Nationalversammlung ihre Funktionen im politischen System wahrnimmt. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Kontrollfunktion. Es schließen sich Abschnitte über das geringe Ansehen der Nationalversammlung in der Öffentlichkeit und ihre parteipolitische Zusammensetzung im Sinne eines durch den ANC dominierten Parteiensystems an (vgl. Spiess in diesem Band). Das folgende Kapitel widmet sich dem Provinzrat. Die Diskussionen um institutionelle Reformen, mit denen die Rolle des Parlaments aufgewertet werden könnten, sind Gegenstand des sich anschließenden kurzen Kapitels. In der abschließenden Bewertung wird argumentiert, dass es in erster Linie strukturelle Gründe wie das Listenwahlsystem sind, die das Parlament daran hindern, eine starke Rolle zu spielen. Hinzu kommen „hausgemachte“ Korruptionsaffären, die das Ansehen des Parlaments beschädigten. Die zweitrangige Rolle des Parlaments ist nicht allein Ursache des institutionellen Gefüges des parlamentarischen Regierungssystems mit ausschließlicher Listenwahl, sondern auch Resultat der spezifischen südafrikanischen politischen Kultur, zu denen die Tradition einer breiten Befreiungsbewegung und, unter der Regierung von Jacob Zuma, ein starker Populismus gehören.

2 Anmerkungen zum Forschungsstand

Im Unterschied zu der kaum noch überschaubaren Forschungsliteratur zum Demokratisierungsprozess des Landes sind detaillierte sozialwissenschaftliche Studien zu zentralen Verfassungsinstitutionen wie Parlament oder Präsidialamt Mangelware. Die einschlägigen Einführungen in das politische System des Landes (Butler 2009; Lodge 2002; Venter 2003; Venter und Landsberg 2011) widmen ihnen in der Regel nur wenig Raum. Stärker systematisch angelegte Untersuchungen mit häufig vergleichendem Charakter liegen von Barkan (2005), Nijzink et al. (2006) vor. Vergleichsweise ist die Literaturlage zu Süd-afrika aber noch gut, denn zu den Kerninstitutionen der politischen Systeme der meisten Staaten Afrikas liegen kaum Studien vor. Gründe dürften zum einen im Verzicht auf eine Feldforschung liegen, da sie nicht nur administrative Hürden zu überwinden hat, sondern auch zeitaufwändig und kostenintensiv ist. Zum anderen, und dies ist sicher der wichtigste Grund für die Forschungsabstinenz im institutionellen Kontext, herrscht in der politikwissenschaftlichen Forschung die (selten explizit gemachte) Auffassung vor, dass formale Institutionen in Afrika entweder keine oder nur eine begrenzte Rolle spielen. Gerade in den letzten 20 Jahren erfuhr die Forschung über Neopatrimonialismus (Bayart 1986; Bratton und van der Walle 1994, 1997) einen starken Aufschwung. Neopatrimoniale Strukturen, die durch verfassungsmäßig verankerte, traditionell starke Exekutiven noch befördert werden, führten dazu, dass Entscheidungen in informellen Institutionen (Lauth 2000) vorbei an den dafür vorgesehenen Institutionen getroffen werden. Dies gilt für autoritäre Systeme, für Systeme in einer Grauzone zwischen Demokratie und Autokratie (defekte Demokratie) als auch in abgeschwächter Form für demokratische politische Systeme. Die Existenz neopatrimonialer Strukturen bedeutet dabei keineswegs, dass moderne, rationale Institutionen keine Rolle spielen. Charakteristisch sei, so Erdmann (2002, S. 330), dass „Elemente patrimonialer und rational-bürokratischer Herrschaft (…) miteinander verwoben“ seien. Langfristig untergraben informelle Institutionen – z.B. in Form von Klientelismus, Korruption, Putschdrohung – die Glaubwürdigkeit demokratischer Institutionen. Die Südafrikaforschung ignorierte die Forschungsperspektive des Neopatrimonialismus weitgehend. Das Land sowie Botswana und mit Abstrichen Namibia galten lange Zeit als modern bzw. „immun“ gegenüber neopatrimonialen Strukturen. Im Unterschied zu den meisten anderen Ländern waren klientelistische Strukturen und die ethnische und regionale Herkunft von Politikern nicht die zentralen Faktoren, um politisches Verhalten und Selbstverständnis erklären zu können (Barkan 2009, S. 205). Die bereits seit der Mbeki-Präsidentschaft zu beobachtende Zunahme an Korruption, Nepotismus und Klientelismus, die sich mit der Amtszeit Zumas noch verstärkte, hat die Aufmerksamkeit stärker auf einzelne Aspekte der Ansätze gelenkt ohne dass systematische wissenschaftliche Analysen vorliegen.

In Südafrika ist eine häufig zu beobachtende Ignoranz auf Seiten der politischen Akteure und der Zivilgesellschaft gegenüber den repräsentativen Institutionen auch politisch-ideologisch bedingt: Repräsentative Institutionen gelten vielen VertreterInnen der Zivilgesellschaft und PolitikerInnen in Südafrika als Teil einer weißen bürgerlichen Tradition, die mit der noch nicht abgeschlossenen gesellschaftlichen Transformation des Landes, getragen von einer revolutionären Massenbewegung unter Führung des ANC, nur schwer in Einklang zu bringen ist.Footnote 1 Als wichtigere Themen, zu denen zahlreiche Studien vorliegen, gelten Identität und Hautfarbe, soziale Bewegungen und vor allem die Sozial- und Wirtschaftspolitik. Informelle Institutionen wie Klientelismus sind – abgesehen von einigen Veröffentlichungen zu Korruption – bisher nicht Gegenstand systematischer wissenschaftlicher Recherche in Südafrika gewesen. Auch sind dem Verfasser kaum wissenschaftliche Studien zur Entscheidungsfindung in der Regierung und der Regierungspartei bekannt.Footnote 2 Allerdings liegen einige Insiderberichte von ehemaligen Parteigrößen (Feinstein 2007) und eher journalistische Analysen vor (Gumede 2005).

3 Die Nationalversammlung (National Assembly)

Die ersten demokratischen Wahlen fanden nach einer fast vierjährigen schwierigen Übergangsphase im April 1994 statt. Zwar entsprachen auch die Wahlen während der Apartheidzeit (1948–1990) demokratischen Standards, jedoch galten diese nur für die weißen Wahlberechtigten; die überwiegende Bevölkerungsmehrheit der schwarzen SüdafrikanerInnen blieb ausgeschlossen. Mit den Gründungswahlen 1994 wurde die Phase einer „exklusiven Demokratie“ beendet, in der nur ca. 11 % der Bevölkerung wählen durften. Mit den Wahlen trat eine Übergangsverfassung in Kraft, die für zwei Jahre gültig sein sollte. Eine Verfassungsgebende Versammlung, gebildet aus den Abgeordneten der Nationalversammlung des SenatsFootnote 3, erarbeitete die endgültige Verfassung. Die Arbeit erfolgte in Ausschüssen und Kommissionen, in denen im Falle von Abstimmungen das Konsensprinzip galt. Die zahlreichen Eingaben und Vorschläge für die Verfassung von Seiten der Bevölkerung, die dazu ausdrücklich aufgefordert worden war, wurden ebenfalls von der Verfassungsgebenden Versammlung bearbeitet. Das südafrikanische Parlament nahm während der zwei Jahre eine herausragende Stellung im Verfassungsgebungsprozess ein (Ebrahim 1998), der den Kern des Demokratisierungsprozesses des Landes darstellte (Schmidt 1996). Allein zwischen 1994 und 1996 verabschiedete das Parlament über 250 Gesetze, um den Übergang von der Apartheid zur Demokratie zu befördern. Während dieser kurzen Zeit konzentrierte sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Verfassungsgebende Versammlung und das Parlament war der „Ort des Politischen“. Die wichtige Rolle des Parlaments war auch Ausdruck der kooperativen Haltung Nelson Mandelas gegenüber dem Parlament. Im Unterschied zur Apartheidära (Barkan 2009, S. 221), wurde das Parlament schon frühzeitig in politische Vorhaben einbezogen und die Kontakte zu führenden Abgeordneten waren eng. Zur aktiven Rolle der Nationalversammlung leisteten auch starke Persönlichkeiten einen Beitrag. Besonders zu erwähnen ist Frene Gingwala, die erste Parlamentssprecherin (Spea-ker), die energisch die Reorganisation des Parlamentes voran brachte und hohe politische Aufmerksamkeit und Respekt genoss (Barkan 2009, S. 212–213).

Die südafrikanische Verfassung widmet sich sehr ausführlich in 40 Artikeln (Art. 42–82) dem Parlament. Als Sitz des Parlaments wurde Kapstadt – ca. 1600 km entfernt vom Regierungssitz in Pretoria – festgelegt. Südafrika besitzt ein Zweikammersystem. Demnach besteht das Parlament aus zwei getrennten Kammern: der Nationalversammlung (National Assembly) und dem Rat der Provinzen (National Council of Provinces, NCOP). Der Rat der Provinzen vertritt die Interessen der neun Provinzen, so wie in der Bundesrepublik Deutschland der Bundesrat die Interessen der Länder auf Bundesebene wahrnimmt.

3.1 Die Struktur der Nationalversammlung

Die Nationalversammlung besteht aus 400 Abgeordneten, von denen die eine Hälfte über eine nationale Liste und die andere über Provinzlisten gewählt werden. Die Anzahl der Abgeordneten, die über die Provinzlisten gewählt werden, bemisst sich nach der Bevölkerungszahl. Dabei sind die Unterschiede beträchtlich: Während bei den letzten Wahlen 2014 in der bevölkerungsreichsten Provinz Gauteng 56 Abgeordnete gewählt wurden, waren es im bevölkerungsarmen Northern Cape lediglich sechs.

Die reguläre Legislaturperiode umfasst 5 Jahre. Vor dem turnusgemäßen Ablauf der Legislaturperiode kann das Parlament auf drei Arten aufgelöst werden, so dass Neuwahlen stattfinden müssen. Erstens besitzt das Parlament ein Selbstauflösungsrecht. Frühestens nach drei Jahren in einer Legislaturperiode kann sich die Nationalversammlung mit einfacher Mehrheit selbst auflösen. Zweitens muss ein/e ÜbergangspräsidentIn, der lediglich die Amtsgeschäfte führt, die Nationalversammlung auflösen, wenn kein Nachfolger eines/er z.B. zurückgetretenen PräsidentIn innerhalb von 30 Tagen mit Mehrheit gewählt wird. Das schärfste Kontrollinstrument des Parlaments ist das Misstrauensvotum. Die Nationalversammlung kann den/die PräsidentIn durch ein Misstrauensvotum stürzen. Dazu bedarf es der Unterstützung für einen Antrag von mehr als 50 % der Abgeordneten. Aufgrund der überragenden Stärke des ANC ist ein Misstrauensvotum in hohem Grade unwahrscheinlich. Weiter kann die Nationalversammlung ein Amtsenthebungsverfahren (Impeachment) in Fällen von Amtsmissbrauch und offensichtlicher Unfähigkeit des/der PräsidentIn mit Unterstützung von 2/3 der Abgeordneten einleiten. Bislang ist das Impeachment-Verfahren nicht weiter in der Verfassung beschrieben.

Ausschließlich der Nationalversammlung steht das Recht zu, den/die PräsidentIn mit absoluter Mehrheit zu wählen. Aus ihrer Mitte wählt sie auch einen/e SprecherIn (Speaker) und einen/e stellvertretenden/e SprecherIn mit jeweils absoluter Mehrheit. Der/die SprecherIn genießt in Südafrika hohe mediale Aufmerksamkeit, da er/sie das Parlament als Ganzes vertreten soll. Der Senat wählt einen/e PräsidentIn (Chairperson) und zwei StellvertreterInnen für die Dauer einer Legislaturperiode.

3.2 Gesetzgebungs- und Kontrollfunktion

Die Gesetzgebung obliegt der Nationalversammlung. In Südafrika gibt es drei verschiedene Arten von Gesetzen: Vom Parlament verabschiedet Gesetze (Acts of Parliament), Gesetze der Provinzparlamente (Ordinances) und Gesetze der alle vier Jahre neu gewählten lokalen VertretungenFootnote 4 (Municipal Councils) – by-laws genannt. Die Nationalversammlung berät, ändert gegebenenfalls und beschließt Gesetze oder lehnt diese ab, wobei Finanzgesetze vom parlamentarischen Initiativrecht ausgenommen sind. Gesetzesinitiativen können von der Exekutive (MinisterInnen und PräsidentIn), Parlamentsausschüssen und, wie in Großbritannien, auch von einzelnen Abgeordneten eingebracht werden. Gesetzesinitiativen von einzelnen Abgeordneten (Private Member’s Bills) sind möglich, in der Praxis aber selten. Der/die PräsidentIn kann ein Gesetz zurückweisen, wenn er/sie Bedenken gegenüber der Verfassungskonformität des Gesetzes hat. Weigert sich das Parlament die Einwände des/der PräsidentIn zu akzeptieren, kann e/sie das Gesetz durch den Verfassungsgerichtshof auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüfen lassen.

Die konkrete Gesetzgebungsarbeit findet in Ausschüssen statt, die in der Nationalversammlung Portfolio-Committees und im Provinzrat Select Committees bezeichnet werden. Die Ausschüsse sind spiegelbildlich zu den Ministerien organisiert. Sie werden gemäß der Stimmenverteilung für die Parteien im Parlament besetzt, wodurch der ANC die Ausschussarbeit in hohem Maße bestimmen kann. Inwieweit die Ausschüsse als engine room of the new parliamentary democracy (Venter und Taljaard 2003, S. 34) bezeichnet werden können, kann nicht verallgemeinert werden, da bislang nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen zu ihrer Arbeit vorliegen. Die Portfolio Committees werden dabei von den sog. Chapter IX Institutionen unterstützt. Dazu gehören die South African Human Rights Commission (SAHRC), die Commission for Gender Equality, der Auditor-General, der Public Protector (eine Art Ombudsmann), die Electoral Commission und die Commission for the Promotion and Protection of the Rights of Cultural, Religious and Linguistic Communities. Diese Institutionen sollen die demokratische Transformation Südafrikas durch Recherche und Beobachtung der Entwicklungen unterstützen. Sie sind nominell unabhängig und sind dem Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig. So ist beispielsweise die South African Human Rights Commission (SAHRC)Footnote 5 verpflichtet, dem Ausschuss für Justiz und Verfassung jährliche Berichte über die Lage der Menschenrechte in Südafrika vorzulegen. Die Arbeit der Chapter IX Institutionen wird sehr unterschiedlich bewertet. Die Leistungsfähigkeit und Bedeutung hängt dabei von der jeweiligen finanziellen und materiellen Ausstattung sowie der Leitung der jeweiligen Institutionen ab. Insgesamt gehen von den Chapter IX Institutionen weniger Impulse für die Demokratisierung der Gesellschaft aus als erwartet.

In Art. 55 der Verfassung wird neben der Gesetzgebungsfunktion auch die umfassende Kontrollfunktion der Nationalversammlung definiert. Die zwei zentralen Aufgaben der Nationalversammlung sind demnach: „(a) to ensure that all executive organs of state in the national sphere of government are accountable to it; and (b) to maintain oversight of – (i) the exercise of national executive authority, including the implementation of legislation; and (ii) any organ of state“.

Die Wahrnehmung dieser „Allkontrollzuständigkeit“ erfolgt durch die Mitwirkung an der Gesetzgebung in der Ausschussarbeit. Daneben stehen weitere Instrumente wie schriftliche und mündliche Anfragen, Anhörungen von PolitikerInnen und der Verwaltungen, die Vorladung sowie die Abhaltung von Hearings. Weiterhin können sich BürgerInnen und Interessengruppen des Landes direkt an das Parlament mit Petitionen wenden. Insbesondere Interessengruppen suchen den direkten Kontakt zu den entsprechenden Ausschüssen. Die südafrikanische Verfassung schreibt in Art 59/2 fest, dass die Parlamentssitzungen inklusive der Ausschusssitzungen für BürgerInnen und Medien öffentlich sind. Allerdings können Ausnahmen gemacht werden, die nicht näher spezifiziert werden. Eine enge Kooperation mit den Medien wird durch diese Bestimmung erleichtert (zu Medien siehe Louw in diesem Band).

Seit 1994 wurde die Parlamentsarbeit zudem stetig modernisiert. Die Ausstattung mit Computern und Recherchemöglichkeiten von Abgeordneten ist gegenüber dem Parlament der Apartheidzeit deutlich verbessert. Die Organisation der Nationalversammlung ist effektiver geworden und insgesamt kann von einer Professionalisierung der Parlamentsarbeit ausgegangen werden (February 2006, S. 127). Im Unterschied zu Abgeordneten in anderen afrikanischen Parlamenten verfügen südafrikanische Abgeordnete über großzügige Räumlichkeiten, Aufwandsentschädigungen und relativ hohe Gehälter. Jedem/er Abgeordneten stehen ein/e MitarbeiterIn und seit 1999 sogar gesonderte Mittel für die Arbeit vor Ort zur Verfügung, um den Kontakt zu Bevölkerung zu verbessern. Trotzdem sind laut Habib und Schultz-Herzenberg (2005, S. 172) die Abgeordneten aufgrund mangelnder Infrastruktur und Expertise kaum in der Lage, die komplexen Haushaltsausgaben der Regierung effektiv zu kontrollieren. Barkan (2009, S. 224–225) hingegen argumentiert, dass die schwache Rolle des Parlamentes hinsichtlich der Haushaltsaufstellung und -kontrolle historisch bedingt ist, denn das Finanzministerium dominiert traditionell die Haushaltspolitik und es gibt keine Bestrebungen, diese Praxis zu ändern.

3.3 Die Nationalversammlung in der politischen Praxis und das Verhältnis zur ANC-Parteiführung

Die Nationalversammlung erfüllt die Gesetzgebungsfunktion zu einem hohen Grad. So nimmt die Nationalversammlung Schätzungen zur Folge bei 70–80 % aller Gesetze Änderungen vor (Barkan 2009, S. 214). In der unmittelbaren Nach-Apartheidzeit und bis zum Ende der ersten Legislaturperiode 1999 verabschiedete die Nationalversammlung eine Vielzahl von Gesetzen. In der zweiten Legislaturperiode sank die Zahl der verabschiedeten Gesetze dann auf durchschnittlich 70 gegenüber vorher ca. 100 pro Jahr. Die Anzahl der Private Members Bills, die in der Nationalversammlung diskutiert werden, ist durchschnittlich einstellig pro Jahr und spielt damit politisch keine Rolle.

Die Funktionslogik des parlamentarischen Regierungssystems erfordert eine generelle Unterstützung von Gesetzesvorhaben der Regierung durch das Parlament. Das bedeutet jedoch nicht, dass Gesetze quasi automatisch von der Parlamentsmehrheit „durchgewunken“ werden. Innerhalb der ANC-Parlamentsfraktion gibt es auch aufgrund der starken Faktionierung des ANC häufig unterschiedliche Auffassungen zu einzelnen Gesetzesvorhaben oder Details – das ist typisch für eine Catch-all-Partei wie dem ANC (Schmidt 2006). Änderungswünsche von Seiten der ANC-Fraktion, aber auch der Oppositionsfraktionen oder von einzelnen Abgeordneten können jedoch nicht immer substantiellen Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen. Hingegen ist der Einfluss von Interessengruppen aus der Wirtschaft und von Gewerkschaften (Thuynsma 2012) größer, insbesondere, wenn Sie dem ANC nahestehen (zu Interessengruppen siehe Hachmann und zu Gewerkschaften siehe Ludwig in diesem Band).

Judith February (2006) analysierte einige Gesetzesvorhaben, die zu Konflikten zwischen Regierung und Abgeordneten führten, im Hinblick darauf, ob es der Regierung gelang, die Vorhaben durchzusetzen oder nicht. Das Gesetz zur Beschaffung und Export von Rüstungsgütern (National Conventional Arms Control Bill) wurde am Ausschuss vorbei von der Regierung im Parlament eingebracht und die zuständigen Ausschüsse konnten die Regierungsvorlage nur leicht modifizieren. Letztlich wurde das Parlament, in dem Bedenken gegen die Vorlage herrschten, politisch ausmanövriert. Der Ausschussvorsitzende, Thandi Modise, sowie die beliebte Parlamentssprecherin Frene Ginwala wurden durch Präsident Mbeki „weggelobt“ bzw. verloren ihr Amt, da sie diese und andere Vorlagen sowie die Korruption im ANC kritisiert hatten (ebd., S. 131). Im Fall der Verabschiedung der Terrorismusgesetzgebung (Protection of Constitutional Democracy against Terrorism Act 2004) gelang es dem Parlament allerdings, wichtige Änderungen durchzusetzen, so dass das Gesetz weit liberaler ausfiel, als ursprünglich geplant. Dafür verantwortlich war v.a. der Widerstand des Gewerkschaftsdachverbandes COSATU (Congress of Trade Unions of South Africa) (ebd., S. 132). COSATU repräsentiert weit über eine Million Mitglieder und ist ein enger Partner des ANC in der informellen Tripartite Alliance gemeinsam mit der South African Communist Party (SACP). COSATU Funktionäre bekleiden häufig gleichzeitig hohe Posten im ANC und der SACP und der Dachverband trägt zu Mobilisierung von ANC-WählerInnen bei. COSATU besitzt daher auf einigen Politikfeldern eine starke Stellung bzw. sogar eine Veto-Position wie z.B. in der Arbeitsgesetzgebung (siehe auch Ludwig in diesem Band).

Die insgesamt 26 Ausschüsse nehmen ihre Aufgaben sehr unterschiedlich wahr. Zu den in der Gesetzgebung aktiven Ausschüssen zählen Habib und Schultz-Herzenberg (2005, S. 170–171) das Committee on Justice and Constitutional Development.Footnote 6 Die Qualität der Ausschussarbeit hängt dabei in hohem Maße von dem jeweiligen Vorsitz ab. Von der Verfassung sind die Parlamentsausschüsse mit umfangreichen Kontrollrechten ausgestattet. Sie besitzen etwa laut Art. 56 der Verfassung weitreichende Befragungs- und Untersuchungsrechte. Doch üben die Ausschüsse ihre Kontrollfunktion bislang nicht umfassend und wirkungsvoll aus (Nijzink und Piombo 2005, S. 66). Daran änderte auch die Etablierung eines Unterausschusses des Rules Committees zur Verbesserung der Kontrollfunktion wenig. Die Gründe für die geringe Wahrnehmung der Kontrollfunktion sind nicht ausschließlich strukturell durch die Gewaltenverschränkung bedingt, sondern sind auch politischer Natur. Die Parteizentrale des ANC interveniert häufig und verlangt von den Abgeordneten, sich loyal, d.h. unkritisch zu verhalten (ebd., S. 70). Dies gilt insbesondere im Fall von Ausschüssen, die hohe öffentliche Aufmerksamkeit genießen – wie dem Haushaltsausschuss oder dem Standing Committee on Public Accounts (SCOPA).

Das bislang spektakulärste Beispiel für eine direkte Intervention der ANC Parteiführung und der Regierung bildet der Umgang mit SCOPA während der sog. Arms Deal-Affäre. SCOPA hatte ursprünglich eine herausragende Rolle in der Korruptionsbekämpfung gespielt (dazu siehe auch Venter zur Exekutive in diesem Band). In den ersten Jahren nachdem der ANC die Regierung übernahm, leistete SCOPA effektive Arbeit bei der Aufdeckung von Veruntreuung von öffentlichen Geldern, z.B. im Falle der Finanzierung eines Anti-Aids-Musicals („Sarafina“) aus öffentlichen Mitteln im Jahr 1997 (Feinstein 2007, S. 71–75). Die öffentlichen Hearings von SCOPA unter Leitung von ANC-Abgeordneten stießen auch auf großes Medienecho. Während des Arms Deal-Skandals einige Jahre später wurde die parlamentarische Kontrolle jedoch völlig ausgehebelt. Zum Hintergrund des Skandals: Mitte der 1990er Jahre beschloss die südafrikanische Regierung Rüstungsgüter im Umfang von über drei Milliarden Euro zu kaufen. Bei diesem Rüstungsgeschäft flossen hohe Bestechungsgelder von deutschen und französischen Rüstungsfirmen. Die Beträge gelangten über Umwege über Mittler und Tarnfirmen in die Taschen führender ANC-Politiker.Footnote 7 Allein der damalige Vize-Präsident und gegenwärtige Präsident des Landes, Jacob Zuma, erhielt laut Holden (2009, S. 63) über vier Millionen Rand (ca. 500.000 €). Die ANC Parteiführung griff massiv in die Aufklärungsarbeit von SCOPA ein, drängte Andrew Feinstein, ANC-Ausschussmitglied des ANC und zentrale Figur bei der Aufklärung, aus dem Ausschuss. Der damalige Fraktionsführer des ANC, Tony YengeniFootnote 8, bemerkte zur „Entfernung“ Feinsteins: „Some people have the notion that public accounts committee members should act in a non-partisan way. But in our system no ANC member has a free vote“ (zit. nach Lodge 2002, S. 147). Wenig später entzog die ANC-Mehrheit in der Nationalversammlung SCOPA den Fall. Die Parteiführung änderte auch Untersuchungsberichte (Holden 2009, S. 59–67) und drängte mehrere kritische Funktionsträger mit häufig fadenscheinigen Begründungen aus dem Amt. Die bis heute noch nicht vollständig aufgeklärte Arms Deal-Affäre demonstriert, dass die Nationalversammlung nicht wirklich in der Lage ist, wirkungsvoll Kontrolle auszuüben, wenn Regierung und Parteizentrale des ANC daran kein Interesse haben.

Geringe Wirkungen entfalteten bisher auch die Anfragen von Abgeordneten. Die Fragestunden werden dabei im Wesentlichen stärker von den Oppositionsabgeordneten als von ANC-Abgeordneten wahrgenommen. Die Medien zeigten sich über lange Zeit – von Ausnahmen abgesehen – kaum an den Fragestunden interessiert. Von den über 5000 Anfragen zwischen 1994 und 1998 kamen nur ca. 10 % von ANC-Abgeordneten. Es sind also in erster Linie die Oppositionsparteien Democratic Party (DP) und Inkatha Freedom Party (IFP), die dieses Instrument nutzten. Die geringe Aufmerksamkeit der Medien für die Fragestunden, die von 30 min auf 2 h ausgedehnt wurden, hängt auch mit dem Antwortverhalten der RegierungsvertreterInnen zusammen. Häufig fallen Antworten von Kabinettsmitgliedern apodiktisch, kurz und nichtssagend aus. Regierungsmitglieder brüskieren damit das Parlament. Der Zwang zu Parteidisziplin hatte während der Mbeki-Regierung stark zugenommen und schränkte den Handlungsspielraum der Abgeordneten stark ein (vgl. für eine Gesamtbilanz Calland und Graham 2005). Für Präsident Zuma gilt dies in den letzten Jahren allerdings nicht durchgehend, auch weil die Fragestunden von den Medien übertragen werden. Dadurch hat sich die Qualität der politischen Debatte erhöht. Dennoch, trotz kontroverser Parlamentsdebatten, fallen politische Entscheidungen in der Regel hinter verschlossenen Türen innerhalb der ANC-Parteigremien (vgl. Venter zur Exekutive in diesem Band). Joel Barkan (2009, S. 210) stellte fest, dass das ANC-National Working Committee (NWC), das für Umsetzung von Entscheidungen des NEC und für die Kohärenz der ANC-Politik zuständig ist, von zentraler Bedeutung für das Verhältnis zu ANC-Fraktion war. Über das Political Committee stand in engem Kontakt mit nur wenigen Abgeordneten und Entscheidungen werden häufig ohne die Gesamtfraktion und ohne Einbeziehung der Opposition vorbereitete.

Charakteristisch für das südafrikanische Parlament ist eine hohe Politisierung und eine schwach ausgeprägte Parlamentskultur des gegenseitigen Respekts sowohl auf Seiten der Opposition als auch des ANC, was die Sacharbeit und konstruktive Auseinandersetzungen erschwert. Zudem ist die südafrikanische Zivilgesellschaft zwar im Vergleich zu anderen afrikanischen Staaten relativ gut organisiert und selbstbewusst, doch sind die Verbindungen zum Parlament schwach. Dies liegt zum einen an den zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich vor allem auf Kontakte zum Finanzausschuss konzentrieren und kaum eine enge Zusammenarbeit mit anderen Ausschüssen suchen. Auch sind es tendenziell eher die finanzstarken Gruppen aus dem Wirtschaftsbereich oder kirchliche Organisationen, die eine intensive Parlamentslobby betreiben. Die geringe Einbindung der Zivilgesellschaft in die Ausschussarbeit (Habib und Schultz-Herzenberg 2005, S. 173) ist aber auf der anderen Seite auch Folge eines mäßigen Interesses zahlreicher Ausschüsse an der Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Gruppen bei der konkreten Gesetzgebung. Hinzu kommen organisatorische Defizite wie die sehr kurzen Fristen im Gesetzgebungsprozess für die Einbindung zivilgesellschaftlicher Gruppen sowie fehlende Regelungen im Detail, die die weitgehende, in der Verfassung festgehaltene Vorschrift zur Einbindung der Öffentlichkeit in die Parlamentsarbeit (Art. 59 und 72) ins Leere laufen lassen. Inwieweit Eingaben und Vorschläge aus der Zivilgesellschaft oder von Individuen Eingang in den politischen Prozess finden, ist empirisch aufgrund fehlender Statistiken kaum nachzuvollziehen (zur Zivilgesellschaft siehe auch Çelik in diesem Band).

3.4 Das geringe Ansehen des Parlaments

SüdafrikanerInnen schenken dem Parlament nur geringe Aufmerksamkeit und das öffentliche Interesse für die Parlamentsarbeit ist gering. Dafür gibt es strukturelle Gründe wie die Dominanz des ANC, die Ergebnisse von Abstimmungen in den beiden Parlamentskammern wenig spannend machen. Der weitgehende Verzicht der meisten Abgeordneten auf die Einbringung eigener Gesetzesvorhaben verringert auch die eigene und die Sichtbarkeit des Parlaments insgesamt in der Öffentlichkeit. Die Aufmerksamkeit für das Parlament konzentrierte sich in der Vergangenheit vor allem auf diverse Korruptionsskandale, in die Abgeordnete verwickelt waren. Im sogenannten Travel-Gate Skandal der Jahre 2004–2005 wurde bekannt, dass sich weit über 50 Abgeordnete durch illegale Abrechnungen von Reisegutscheinen persönlich bereichert hatten oder das Geld der Partei zur Verfügung stellten. Für das Parlament bedeutete der Skandal, in den auch Minister verwickelt waren, nicht nur einen Schaden von mehreren Millionen Euro, sondern auch einen massiven Ansehensverlust in der Öffentlichkeit (February 2006, S. 126).

Es ist daher nicht überraschend, dass das südafrikanische Parlament von großen Teilen der Bevölkerung eher kritisch gesehen wird, wie die im Jahr 2010 durchgeführte Befragung im Rahmen des Afrobarometers belegt (Afrobarometer 5. Befragungsrunde 2010, S. 43): Auf die Frage, wie stark die BürgerInnen dem Parlament vertrauten, antworteten 4 % der Befragten, gar nicht oder nur wenig, 39 % antworteten etwas (somewhat) und lediglich 17 % vertrauten dem Parlament stark. Diese Werte sind vergleichbar mit den Werten bzgl. des Vertrauens in die Polizei in Südafrika (ebd., S. 45), die in den meisten Transformationsländern eher am unteren Ende der Vertrauensskala liegen. Weite Teile der Bevölkerung halten auch Abgeordnete für korrupt: 32 % der SüdafrikanerInnen meinen, dass die meisten ParlamentarierInnen korrupt sind und 48 % sagen, einige seien korrupt (ebd., S. 47). Diese Zahlen unterscheiden sich nur wenig von der Korruptionseinschätzung bei RegierungsvertreterInnen. Geradezu vernichtend fällt das Urteil auf die Frage aus, ob die ParlamentarierInnen ernsthaft den Menschen zuhören: 41 % antworteten never und 34 % once/sometimes.

3.5 Die parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments

Im politischen System Südafrikas garantiert das Verhältniswahlrecht ohne Sperrklausel bzw. mit einer rein rechnerischen Sperrklausel von 0,25 % die Vertretung von auch sehr kleinen Minderheiten (vgl. zum Wahlrecht). Bei den letzten Wahlen gelang 14 Parteien der Einzug in die Nationalversammlung. Der Fragmentierungsgrad ist damit relativ hoch, doch handelt es sich meistens um Klein- und Kleinstparteien. Die mit Abstand stärkste politische Kraft ist der ANC, wie folgende Tab. 1 demonstriert (vergleiche auch Spieß zum Parteiensystem in diesem Band):

Tab. 1 Wahlen in Südafrika 1999–2014. (Eigene Darstellung)

Die Wahlergebnisse seit 1994 zeigen eindeutig, dass in Südafrika ein dominantes Parteiensystem existiert (Spiess 2002), in dem eine Partei, der ANC, dominiert. Auf den ANC entfallen über einen längeren Zeitabschnitt nahezu Zweidrittel der Parlamentssitze, allerdings nimmt der Stimmanteil seit 2004 stetig ab. Der Abstand zur nächststärken Partei, der DA hat sich von über 48 % bei den Wahlen 2009 auf ca. 42 % zwar verringert, ist aber trotz der Wahlerfolge der DA noch extrem hoch. Wie schwierig es ist, neben dem ANC sich als Partei der schwarzen Bevölkerungsmehrheit zu etablieren, zeigt der Auf- und Abstieg von COPE, einer konservativerer ANC-Abspaltung. COPE verlor von seinen 30 Sitzen 27 und ist nur noch eine Splittergruppe. Abzuwarten bleibt die weitere Entwicklung der Economic Freedom Fighters (EEF) unter Führung des früheren charismatischen Vorsitzenden der ANC Youth League, Julius Malema. Die EEF vertritt dezidiert linke Positionen und kritisiert die ANC-Politik als neoliberal. Die Zukunft der EEF wird davon abhängen, ob es der Partei gelingt Unterstützung von sozialen Bewegungen und bei der ca. 2 Millionen mitgliederstarken Gewerkschaftsbewegung zu gewinnen. Der Ausschluss der starken Metallarbeitergewerkschaft aus dem ANC-nahen Dachverband COSATU (Congress of South African Trade Unions) im November 2014 aufgrund zunehmend regierungskritischen Tönen könnte sich dann positiv für die EEF auswirken, wenn es gelingt mit der einflussreichen Gewerkschaft zu kooperieren.

Die Konsolidierung des dominanten Parteiensystems nach 1994 mit dem ANC als überragende politische Kraft führte zu einer kontroversen Diskussion über eine mögliche Gefährdung der südafrikanischen Demokratie durch diese Dominanz (Giliomee und Simkins 1999). Die Entwicklung in den letzten 15 Jahren seit Amtsantritt Thabo Mbekis 1999 zeigt in der Tat eine deutliche Zunahme an Korruption und systematischer Patronage (cadre deployment) (de Jager 2012), die die Grenze zwischen Staat und ANC zunehmend aufweicht. Dies gilt in erhöhtem Maße für die regionale und lokale Ebene, auf denen Korruption und bürokratische Ineffizienz weit verbreitet sind und täglich zu teilweise gewaltsamen Protesten (service delivery protests) führen. Aufgrund seiner Dominanz verfügt der ANC auch über Zugriff auf staatliche Ressourcen, insbesondere zu Wahlkampfzeiten. Zwar ist Südafrika zweifelsohne nach wie vor eine Demokratie, doch verstärkt sich in den letzten Jahren eine bedenkliche Entwicklung im Hinblick auf die Qualität der Rechtsstaatlichkeit (Schmidt 2010). Die Stärke des ANC limitiert auch die Kontrollmöglichkeiten der Opposition. Gleichzeitig wirkt sie disziplinierend auf die ANC-Abgeordneten, da der Dissens einzelner Abgeordneter oder selbst mehrerer Dutzend Abgeordneter ohne Folgen für die Regierungsstabilität sein würde. Allerdings wäre die Symbolkraft eines offenen Dissenses in der ANC Fraktion nicht zu unterschätzen. Zu einer offenen Backbencher-Revolte ist es bisher aber noch nicht gekommen und nur wenige Abgeordnete schlossen sich dem Congress of the People (COPE) oder den EEF, den Abspaltungen des ANC an.

Die Dominanz des ANC in der Nationalversammlung blieb auch nach einer Wahlrechtsreform erhalten. Als die aus der New National Party (NNP) – der ehemaligen Partei der Apartheid – und der Democratic Party (DP) gebildete Democratic Alliance (DA) aufgrund interner Machtkämpfe und politischer Differenzen zunehmend funktionsunfähig wurde, verabschiedete das Parlament im Jahr 2002 ein Gesetz, das Abgeordneten einen Parteiwechsel (floor-crossing) erlaubte, ohne dass sie ihren Sitz verloren. Denn die bisherige Regel sah vor, dass Abgeordnete, die ihre Parteimitgliedschaft aufgaben oder von der Partei ausgeschlossen wurden, ihren Sitz im Parlament verloren, der dann von der Partei neu besetzt werden konnte. Dadurch waren sie von der Parteiführung stark abhängig. Das neue Gesetz, das mit den Stimmen der Oppositionsparteien verabschiedet wurde und für 15 Jahre gültig war, sollte es DA-Abgeordneten ermöglichen, sich bei der Spaltung der DA für eine der beiden Parteien entscheiden zu können. Dies galt sowohl für die nationale als auch für die regionale und lokale Ebene. Gerade auf der regionalen und lokalen Ebene waren die DA und andere Oppositionsparteien relativ stark vertreten. Die bisherige Regelung mit dem Verlust des Parlamentssitzes wurde als ein Hindernis für eine stärkere Dynamik im Parteiensystem angesehen, da sie Abspaltungen vom ANC und die Entstehung neuer Parteien verhinderte (Venter und Taljaard 2003, S. 26). Doch die Vermutung einer größeren Dynamik durch Wechsel von Abgeordneten zu den Oppositionsparteien erwies sich als falsch, denn es war vor allem der ANC, der während der floor-crossing-Periode profitierte. Der ANC gewann in der Nationalversammlung neun Abgeordnete hinzu, was ihm die verfassungsändernde Mehrheit von 68 % der Sitze brachte. Die Motivationen für einen Parteiwechsel dürften v.a. in besseren Karriereaussichten und den dementsprechenden Zusagen der ANC gelegen haben. Auch die DA gewann acht Abgeordnete hinzu, während die meisten kleineren Parteien Abgeordnete verloren und politisch praktisch irrelevant wurden. Die floor-crossing-Regel verschaffte dem ANC auch die Parlamentsmehrheiten in den beiden Provinzen Kwa Zulu und Western Cape, die bisher von anderen Parteien regiert bzw. in Koalition regiert worden waren, denn viele Abgeordnete der Provinzparlamente wechselten zum ANC. Auf der lokalen Ebene der Stadträte war der ANC der eindeutige Gewinner des floor-crossing (Spiess und Pehl 2004, S. 211 und Spiess in diesem Band).

In der Nationalversammlung sind Minderheiten überrepräsentiert. Nicht-schwarze SüdafrikanerInnen hatten unter der Regierung Mbeki (1999–2004) 30 % der Sitze inne (Bogaards 2003, S. 61), obwohl sie nur 6 % der ANC-WählerInnen repräsentieren. Wenn die Partei als Ganzes – und nicht wie bisher die Parteielite – zu entscheiden hätte, ist es sehr wahrscheinlich, dass eine so hohe Anzahl nicht-schwarzer Abgeordneter weder aufgestellt noch gewählt werden würde. Bemerkenswert ist in Südafrika der hohe Anteil weiblicher Abgeordneter: Bei den Wahlen 2009 waren 226 Abgeordnete männlich und 174 weiblich, was eine Frauenquote von 43,50 % bedeutet. Bei den Wahlen 2014 sank die Zahl der weiblichen Abgeordneten leicht auf 40 %. In Hinblick auf den hohen Anteil von Frauen ist Südafrika im afrikanischen und internationalen Vergleich außergewöhnlich (siehe auch Schäfer in diesem Band).Footnote 9

4 Der Rat der Provinzen (National Council of Provinces, NCOP)

Einer der kontroversesten Verhandlungspunkte innerhalb von CODESA (Convention for a Democratic South Africa), der südafrikanischen Version des „Runden Tisches“ zahlreicher Transitionen, war die Frage des Stellenwertes des Föderalismus (siehe auch Venter in diesem Band). Forderungen nach einem möglichst starken Föderalismus kamen dabei vor allem von Minderheiten wie den Weißen und von konservativer Seite wie der Zulu-Organisation Inkatha. Die Minderheiten verstanden Föderalismus als Chance, ihre kulturelle und politische Autonomie zu wahren und ein Gegengewicht zur ANC-Mehrheit auf politischer Ebene zu schaffen. Innerhalb des ANC überwogen zentralistische Tendenzen. Die Verfassung (Art. 103–150) vermittelt auf den ersten Blick den Eindruck eines föderalen Systems. Doch eine detailliertere Betrachtung der Kompetenzen der neun Provinzen zeigt, dass sie nur eingeschränkte Kompetenzen besitzen (Wittneben 2002) und überdies finanziell von der Zentralregierung abhängig sind, denn 90 % der Einnahmen kommen von dort. Den politischen Gestaltungsspielräumen der Provinzen sind damit enge Grenzen gesetzt und die Provinzadministrationen implementieren in erster Linie nationale Gesetzgebung. Allerdings ist das wirtschaftliche Gefälle zwischen den Provinzen erheblich. Die Provinz Gauteng um das industrielle Herz des Landes um die Städte Johannesburg und Pretoria sowie die Provinz Western Cape um Kapstadt sind wesentlich leistungsfähiger als andere Provinzen. Anthony Butlers (2009, S. 117) Urteil über den Föderalismus in Südafrika lautet: „The South African constitution speaks the language of the German consociationalism but it embodies the reality of executive dominance in a unitary state.“

Der NCOP besteht aus jeweils 10 Delegierten einer Provinz. Die 10 Delegierten einer ProvinzFootnote 10 werden analog zur Stärke der Parteien in der Provinzlegislative bestimmt (Wittneben 2002, S. 252). Geführt wird die jeweilige Delegation vom Premierminister bzw. der Premierministerin der Provinz. Werden Abgeordnete aus den Provinzparlamenten als Delegierte nominiert, so verlieren sie ihren Sitz im Provinzparlament. Damit wird die Verbindung zur Provinz geschwächt. Die Parteien können ihre Delegierten absetzen (to recall), womit der politische Spielraum eines Delegierten stark eingeschränkt werden kann. Abgestimmt wird im NCOP wie im deutschen Bundesrat per Block, d.h. die gesamte Delegation besitzt eine Stimme, womit sich die politische Mehrheit in der Provinz immer durchsetzen wird. Im Unterschied zum deutschen Bundesrat ist die Zustimmung des NCOP laut Artikel 44 der Verfassung bei allen Gesetzen nötigFootnote 11, damit sie nach Unterzeichnung durch den Präsidenten Gesetzeskraft erlangen. Die Gesetzesvorhaben werden in den einschlägigen Ausschüssen des NCOP diskutiert, wobei diese Ausschüsse auch mit den Ausschüssen der Nationalversammlung kooperieren. Bei der (seltenen) Ablehnung eines Gesetzes im NCOP wird ein Vermittlungsausschuss eingesetzt. Die Provinzen und insbesondere der NCOP stellen kein Element wirkungsvoller checks and balances dar. Der wichtigste Grund dafür liegt in der Dominanz des ANC in acht von neun Provinzen mit z.T. sehr großen Mehrheiten. Bei den Wahlen 2014 errang der ANC folgende Ergebnisse in den Provinzen (Tab. 2):

Tab. 2 Ergebnisse der Wahlen 2014

Lediglich im Western Cape verfehlte der ANC eine Mehrheit. Diese Provinz wird von der DA regiert, die vor allem von Weißen und Coloureds gewählt wird. Der ANC verlor im Vergleich zu den Wahlen 2009 büßte in fast allen Provinzen Stimmen und Mandate ein, wobei die Verluste in Gauteng und im Kwa Zulu am größten warnen. Die seh großen Mehrheiten, die politisch in einigen, vor allem wirtschaftlich schwächeren Provinzen dem ANC eine hegemoniale Stellung garantieren, schwächen die Kontrollfunktion nicht nur der Opposition in den Provinzparlamenten sondern auch die des NCOP, da die regionalen Parteigliederungen die nationale ANC-Linie zumeist unterstützen werden. Zudem greift der ANC durch das National Executive Committee (NEC) direkt in die Politik der Provinzen ein. Das NEC beschloss 1997, dass der Premierminister bzw. die Premierministerin von der Parteizentrale ernannt oder entlassen wird ohne auf die Präferenzen der regionalen ANC-Führung Rücksicht zu nehmen. So zwang die Parteiführung 1997 den damaligen Premierminister des Free State, ANC-Veteran Patrick Lekota zum Rücktritt. Lekota gehört mittlerweile zur COPE Führung.

Politisch sichtbar wird der NCOP selten. Bei wenigen Nur bei wenigen Gesetzen führten Ergänzungen des NCOP zu Veränderungen der Intention der Gesetze. Ein prominenter Fall ist ein Gesetz mit dem Titel Protection of State Information Bill. Ziel des Gesetzes ist es, – in Novellierung des Protection of Information Act aus dem Jahr 1982 – Informationen mit Bezug zu staatlichen Interessen zu klassifizieren und deren Verbreitung zu regeln. Das Gesetz wird von Oppositionsparteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen und JournalistInnen sowie ausländischen BeobachterInnen scharf abgelehnt, da sie eine Einschränkung der Informations- und Pressefreiheit fürchten. Die Beratungen in der Nationalversammlung verliefen kontrovers. Die Gesetzesvorlage wurde dann an den Provinzrat überwiesen, der einen Sonderausschuss einsetze, der Ergänzungen vorschlug. Diesem 15-köpfigen Ausschuss gehörten zehn ANC-VertreterInnen und fünf aus dem Oppositionslager an. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Kampagne Right2Know beklagten, dass sie weitgehend aus den Beratungen ausgeschlossen wurden. Ende November 2012 stimmte der zuständige Ausschuss des NCOP mit 34 zu 16 Stimmen der vom NCOP ergänzten Gesetzesvorlage zu, die als Vorlage an die Nationalversammlung geleitet wurde. Die 800 Änderungsvorschläge des NCOP führten zur Entschärfung einiger der umstrittensten Regelungen, u.a. verstärken sie den Schutz von Informanten/Quellen von JournalistInnen. Präsident Zuma verweigerte im September 2013 die Unterschrift unter das Gesetz, das daraufhin zurück an die Nationalversammlung zur Beratung überwiesen wurde. Mittlerweile ist das Gesetz in einer entschärften Version in Kraft getreten.

5 Reformdiskussionen

Die Reformdiskussionen um die institutionelle Ausgestaltung der südafrikanischen Demokratie konzentrierten sich bislang v.a. auf das Wahlrecht und die Parteienfinanzierung. Am meisten diskutiert wird eine Veränderung des Wahlrechts, das für die unzureichende Kontrolle der Regierung und die geringe Repräsentativität des Parlaments verantwortlich gemacht wird. Habib und Schultz-Herzenberg (2005, S. 181) bilanzieren: „(…) South Africa’s legislature has failed to demonstrate its resolve to provide oversight. The primary reason for this is our choice of electoral system. (…) But this comes at the cost of weakening the power of the individual Members of Parliament vis-à-vis their party bosses“. Die Parteielite allein, so wird argumentiert, entscheide über die Liste und besitze damit ein starkes Disziplinierungsinstrument gegenüber den Abgeordneten.

Intensiv diskutiert zwischen den Parteien und WissenschaftlerInnen (Konrad-Adenauer-Stiftung 2003; Matshiqi 2009; Chiroro 2008) wurde daher eine Reform des starren Listensystems zugunsten u.a. eines personalisierten Verhältniswahlrechtes wie es z.B. in Deutschland existiert. Demnach würde jeweils eine Hälfte der Abgeordneten über Landeslisten gewählt und eine Hälfte direkt in Einerwahlkreisen. Das Ziel einer WahlrechtsreformFootnote 12 sollte, so argumentieren deren Befürworter, die Stärkung der Repräsentativität des Parlaments durch direkt gewählte Wahlkreisabgeordnete sein. Damit würde der Kontakt zwischen WählerInnen und Abgeordneten und die Verantwortlichkeit der Abgeordneten gegenüber ihren WählerInnen gestärkt werden. Gegner einer Wahlrechtsreform verweisen darauf, dass direkt gewählte Abgeordnete anfälliger für Druck aus den Wahlkreisen sind und weniger Zeit für die eigentliche Parlamentsarbeit am Parlamentssitz in Kapstadt haben.

Ein vom damaligen Innenminister Buthelezi (gleichzeitig Parteiführer der IFP) eingesetztes Electoral Task Team unter Führung von Frederik van Zyl Slabbert, dem angesehenen Oppositionsführer der ehemaligen liberalen Partei während der Apartheidzeit (der Progressive Federal Party), empfahl nach zweijähriger Arbeit die Einführung eines gemischten Wahlsystems: 300 Abgeordnete sollten in neuen multi-member Stimmbezirken gewählt werden und lediglich 100 durch das bisherige geschlossene Listenwahlsystem. Das Kabinett mit seiner deutlichen ANC-Mehrheit entschied sich 2003 aber für den Minoritätsvorschlag der Kommission, die sich für die Beibehaltung des bisherigen Systems ausgesprochen hatte und die Parteien lediglich ermahnte, ihre Präsenz vor Ort stärker auszubauen. Damit blieb die starke Stellung der Parteieliten bei der Aufstellung der Liste erhalten, wodurch ihre Disziplinierungsmöglichkeiten gegenüber den Abgeordneten weiter bestanden.

6 Abschließende Bewertung

Dem Urteil von February (2006, S. 129), dass das Parlament seine Rolle als Kontrollorgan „patchilly, unevenly, and sometimes hesitantly“ gespielt hat, ist tendenziell vor dem Hintergrund der verfügbaren, leider lückenhaften Literatur zur Parlamentsarbeit, zuzustimmen. Sicherlich lassen sich einige Defizite mit mangelnder Erfahrung von Abgeordneten, nicht optimaler Parlamentsinfrastruktur und historischen Vorbelastungen des Parlamentarismus in Südafrika erklären. Die wesentlichen Gründe für die Schwäche des Parlaments sind aber struktureller Natur, wie bereits argumentiert wurde: Aufgrund der reinen Listenwahl besitzt die Führung der politischen Parteien die Möglichkeit, die Abgeordneten zu disziplinieren und damit direkt in das Parlament „hineinzuregieren“. Die in der Verfassung verbrieften weitgehenden Kontrollrechte werden von der Regierungsfraktion nur sehr eingeschränkt wahrgenommen und die Opposition ist einerseits numerisch schwach und ihre Arbeit wird zum Teil durch politisch-motivierte Interventionen eingeschränkt.

Von Seiten des ANC wird das Parlament als zweitrangig angesehen. Nijzink und Piombo (2005, S. 71) fassen dies so zusammen: „(…) the governing party does not seem to regard parliament as an institution central to the overall goal of transforming the country“. Die geringe Wertschätzung des Parlaments ist u.a. mit Besonderheiten der politischen Kultur Südafrikas erklärbar: Aus der Tradition der Klassen und Ethnien übergreifenden Befreiungsbewegung heraus, beansprucht der ANC die Bevölkerung zu repräsentieren und in ihrem Auftrag die demokratische Revolution voranzutreiben (Corrigan 2010, S. 10–13). Diese letztlich in jakobinischer Denktradition verwurzelte Position ignoriert die Rolle repräsentativer Institutionen oder diskreditiert sie als bürgerlich-liberale Überbleibsel des vormals „weißen“ Südafrikas. Sicherlich ist diese Position in ihrer Radikalität und Ausschließlichkeit eher seltener im ANC geworden, doch ist der Einfluss der politischen Kultur des ANC und der politischen Kultur in Südafrika auf den Umgang mit und den Respekt vor demokratischen Institutionen nicht zu unterschätzen.

Eine historische Perspektive zeigt eine geringe Bindung an den Parlamentarismus und eine starke Affinität zu stark personalisierter Politik und einer nationalistisch-populistischen Rhetorik, deren Kernbestandsteile vage Konzepte wie Liberation und Development sind. Seit dem Amtsantritt Zumas verstärkte sich diese populistische Grundtendenz, die häufig mit der offenen Missachtung demokratischer Institutionen einhergeht (Butler 2010). Die Gründe dafür können an dieser Stelle nicht ausführlich wiedergegeben werden. Doch zumindest erwähnt werden soll, dass auf populistische Rhetorik zunehmend zurückgegriffen wird, um Gegensätze innerhalb des ANC zu überdecken und von der bisherigen enttäuschenden Bilanz der Regierung (Schmidt 2012) – die soziale Spaltung des Landes ist unvermindert stark – und ihrer politischen Passivität abzulenken. Unter diesen Rahmenbedingungen ist es für demokratische Institutionen wie das Parlament schwierig, sich erfolgreich zu artikulieren und ihre verfassungsmäßigen Funktionen wahrzunehmen. Das südafrikanische Parlament erfüllt die Gesetzgebungsfunktion durchaus, doch bestehen Defizite bei der Wahrnehmung der Kontrollfunktion (Barkan 2009, S. 224). Der Grund für die mangelnde Regierungskontrolle liegt in der politischen Intervention des ANC in die Parlamentsarbeit und in der Disziplinierung bzw. der Androhung, Abgeordnete als KandidatInnen nicht wieder aufzustellen. Letzteres ist ein Resultat des reinen Verhältniswahlrechts, das der Parteizentrale große Macht gibt.Footnote 13 Dies ist insbesondere während der Regierung Mbeki der Fall gewesen. Die starke Zentralisierung der Regierungspolitik im Präsidialamt, Mbekis Doppelrolle als Regierungs- und Parteichef und Kommunikationsdefizite bei einer autoritären Amtsführung drängten die Bedeutung des Parlamentes gegenüber der Mandela-Zeit zurück. Eine Bilanz der ersten Amtsperiode Zumas (2009–2014) fällt ambivalent aus:Einerseits werden Abgeordnete nach wie vor diszipliniert und die Kontrollmöglichkeiten des Parlamentes haben sich nicht verbessert, andererseits zeigt Zuma Entgegenkommen, sobald sich Widerstand von Abgeordneten ankündigt. In Konfliktfällen zwischen Exekutive und Legislative nimmt er stärker eine vermittelnde Rolle ein und er erweist dem Parlament stärker öffentliche Referenz durch mediale Präsenz. In erster Linie hat sich also der Umgangsstil mit Abgeordneten und dem Parlament insgesamt verändert.

Die dominante Position der Regierungspartei mit einer sicheren, quasi automatischen Mehrheit, macht Parlamentsabstimmungen i.d.R. zur bloßen Routine und für die Öffentlichkeit dadurch relativ uninteressant. Die referierten ausgewählten Umfragedaten, die in ihrer Tendenz auch bei früheren Befragungsrunden zu finden sind, verweisen auf die schwache Repräsentativität des südafrikanischen Parlaments und seine geringe Akzeptanz in der Bevölkerung. Die Verantwortung für die geringe Akzeptanz liegt aber sicher auch beim Parlament, dessen Ansehen durch Korruptionsskandale beschädigt wurde.

Die Entstehung neuer sozialer Bewegungen (Landless People’s Movement, Anti-Privitisation Forum etc.) ist ein Indiz dafür, dass sich weite Teile der Bevölkerung nicht von Parteien und dem Parlament repräsentiert sehen (dazu siehe auch Çelik in diesem Band). Die starke Polarisierung der südafrikanischen Politik führt dazu, dass es nur ausnahmsweise parteiübergreifendes Abstimmungsverhalten oder Initiativen von Abgeordneten gibt. Mit der Gründung des Parliamentary Institute of South Africa (Pisa)Footnote 14 ist 2011 eine parteienübergreifende Initiative zur Förderung des freien Meinungsaustausches zwischen Parlamentsabgeordneten über die Fraktionsgrenze hinweg entstanden. Das übergreifende Ziel ist, das Parlament und sein Ansehen zu stärken, indem Abgeordnete auch stärker parteiübergreifend auftreten. Der ANC hat seine von Anfang an reservierte Haltung gegenüber Pisa nicht aufgegeben, auch wenn einige ANC-Politiker die Initiative unterstützen, wohingegen ANC-Abgeordnete eher zurückhaltend gegenüber Pisa sind.

Festzuhalten ist: Das Parlament in Südafrika ist aus strukturellen Gründen, aufgrund politischer Kontrolle und – teilweise daraus resultierend – einer Passivität und Konfliktscheu vieler Abgeordneter eine relativ schwache Institution im Hinblick auf ihre Kontrollfunktion. Das Parlament ist daher – zumindest bislang – eine zweitrangige Institution. Dies könnte sich allerdings ändern, wenn entweder eine neue Generation besser ausgebildeter und selbstbewusster Abgeordneter in das Parlament einzieht oder wenn – so Barkan (2009, S. 227) – eine Reformkoalition von progressiven Abgeordneten aus Regierungs- und Oppositionsfraktion aktiv auf eine stärkere Regierungskontrolle hinwirken. Veränderung kann aus dieser Perspektive nur von innen kommen. Die materielle Parlamentsinfrastruktur und das Potential an Personal sind dafür sicherlich vorhanden.