Für die einen galt Moritz von Sachsen (1521–1553) lange als der Inbegriff eines Verräters. „Judas von Meißen“ wurde der Kurfürst genannt, weil er die Sache der Protestanten verriet und Teile des Heiligen Römischen Reiches den Franzosen überließ. Andere rühmen ihn als Retter des evangelischen Glaubens und der ständischen Freiheiten, ohne den es um die „Teutsche Nation vnnd umb die gantz Christenheyt geschehen wäre“, wie es in einem zeitgenössischen Flugblatt hieß. Denn der Sachse hatte im Winter 1552 den sogenannten „Fürstenaufstand“ initiiert und angeführt, dem es gelang, mit Kaiser Karl V. den mächtigsten Monarchen Europas in die Flucht zu schlagen und zur Aufgabe seines Amtes zu treiben. Allerdings bewies er auch dabei sein Talent, unvermutet die Seiten zu wechseln.
Als Mitglied der Wettiner-Dynastie entstammte Moritz einem der ältesten Fürstenhäuser des Reiches, das Sachsen, die Lausitz und Teile Thüringens beherrschte. Allerdings hatten die Brüder Ernst und Albrecht 1485 mit der „Leipziger Teilung“ die Aufspaltung in eine ernestinische (mit Kurwürde und Hauptstadt Wittenberg) und eine albertinische Linie (Dresden) vollzogen, was Macht und Ansehen nicht zuträglich gewesen war. Diesen Fehler zu tilgen, sollte Moritz’ Maxime werden. Seine wechselhafte Erziehung und der Zeitgeist boten ihm die Möglichkeit dafür.
Denn dem Sohn Heinrichs des Frommen, einem nachgeborenen Albertiner, wurden schon früh die verschiedenen Optionen politischen Handelns vorgeführt. In der väterlichen Herrschaft Freiberg gelang es Moritz’ Mutter Katharina zu Mecklenburg, ihren Mann zur Einführung der Reformation zu bewegen. Am Hof seines Onkels, eines Kardinals, in Magdeburg erlebte er die weltlichen Lustbarkeiten eines Kirchenfürsten, im albertinischen Dresden das strenge Regiment eines katholischen Fürsten, im ernestinischen Torgau das eines glühenden Lutheraners. Und in der Landgrafschaft Hessen, wo sein künftiger Schwiegervater Philipp regierte, konnte er studieren, wie die Reformation in pragmatischer Weise eingeführt wurde.
Das war die pralle Wirklichkeit. Wahrscheinlich hat Moritz die Lehren des großen Zeitgenossen Machiavelli nicht gelesen, der einem klugen Machthaber empfahl, „sein Wort nicht zu halten, wenn ihm dies zum Schaden gereichen würde“. Aber die Erfahrungen seiner Jugend dürften ihm die Erkenntnis eingegeben haben, dass „nur der erfolgreich ist, der seine Handlungsweise mit dem Zeitgeist in Einklang bringt“. Das machte Moritz zu einem glänzenden Politiker der Renaissance.
Zwei Tode besorgten den Rest. 1539 erbte sein Vater die Dresdner Herzogswürde, 1541 folgte er seinem Vater nach, der die Reformation auch im albertinischen Sachsen eingeführt hatte. Gerade 20 Jahre alt, verordnete Moritz seinem Land eine drastische Modernisierungskur. Dafür zog er gut ausgebildete Fachleute an seinen Hof, die Wirtschaft, Währung, Justiz, Bau- und Transportwesen reformierten. Um Nachwuchs für eine loyale und effiziente Verwaltung zu gewinnen, wurden in eingezogenen Klöstern Fürstenschulen eingerichtet, die eine neue bürgerliche Elite heranziehen sollten.
Sein politisches Talent bewies der Sachse in dem Konflikt, der ab 1544 über dem Reich aufzog. Nachdem er seinen Frieden mit Frankreich gemacht hatte, wollte der Habsburger Kaiser Karl V. (1500–1588) sich endlich der Verwirklichung seines großen Zieles widmen: der Wiederherstellung der religiösen Einheit in seinem Imperium, das von Spanien bis nach Ungarn und von Lateinamerika bis zu den Philippinen reichte und in dem bekanntlich die Sonne nicht unterging. Das aber bedeutete, dass der Protestantismus im Reich in seiner Existenz bedroht war.
Zu ihrem Schutz hatten die meisten evangelischen Fürsten bereits 1531 in Schmalkalden ein Bündnis geschlossen, das jetzt erneuert wurde. Aber obwohl sein Schwiegervater Philipp von Hessen neben dem Ernestiner Johann I. Friedrich zu dessen Anführern zählte, hielt Moritz auf Distanz. Zwar gab er sich in seinen Ländern als Verteidiger der Reformation, verlor aber sein eigenes Ziel, mit dem Kurhut das Gros der Wettiner Länder in seiner Hand zu vereinen, nicht aus den Augen. Dem Kaiser signalisierte er Zusammenarbeit, indem er ihn mit einem Detachement gegen die Türken unterstützte. Im Gegenzug erhielt er von Karl das Versprechen, im Fall eines gemeinsamen Sieges über den Schmalkaldischen Bund mit der ernestinischen Kurwürde belohnt zu werden.
Im Gegensatz zu vielen Glaubensgenossen war Moritz klug genug, die Machtverhältnisse richtig einzuschätzen. Denn das protestantische Bündnis (aus dem sich auch der Kurfürst von Brandenburg zurückgezogen hatte), war brüchig, während Karls spanische Truppen zu den besten Soldaten Europas gehörten. Am 24. April 1547 kam es bei Mühlberg an der Elbe zur Schlacht. Innerhalb weniger Stunden wurde das zahlenmäßig unterlegene Bundesheer vollständig vernichtet. Johann Friedrich wurde gefangen genommen. Dass der Kaiser sein Versprechen, Philipp von Hessen unangetastet zu lassen, umgehend brach, indem er sie in Haft nahm, dürfte Moritz zu der Erkenntnis geführt haben, dass er nicht der einzige Politiker seiner Zeit war, der die Lehren Machiavellis beherrschte.
Das musste auch der Herzog von Bayern erfahren, dem die lockende Kurwürde der Pfälzer Wittelsbacher verwehrt blieb. Immerhin durfte Moritz neben dem Kurhut weite Gebiete der Ernestiner einstreichen, denen nur noch einige Duodezflecken in Thüringen verblieben. Mit 26 Jahren war der Dresdner zum mächtigsten Reichsfürsten aufgestiegen, dem allerdings das Odium des Verrats anhing.
Moritz beeilte sich, das mit einem weiteren Verrat zu tilgen. Dabei spielte ihm der Kaiser unfreiwillig in die Hände, indem der den folgenden Reichstag in Augsburg 1547/48 zu einem „geharnischten“ machte. Der nun beinahe allmächtige Sieger von Mühlberg verwarf alle Einwände seines Bruders Ferdinand, der seit 1531 als römisch-deutscher König im Reich amtierte und dessen sensiblen Verhältnisse genau kannte. Statt auf einen Ausgleich mit Augenmaß zu setzen, präsentierte Karl den konsternierten Ständen das „Interim“ und den Plan einer Bundesverfassung.
Das „Interim“ schrieb bis zur endgültigen Regelung durch ein Konzil die Glaubensordnung im Reich fest, was faktisch auf eine Rekatholisierung hinauslief – den Protestanten wurden nur Laienkelch und Priesterehe zugestanden. Der Bundesplan sah die Umwandlung des Reiches in einen Fürstenbund mit dem Kaiser als Weisungsgeber an der Spitze vor.
Die „Zwischenreligion“ hätte den Protestantismus ruiniert, der Bund die „Libertät“ der Reichsfürsten radikal eingeschränkt. Was der Kaiser von dieser Säule der Reichsverfassung hielt, bewies er auch, indem er die Gefangenen von Mühlberg weiterhin in Haft hielt. Die Aussicht, dass ihnen Ähnliches blühen könnte, ließ Protestanten und Katholiken ihre Streitigkeiten vergessen und stattdessen nach Wegen suchen, die drohende Erbmonarchie der Habsburger zu verhindern.
Nun schlug Moritz’ Stunde. Nach außen hin folgte er nur dem Befehl des Kaisers, als er 1551 die Belagerung des mächtigen Magdeburg begann, das sich dem Interim verweigerte. Gleichzeitig begann er, aus dem Feldlager Kontakte mit anderen Reichsfürsten aufzunehmen. Dabei half ihm sein eigener Umgang mit dem „Interim“. Er verweigerte sich der kaiserlichen Version und ließ stattdessen ein „Leipziger Interim“ proklamieren, dass den Bekenntnisstand der sächsischen Landeskirche sicherte. „Der eben noch geschmähte Apostat erwies sich im Moment der Gefahr als entschiedener Beschützer der evangelischen Religion“, schreibt der Historiker Heinz Schilling.
Die gewonnene Machtfülle des Kaisers machte es den verschworenen Fürsten leicht, auch in anderen Regionen Europas Partner zu finden. Einer von ihnen war Heinrich II. von Frankreich. In Chambord, dem riesigen Königsschloss an der Loire, wurde am 15. Januar 1552 ein Geheimvertrag geschlossen. In ihm boten die Fürsten dem Franzosen die Bischofsstädte Cambrai, Metz, Toul und Verdun als Lohn für seine Unterstützung an. Damit konnten französische Truppen die wichtige Versorgungsroute vom Mittelmeer in die Spanischen Niederlande bedrohen.
Im März ließ Moritz die Maske endgültig fallen. Mit den Truppen, die er noch im Namen des Kaisers für Magdeburg geworben hatte, zog er nach Augsburg. Damit bekam er das dort ansässige Bankhaus der Fugger unter seine Kontrolle, auf dessen Kredit Karl angewiesen war. Im Mai erreichten die Aufständischen Innsbruck, wo ein konsternierter Karl mangels Militärmacht der Entwicklung ohnmächtig zusehen musste.
Wie neu gefundene Quellen belegen, verzichtete Moritz auf den sofortigen Sturm auf die Stadt, weil er „keinen Käfig (habe), der groß genug sei für einen so großen Vogel“. Stattdessen bot er dem Habsburger die Chance zur Flucht. Mitten in der Nacht und bei strömendem Regen musste sich der gichtkranke Herr über ein Weltreich mit wenigen Begleitern nach Süden in Sicherheit bringen, während die rebellierenden Fürsten mit seinem Bruder Ferdinand verhandelten. Binnen weniger Monate war der Sieger von Mühlberg zum gejagten Flüchtling geworden.
Anders als sein Bruder war Ferdinand mit den Fallstricken der Reichspolitik vertraut, auch fehlte ihm die Vision einer universalen Herrschaft über eine vereinte katholische Christenheit. Sein Pragmatismus eröffnete den Weg zum Kompromiss: Das „Interim“ wurde kassiert, der Protestantismus im Reich toleriert. Im August überzeugte Ferdinand den sich sträubenden Karl, den Passauer Vertrag zu ratifizieren. Drei Jahre später wurde er zur Blaupause für den Religionsfrieden, der in Augsburg als Grundgesetz des Reiches geschlossen wurde.
Dem Zwang zur Anerkennung entzog sich Karl durch den Gang ins Kloster. Tief enttäuscht und seelisch gebrochen entsagte er angesichts der Trümmer seiner Reichs- und Religionspolitik im Oktober 1555 seiner Herrschaft und zog sich nach Yuste in der spanischen Estremadura zurück. Da lebte der Mann, von dem er „selten so schamlos betrogen“ worden war, wie es der Historiker Winfried Schulze formuliert hat, nicht mehr. Am 9. Juli 1553 erhielt Moritz in einem Gefecht mit den Truppen Albrecht Alcibiades’ von Brandenburg-Kulmbach, einem skrupellosen Condottiere, der auf seine Weise die Realpolitik der Renaissance verkörperte, eine tödliche Verwundung, der er zwei Tage später erlag.
Noch heute zeigt man im Dresdner Residenzschloss den Harnisch des Kurfürsten mit dem Loch, durch das die Pistolenkugel in die linke Niere drang. Der machtbewusste Wettiner wurde 32 Jahre alt.