Kino: Die fetten Jahre der Berliner Schule - WELT
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Die fetten Jahre der Berliner Schule

Filmredakteur
Viele junge deutsche Regisseure drehen ihre Filme mit Blick auf authentische Geschichten. Realität ist ihr Schlüsselwort. Und es wird wenig geredet. Der Film „Pingpong“ ist ein Musterbeispiel dieser Nouvelle Vague aus der Hauptstadt.

Christian Petzold stammt aus Hilden, Valeska Grisebach aus Bremen. Henner Winckler kommt aus Gießen, Christoph Hochhäusler aus München. Angela Schanelec ist gebürtig aus Aalen, Benjamin Heisenberg aus Tübingen. Ulrich Köhlers Wiege stand in Marburg an der Lahn, Thomas Arslans in Braunschweig. Und nun reiht sich auch Matthias Luthardt aus dem holländischen Leiden mit seinem Debütfilm „Pingpong“ in die „Berliner Schule“ ein.

Die leitet ihren Namen davon ab, dass all diese Filmemacher – Luthardt, Jahrgang 1972, der jüngste; Petzold, Jahrgang 1960, der älteste – inzwischen in Berlin angekommen sind, so wie die Realität der neuen, ungepolsterten Republik in der Hauptstadt angelangt ist. Und Realität ist das Schlüsselwort der Berliner Schule, wenn auch nicht jene, die man mit wackligen Handkameras in den Straßen einfängt. Das unterscheidet sie vom Dogma-Vitalismus; vom kommerziellen Autorenkino der X-Filmer trennen sie Meilen und Lichtjahre gar von Eichingers Populismus.

Allen gemeinsam ist ein spürbarer „Geist des Schauplatzes“, sei es das Berlins neue Mitte in „Gespenster“ von Petzold oder das brandenburgische Dorf in Grisebachs „Sehnsucht“ – oder der von Vegetation ummantelte Bungalow mit Garten, Tischtennisplatte und Schwimmbecken, von dem sich „Pingpong“ kaum entfernt.

Es ist ein hermetisch umschlossener Raum mit drei Personen, dem Vater Stefan (Falk Rockstroh), der zuweilen auf Dienstreise entschwindet, der von ihrer eigenen Karriere enttäuschten Musikermutter Anna (Marion Mitterhammer) und dem 16jährigen Sohn Robert (Clemens Berg), der ein Pianistenstudium aufnehmen soll. Da hinein platzt Roberts gleichaltriger Cousin Paul (Sebastian Urzendowsky), der eine Weile bleiben möchte, was die Familie ihm schlecht verwehren kann – hat sein Vater sich doch gerade aufgehängt.

Das Motiv des unangemeldeten Fremden, der eine scheinbar heile Familie aufstört, kennen wir aus Pasolinis „Teorema“. Der Italiener packte damals – 1968 – Thesen religiöser Philosophie und sexueller Befreiung mit hinein, Luthardt bäckt zwei Generationen später bescheidenere Brötchen. Bei ihm geht es, wie häufig bei der Berliner Schule, „nur“ um die Grundzelle der Gesellschaft, die Familie, und die Zentrifugalkräfte, die an ihr zerren.
Sebastian Urzendowsky ist wie Terence Stamp bei Pasolini ein hübscher Bengel, ein Katalysator, aber anders als Stamp kein Agent provocateur, eher unfreiwilliges Werkzeug. In Abwesenheit des Vaters entstehen instabile Dreiecke. Mutter und Sohn sehen den Besucher als potenziellen Verbündeten in ihren Machtspielen und versuchen, den emotional Verunsicherten auf ihre Seite zu ziehen.

So spielt Luthardt die Zweikämpfe durch, wie beim Pingpong, zu dem sich die Kampfhähne zuweilen an der Platte treffen: Vater gegen Mutter, Mutter gegen Sohn, Sohn gegen Cousin, Cousin gegen Mutter – und letztendlich auch Cousin gegen Vater. Eine Einstellung, in der Paul nachts am Rand des Swimming Pools in den nächtlichen Himmel starrt, sagt alles: Vom Haus klingt das Geballer von Roberts Playstation, es herrscht Krieg, und das alte Becken, das Paul zum Dank für gewährte Gastfreundschaft instand setzt, wird noch zum Grab werden.

Solch einen Intrigantenstadl könnte man reißerisch inszenieren oder anklägerisch, aber nichts liegt Luthardt und der Berliner Schule ferner. Deren definierendes Merkmal ist die Beiläufigkeit, mit der selbst Höchstdramatisches präsentiert wird. Der Selbstmordversuch in Grisebachs „Sehnsucht“ etwa, auf den fröhlich plappernde Kinder folgen, oder die Familienflucht der Frau in Köhlers „Montag kommen die Fenster“, die erst kilometerweit durch die Botanik marschiert. Auch die Entladung der Gefühle in „Pingpong“, aus der Hollywood eine Schießerei gemacht hätte und Chabrol einen Giftmord, fordert bei Luthardt nur ein unspektakuläres, jedoch umso grausameres Opfer.

Will man die Berliner Schule unbedingt verorten, dann am ehesten in der Nähe der zweiten Nouvelle Vague Frankreichs, von Jean Eustache, Philippe Garrel, Maurice Pialat. Sie teilt deren Überzeugung, dass gesellschaftlicher Wandel nottut, aber gleichzeitig die Erfahrung des Scheiterns ihrer politischen Utopien. Sie sucht nach Zeichen der Veränderung, aber nicht im Makro-, sondern im Mikrokosmos des Familien-, Freundes- oder Arbeitskreises.

Die Berliner Schüler sind keine Polemiker, sondern Beobachter, und sie nehmen Realität nicht unter ihre Lupe, sie zu reproduzieren oder ironisieren oder psychologisieren, sondern um sie in eine Künstlichkeit zu überführen, welche Wirklichkeit so lange siebt, bis sie ihre reinstmögliche Form erreicht hat. Als Sieb dient die Reduktion; es wird wenig geredet und ohne expressive Gesten gespielt und nicht wild geschnitten. Die Berliner scheuen die manipulativen Möglichkeiten ihres Handwerkszeugs, einem Ethnologen ähnlich, der sich unsichtbar wünscht, damit seine Präsenz das Forschungsergebnis nicht verfälsche. Denn: Die Wahrheit hinter dem Alltäglichen werde sich schon decouvrieren, lauere man ihr nur hartnäckig genug auf.

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Oder, wie Angela Schanelec anlässlich ihres Films „Mein langsames Leben“ konstatierte: „Ich habe mich gefragt, was passiert, wenn man versucht, die Normalität abzubilden.“ Eine Kinokultur, die das Unnormale zur Norm erklärt, überlässt solch einer Blickweise aber nur Nischen. Deshalb ist die Berliner Schule in ihrem eigenen Land nahezu unbekannt, obwohl sie z.B. in Frankreich bereits als „Nouvelle Vague Allemande“ geschätzt wird; daheim waren die 120.000 Besucher für Petzolds „Innere Sicherheit“ ihr größter Erfolg.

Doch die Berliner kultivieren ihr anderes Sehen, auch wenn sie mit dem Label höchstens kokettieren und keine Gruppen-Manifeste schreiben wie die Oberhausener. Statt dessen gibt es die von Hochhäusler und Heisenberg herausgegebene Westentaschenzeitschrift „Revolver“, eine Art Stammtisch, wo man diskutiert, feste Regie und Kamera-Teams und einen Austausch mit den Anverwandten von „coop 99“, den Wiener Haneke-Jüngern. Und es melden sich ständig Neuankömmlinge, deren Filme wenn schon keine Gruppenzugehörigkeit, so doch Beeinflusstsein bekunden: Maren Ade („Der Wald vor lauter Bäumen“), Sylke Enders („Kroko“), Maria Speth („In den Tag hinein“), Sören Voigt („Identity Kills“).

Willkommen, Matthias Luthardt, im Club, der keiner sein will.

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