James Levine: Abschied des parkinsonkranken Dirigenten-Titans - WELT
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Bühne und Konzert James Levine

Abschied des parkinsonkranken Dirigenten-Titans

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Der kranke James Levine konnte zuletzt nur noch aus einem Spezialstuhl heraus dirigieren Der kranke James Levine konnte zuletzt nur noch aus einem Spezialstuhl heraus dirigieren
Der kranke James Levine konnte zuletzt nur noch aus einem Spezialstuhl heraus dirigieren
Quelle: REUTERS
Nach einzigartigen 40 Jahren im Chefdirigentenamt tritt James Levine zum Saisonende ab. Damit endet an der kriselnden Metropolitan Opera mehr als nur eine jetzt schon legendäre Ära.

Eine Art Beben erschütterte am Donnerstag kurz vor 15 Uhr New-York-Zeit die Klassikgemeinde Amerikas. Die Metropolitan Opera teilte per Presseaussendung mit, dass ihr legendärer, 72-jähriger Chefdirigent James Levine nach unglaublichen vier Dekaden zum Ende der Saison das Amt aufgeben, dem Haus aber weiterhin als Ehrendirigent erhalten bleiben wird.

Levine war zum fragilen Buddha geworden

Der lockige, meist honigkuchenbreit lächelnde Stabdinosaurier war freilich im Zuge seiner langjährigen, ihn inzwischen an den Rollstuhl fesselnden Parkinsonerkrankung samt diverser, vorangegangener Operationen eher zu einer Art fragilem Buddha geworden. Der ließ sich huldvoll seine Operngemeinde segnend in einem eigens konstruierten Hubrollstuhl zur Applausentgegennahme emporfahren.

In besseren Tagen: James Levine bei einem Konzert 2001 in Japan
In besseren Tagen: James Levine bei einem Konzert 2001 in Japan
Quelle: REUTERS

Dass tut er gegenwärtig an seinem Stammhaus bei einer „Simon Boccanegra“-Serie mit Plácido Domingo, einem anderen Veteran in der Verdi-Titelrolle. Und Ende nächster Woche wird James Levine in einer aus den Achtzigerjahren exhumierten Inszenierung der „Entführung aus dem Serail“ mit jungen Sängern noch einmal seinen längst historisch gewordenen, aber exquisiten Mozart-Stil vorführen.

Die Entscheidung ist gut für Levine und für uns

Levine und die Met, das ist für Generationen von amerikanischen Opernfreunden eine Erfolgsformel gewesen, deren Ende freilich schon länger auch öffentlich und vernehmlich herbeigesehnt worden war. Doch Peter Gelb, dem allmächtigen Intendanten des berühmten Hauses, waren angesichts des ikonengleichen, immer noch für volle Vorstellungen sorgenden Status seines musikalischen Partners die Hände gebunden. Obwohl dieser, nach quälenden Spielzeiten der Abwesenheit und Rekonvaleszenz, sein ihm nach wie vor auch aus den Augen ablesendes Orchester immer weniger motivieren konnte. Auch bei keinem Vorsingen und Vorspielen war er mehr dabei, um seine Kräfte für den Pultdienst zu schonen. Erst kürzlich hatten seine Ärzte allerdings mit der Mitteilung überrascht, Levine medikamentös neu eingestellt und damit leistungsfähiger gemacht zu haben.

Mit den Sängern Hildegard Behrens, Illeana Cotrubas und Luciano Pavarotti nach einer „Idomeneo“-Aufführung an der Met
Mit den Sängern Hildegard Behrens, Illeana Cotrubas und Luciano Pavarotti nach einer „Idomeneo“-Aufführung an der Met
Quelle: Ted Thai/The LIFE Picture Collection/Getty Images

Was aber offenbar nur kurzzeitig gut ging. Wer auch immer jetzt sanft Druck ausgeübt oder ihm einfach nur klug gut zugeredet hat – die aufsehenerregende Entscheidung ist gut für Levine und für uns. Denn damit wird womöglich das um Besucher kämpfende 3.800-Plätze-Haus aus seiner Agonie gerissen, kann sich endlich einen neuen, frischen, hoffentlich neue Publikumsschichten motivierenden und generierenden Chefdirigenten suchen. Natürlich stehen dafür viele nominell bereit. Der sich des Titels schon sicher wähnende Fabio Luisi ist es allerdings gewiss nicht. Der Genueser rangiert Met-intern gegenwärtig eher auf dem Abstellgleis.

Ein heißer Favorit scheint hingegen der im für amerikanische Verhältnisse nicht weit weg liegenden Philadelphia als Orchesterchef residierende Yannick Nézet-Séguin. Der 41-jährige Kanadier steckt freilich in einem so engen, längst auch seinen gesundheitlichen Tribut fordernden transatlantischen Terminkorsett wie James Levine in seinen besten Jahren in den Achtzigern, als er im Sommer zwischen den Festspielen in Salzburg und Bayreuth mit dem Helikopter geshuttelt wurde. Doppelwhopper nannte man ihn damals. Auch der Name des ebenfalls hoffnungslos überbuchten, künftig zwischen Boston, Bayreuth und Leipzig wirkenden Andris Nelsons (37) wurde immer wieder genannt.

Levine mit dem Regisseur Franco Zeffirelli 1981
Levine mit dem Regisseur Franco Zeffirelli 1981
Quelle: Getty Images/Jack Mitchell

Die Metropolitan Opera ließ jedenfalls verlauten, dass die Levine-Nachfolge bereits in den nächsten Monaten geregelt werden soll: angesichts des Finanzlochs im aus weitgehend aus Spenden zusammengesammelten, schrumpfenden Budgets von zuletzt 310 Millionen Dollar auch eine Notwendigkeit. Eine Lücke im Graben des von Levine gedrillten, vermutlich besten Opernorchesters der Welt darf es nicht geben.

Der Herbst des Grabenpatriarchen

Mit dem Abgang von James Levine auf Raten (er wird nächste Saison die geplante „Rosenkavalier“-Premiere abgeben, aber seine alten Favoriten, Mozarts „Idomeneo“, Verdis „Nabucco“ und Rossinis „Italienerin in Algier“, in Wiederaufnahmen leiten), biegt einer der seltsamsten Musikerkarrieren in ihre Zielgerade, der Herbst des New Yorker Grabenpatriarchen hat endgültig begonnen. „Es gibt keinen Dirigenten in der Operngeschichte, der das vorweisen kann, was Jim in seiner kolossalen Karriere an der Met erreicht hat“, windet ihm jetzt Peter Gelb den Lorbeerkranz. „Wir sind glücklich, dass er weiterhin eine aktive und vitale Rolle im Leben der Kompanie spielen wird.“

2002 wurde Levine vom Kennedy Center geehrt – zusammen mit Paul Simon, Elizabeth Taylor, James Earl Jones und Chita Rivera
2002 wurde Levine vom Kennedy Center geehrt – zusammen mit Paul Simon, Elizabeth Taylor, James Earl Jones und Chita Rivera
Quelle: AFP/Getty Images/Shawn Thew

Begonnen hat diese 1971, als der 1943 geborene Sohn eines jüdischen Tanzkapellengeigers aus Cincinnati nach Lehrjahren in seiner Heimatstadt bei Walter Levin und Rudolf Serkin und einer Assistenz beim unerbittlichen George Szell in Cleveland für eine erste „Tosca“ an die Met kam. Bereits fünf Jahre später avancierte der Liebhaber schöner Stimmen (deren Besitzerinnen liebten auch zurück) zum Chefdirigenten, der das Haus musikalisch nach seinen Wünschen und seiner Ästhetik formte und dann prägte. Das Orchester und der Chor, sie sind bis heute sein Klangwerk. Er war zudem der vorzügliche Klavierbegleiter von Christa Ludwig, Cecilia Bartoli und Jessye Norman.

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James Levine dürfte der einzige Dirigent sein, der (maßgeblich orchestriert von seinem im letzten Jahr gestorbenen Überagenten Ronald Wilford, genannt „The Silver Fox“) eine grandiose, von unzähligen Plattenaufnahmen begleitete Karriere aus dem Opernorchestergraben heraus gemacht hat. Dem die Met zum 40-Jahre-Jubiläum noch eine weitere 32-CD-Box mit unveröffentlichten Liveköstlichkeiten folgen ließ. 1989, beim Tod Herbert von Karajans, war er so sehr auf dem Zenit, dass er sich durchaus Hoffnung auf dessen Nachfolge bei den Berliner Philharmonikern machen durfte, die er regelmäßig dirigierte. Doch die wählten Claudio Abbado – und in Europa war Levines cremigweicher, stets dem Schönklang verpflichteter Dirigierstil bald immer weniger gefragt.

In München hinterließ er keine Spuren

Immerhin hielt er sich von 1982-98 am Grünen Hügel, doch Salzburg hatte für ihn nach der Übernahme Gerard Mortiers nichts mehr zu bieten. Seine anfangs von schrillen Debatten um sein Privatleben begleitete Zeit als Chefdirigent der nach Sergiu Celibidaches Tod verwaisten Münchner Philharmoniker (1999-2004) hinterließ dort keine Spuren, ebenso wenig die bereits krankheitsbedingt schwächelnden Jahre beim Boston Symphony Orchestra (2004-11).

James Levines glücklichsten Beziehungen zu sinfonischen Klangkörpern bestanden mit den Berliner und Wiener Philharmonikern, vorher schon mit dem Chicago Symphony Orchestra. Hier konnte er sich als bis heute berühmtester amerikanischer Dirigent nach Leonard Bernstein behaupten. Doch es dürfte utopisch sein, sich den hinfälligen James Levine nun auch wieder an anderen Orchesterpulten vorzustellen. Auch beim Festival in Verbier, wo er sich um den Instrumentalnachwuchs kümmerte, musste er in den letzten Jahren stets absagen.

Levine 1982
Levine 1982
Quelle: Getty Images/Jack Mitchell

In New York wird es aber in nächster Zeit musikalisch wieder spannend. Denn nach der vielversprechenden Wahl des trotz seiner 55 Jahre international noch nicht vollends profilierten Niederländers Jaap van Zweden ab der Saison 2017/18 als Chefdirigentennachfolger von Alan Gilbert beim New York Philharmonic, wird nun auch in der im 90 Gradwinkel am Lincoln Center nebenan liegenden Metropolitan Opera wohl bald mit neuem Stöckchen klanggekocht. Die über 2.500 Dirigate von 85 Werken des James Levine werden aber zu deren immerwährender DNA gehören.

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