1 „Spielarten des Kapitalismus“ als Theorie der vergleichenden Policy-Forschung

In der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung ist die Staatstätigkeit in der Regel die zu erklärende Variable.Footnote 1 Sie nimmt dann häufig eine erklärungsbedürftige Beobachtung zum Ausgangspunkt – auffällige Unterschiede zwischen den Sozial-, Umwelt- oder Innovationspolitiken europäischer Länder beispielsweise –, und strebt danach, die vorgefundene Varianz aufzuklären.Footnote 2 Auf der Suche nach Erklärungen werden die Policy-Forscherin und der Policy-Forscher nicht nur eine, sondern mehrere Theorien konsultieren, um zu prüfen, ob sich aus ihnen sinnvolle Hypothesen ableiten lassen, die im nächsten Schritt gegen das empirische Material geprüft werden können. Theorien, die sich in diesem Sinne nutzen lassen, werden im vorliegenden Band als Theorieansätze bezeichnet, in Abgrenzung zu umfassenden Analyserahmen wie zum Beispiel dem akteurzentrierten Institutionalismus (siehe Treib i. d. B.). Einer dieser Theorieansätze ist „Spielarten des Kapitalismus“ (engl.: „varieties of capitalism“).

„Spielarten des Kapitalismus“ ist ein vergleichsweise junger Theoriebestand, der sich seit den 1990er-Jahren entwickelt hat. Ähnlich wie etwa die Wohlfahrtsstaatsforschung (siehe Häusermann i. d. B.) klassifiziert der Theorieansatz Länder, aber auf Grundlage anderer Kriterien: Es geht um die durch Institutionen bereitgestellte Kapazität von Unternehmen, sich mit den am Unternehmensgeschehen Beteiligten und ihrer Umwelt zu koordinieren. Ob und wie solche Koordination stattfindet, hat nach Ansicht der Vertreter dieser Theorieschule weitreichende Konsequenzen für Produktions- und Innovationsstrategien, für Wettbewerbsvorteile im internationalen Handel, für die politischen Präferenzen der Wirtschaftssubjekte und – aus Sicht der vergleichenden Policy-Forschung von besonderem Interesse – für die vorherrschenden Ziele der Wirtschaftspolitik. Ausgangspunkt der Klassifikation von Ländern ist stets die Unterscheidung zwischen koordinierten Ökonomien wie Deutschland und Österreich und liberalen Marktökonomien wie den USA und Großbritannien. Obwohl die Grundzüge dieser Theorierichtung bereits in den frühen 1990er-Jahren formuliert wurden (Soskice 1990a; Streeck 1991), nahm die Debatte insbesondere nach Veröffentlichung des 2001 erschienenen und von Peter A. Hall und David Soskice herausgegebenen Sammelbands „Varieties of Capitalism“ an Fahrt auf. Ohne Übertreibung kann „Spielarten des Kapitalismus“ als intensivste politökonomische Theoriedebatte der vergangenen zwei bis drei Dekaden gewertet werden.

Im Lauf der Debatte wurden zahlreiche Vorschläge zur Erweiterung des Konzepts unterbreitet. Die genaue Abgrenzung zwischen „Spielarten des Kapitalismus“ und alternativen Theorieansätzen fällt daher nicht immer leicht. Im vorliegenden Kapitel wird das Konzept eng verstanden. Die nachfolgenden Abschn. 2.12.22.32.4 und 2.5 widmen sich den Grundzügen, wobei wir uns an fünf Setzungen und Vorgehensweisen der „Spielarten des Kapitalismus“-Theoretiker entlanghangeln werden.Footnote 3 Dabei handelt es sich um die Unternehmenszentrierung, um die Koordination in institutionellen Sphären, um das Konzept der institutionellen Komplementarität, um die Unterscheidung nationaler Spielarten des Kapitalismus und um die Folgen für wirtschaftliche Effizienz und institutionellen Wandel. Auf die Vorstellung der Grundzüge folgt die Darstellung dreier beispielhaft ausgewählter Anwendungen: zwei empirische Anwendungen (Abschn. 3.1 und 3.2) und eine theoretische Weiterentwicklung (Abschn. 3.3).

Leserinnen und Lesern mit Erstkontakt zu diesem Theorieangebot mögen einige Einzelheiten zunächst fremdartig und merkwürdig erscheinen: Warum sollte man als Politikwissenschaftler ausgerechnet Unternehmen besondere Beachtung schenken? Und wie kann es sein, dass so offenkundig wichtige Dinge wie Parteien und politische Systeme in dem Theorieangebot nicht (oder allenfalls in speziellen Erweiterungsvorschlägen) auftauchen? Bei Lektüre der nachfolgenden Unterabschnitte sollte im Hinterkopf behalten werden, dass die Leistung einer Theorie aus Sicht der vergleichenden Policy-Forschung nicht in ihrer Fähigkeit liegt, möglichst alle Elemente des Politikprozesses gleichzeitig zu erfassen. Für zahlreiche, zweifellos wichtige Aspekte der Politikproduktion beansprucht „Spielarten des Kapitalismus“ keine Zuständigkeit. Die Leistung eines hilfreichen Theorieansatzes liegt vielmehr darin, distinkte Hypothesen zu generieren, die die Augen für bestimmte Aspekte einer komplexen Materie öffnen, die der Forscherin oder dem Forscher ansonsten möglicherweise verborgen geblieben wären. Im Schlussteil dieses Kapitels (Abschn. 4) werde ich auf die spezifischen „Theoriebedürfnisse“ der Policy-Forschung noch einmal zurückkommen.

2 Die Grundzüge des Theorieansatzes

2.1 Unternehmenszentrierung

Das Hauptaugenmerk der „Spielarten des Kapitalismus“-Theorie gilt Institutionen, verstanden als auf Dauer gestellten, meist verrechtlichten und daher sanktionsbewehrten Regeln. In dieser Hinsicht ist „Spielarten des Kapitalismus“ einigen anderen Theorieansätzen, die in der Policy-Forschung zur Anwendung kommen, nicht unähnlich. Ungewöhnlich erscheint im Theorievergleich vielmehr, welche Art kollektiver Akteure als entscheidende Empfänger der institutionalisierten Regeln in den Blick genommen werden: nicht etwa Wähler oder Parteien, sondern vielmehr Unternehmen. Diese Setzung unterscheidet „Spielarten des Kapitalismus“ grundsätzlich von allen anderen Theorieangeboten der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung. Um sie zu verstehen, lohnt ein kurzer theoriegeschichtlicher Blick auf die Themen- und Theoriekonjunkturen der Vergleichenden Politischen Ökonomie.

„Spielarten des Kapitalismus“ wurzelt in der Korporatismusdebatte der 1980er-Jahre. Theoretiker des Korporatismus interessierten sich für die Organisierung der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit in durchsetzungsfähigen Verbänden, für ihre Einbindung in die Politikproduktion und die Wirkungen auf wirtschaftliche outcomes (siehe hierzu Ebbinghaus i. d. B.). In der Frühphase beschäftigte sich ein Großteil dieser Forschung vor allem mit dem Faktor Arbeit: mit der Unterscheidung zwischen Einheits-, Branchen-, Berufs- und politischen Richtungsgewerkschaften beispielsweise, mit den Ursachen unterschiedlicher Grade an Arbeitskampfintensität oder mit der Bereitschaft, sich im Tausch gegen arbeitsmarkt- und sozialpolitische Zusagen von Regierungen auf Phasen moderater Lohnpolitik zu verpflichten.

Mit der Zeit aber wuchs das Interesse an der Arbeitgeberseite. Man entdeckte, dass einige Länder Affinitäten zu korporatistischen Politikmustern aufwiesen, obwohl ihnen auf Seiten des Faktors Arbeit alle Merkmale des Korporatismus zu fehlen schienen. Die Schweiz beispielsweise verfügt über starke Arbeitgeberverbände, aber nur schwache Gewerkschaften. In einem weiteren Schritt begann man, funktionale Äquivalente der Koordination der Arbeitgeber über Verbände in die Theorie zu integrieren. So fand man auch in Japan Koordinationsmuster aufseiten der Unternehmen vor, die sich vom angloamerikanischen Konkurrenz- und Wettbewerbsmodell unterschieden. Die Koordination erfolgte hier aber nicht über Verbände, sondern über Industriegruppen. Die Genese des „Spielarten des Kapitalismus“- Konzepts lässt sich somit als schrittweise Weiterentwicklung eines bestimmten – arbeitgeberzentrierten – Zweigs der Korporatismusforschung verstehen. Besonders plastisch zeigt sich diese Verwurzlung in der Korporatismusforschung in einer der frühesten Darstellungen der Unterscheidung zwischen koordinierten und liberalen Marktökonomien bei Soskice (1990b). In diesem Aufsatz entwickelt der Autor eine ländervergleichende Koordinationsskala (siehe Abschn. 2.4) durch Umsortierung einiger Länder auf einer Skala, die von Calmfors und Driffill (1988) zur Messung von Graden an Zentralisation der Lohnaushandlung (einem Teilaspekt des Korporatismus) entwickelt worden war.

2.2 Koordination in institutionellen Sphären

„Spielarten des Kapitalismus“ interessiert sich für die institutionalisierten Modi, mit denen sich Unternehmensleitungen mit den Trägern der Ressourcen koordinieren, die für die Produktion gebraucht werden: mit Beschäftigten, Kunden und Zulieferern, Eigentümern, Kreditgebern und mit anderen Unternehmen. Unterschieden werden dabei zwei Koordinationsmodi, nämlich marktvermittelte Koordination einerseits und alle Formen langfristiger, strategischer Koordination andererseits. Nicht verwirren sollte hier, dass es sich bei der nichtmarktlichen, strategischen Koordination um eine heterogene Kategorie von Koordinationsformen handelt – kann strategische Koordination doch über recht unterschiedliche Mechanismen hergestellt werden, so etwa über Solidaritäts- und Reziprozitätsnormen, über Aushandlungsprozesse (sofern diese auf lange Frist angelegt sind – ansonsten würde man sie dem Marktmechanismus zuordnen) oder über Hierarchien (vgl. Mayntz und Scharpf 1995 zu den Steuerungsmodi moderner Gesellschaften).

Diese Koordinationsmodi werden in einer begrenzten Anzahl institutioneller Sphären (manchmal auch als Domänen bezeichnet) verortet, wobei sich Anzahl und Spezifizierung dieser Sphären in unterschiedlichen Darstellungen unterscheiden. Vor allem sind folgende vier Sphären zu nennen: Arbeitsbeziehungen, Unternehmensfinanzierung und -kontrolle (Corporate Governance), Ausbildungswesen und eine heterogene Kategorie, in der es um die Koordination zwischen Unternehmen geht und die sich auf Felder wie die Produktstandardisierung, den Technologietransfer und die allgemeine Wettbewerbspolitik erstreckt.Footnote 4 Was bedeutet es konkret, wenn man sagt, man finde in diesen Sphären vor allem strategische Koordination oder vor allem Marktkoordination vor?

  1. 1.

    Arbeitsbeziehungen: In koordinierten Ökonomien findet die Lohnaushandlung vor allem oberhalb der Unternehmensebene statt, in liberalen Marktökonomien vor allem auf Unternehmensebene. In vielen koordinierten Ökonomien werden die Beschäftigten über Mitbestimmungsgesetze nicht nur an der Gestaltung sozialer Angelegenheiten auf betrieblicher Ebene beteiligt (betriebliche Mitbestimmung), sondern auch an den Leitungsfunktionen der Unternehmen (Unternehmensmitbestimmung) – eine Institution, die allen liberalen Marktökonomien fremd ist.

  2. 2.

    Unternehmenskontrolle: In koordinierten Ökonomien haben Großunternehmen Zugang zu „geduldigem Kapital“, dessen Träger stets in der einen oder anderen Form einen privilegierten Zugang zu den Unternehmen besitzen. Das gilt sowohl für das Fremd- als auch für das Eigenkapital: Banken unterhalten in koordinierten Ökonomien langfristige Beziehungen zu Unternehmen und beteiligen sich an der Unternehmensaufsicht, ebenso wie Eigenkapitalgeber, die typischerweise in großen Aktienblöcken zusammengefasst und daher handlungsfähiger als breit gestreute Einzelaktionäre sind. Streubesitz an Unternehmen und Kontrolle über die Kapitalmärkte sind hingegen für liberale Marktökonomien typisch.

  3. 3.

    Ausbildungswesen: In koordinierten Ökonomien werden die zur Produktion notwendigen Fertigkeiten der Beschäftigten in überdurchschnittlichem Maß im Unternehmen selbst hervorgebracht, die Sozialpartner beteiligen sich an der Regulierung betrieblicher Ausbildungsgänge. In den liberalen Marktökonomien findet hingegen mehr Ausbildung außerhalb der Unternehmen in Fachhochschulen und Universitäten statt, die so erlernten Fertigkeiten können von den Unternehmen marktvermittelt beschafft werden (vgl. Busemeyer 2009 für eine umfassendere Typologie von Ausbildungsregimen).

  4. 4.

    Wettbewerbsregime: Liberale Marktökonomien verfügen über eine rigidere Wettbewerbspolitik als koordinierte Ökonomien. Im Unterschied dazu verfügen koordinierte Ökonomien über gemeinsame Verbände und Einrichtungen, die abgestimmtes Verhalten fördern. Ziele solcher Verbände und Einrichtungen können bspw. die Organisation der Berufsausbildung, die Setzung von Industriestandards und der Technologietransfer sein. Das Fehlen eines rigiden Wettbewerbsregimes lässt sich historisch insbesondere an Deutschland veranschaulichen, das mindestens bis zum 1958 in Kraft getretenen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränken als „Land der Kartelle“ galt. Bis in die 1990er-Jahre hinein war die deutsche Wirtschaft durch ein dichtes Netzwerk an Unternehmens- und Personalverflechtungen gekennzeichnet.

Nach Lektüre dieser Beispiele für marktvermittelte und langfristig-strategische Koordination mag sich ein Einwand aufdrängen. Zwar wird man nicht bestreiten, dass die beschriebenen Unterschiede in Ländern wie den USA und Deutschland tatsächlich existieren, wenn man Institutionen und „durchschnittliche“, „typische“ Unternehmen vergleicht. Aber gibt es nicht auch in koordinierten Ökonomien wie Deutschland Unternehmen oder ganze Sektoren, auf die die Beschreibungen nicht zutreffen – Unternehmen ohne Betriebsrat und ohne Unternehmensmitbestimmung, die nicht an Flächentarifverträge gebunden sind, die kaum oder überhaupt nicht ausbilden, nicht Mitglied eines Arbeitgeberverbands sind, deren Aktienkapital breit gestreut ist, die sich zuvörderst über die Börse finanzieren und die keine engen Management- und Unternehmensnetzwerke geknüpft haben? Dieser Einwand ist berechtigt, zerstört die Grundeinsichten der „Spielarten des Kapitalismus“-Forschung aber nicht. Denn ihr Bezugspunkt sind zunächst einmal nicht Real-, sondern Idealtypen. Das Konzept arbeitet mit zugespitzten Beschreibungen von Unterschieden, die nicht auf jeden Realtyp zutreffen müssen. Als Ausgangspunkt für eingehendere Theoretisierungen ist ein solch „idealisierendes“ Vorgehen legitim und es unterscheidet sich auch nicht grundlegend vom Vorgehen etwa der Korporatismusforschung oder der vergleichenden Demokratieforschung. Gleichwohl gilt festzuhalten: Realtypische Produktionsregime sind heterogener, als die idealtypischen Zuschreibungen es zunächst einmal nahelegen. Auf einem anderen Blatt steht freilich, wie nah die unterschiedenen Idealtypen den durchschnittlichen Realtypen heute noch kommen, beruhen die gebildeten Kategorien doch auf Forschungen aus den 1990er-Jahren (siehe hierzu Abschn. 3.1).

2.3 Institutionelle Komplementarität

Wir haben bereits gesehen, dass sich „Spielarten des Kapitalismus“ den institutionalistischen Traditionen zuordnen lässt (siehe Treib i. d. B.). Das gilt für mehrere der in diesem Band vorgestellten Theorien (vgl. etwa Ganghof und Schulze i. d. B.). Ein distinktes Merkmal von „Spielarten des Kapitalismus“ ist aber die Betonung einer spezifischen Eigenschaft institutioneller Konfigurationen: die institutionelle Komplementarität. Will man demnach die Wirkungen von Institutionen verstehen, genügt es nicht, die Funktionen einzelner Institutionen zu analysieren und die so erfassten Wirkungen anschließend zu aggregieren. Vielmehr interessieren sich „Spielarten des Kapitalismus“-Theoretiker vor allem für das spezifische Zusammenwirken von Institutionen innerhalb größerer institutioneller Konfigurationen, man könnte sagen: für institutionelle Querwirkungen. Institutionelle Komplementarität liegt vor, wenn die Funktionalität einer Institution von der Präsenz anderer Institutionen abhängt.

Der spezifische Wettbewerbsvorteil von Unternehmen aus koordinierten Ökonomien liegt, der Theorie zufolge, in ihrer Fähigkeit zur langfristigen inkrementellen Innovation bei Qualitätsprodukten (Abschn. 2.5). Ein institutionelles Umfeld, das dies ermöglicht, verfügt sowohl über Institutionen der Unternehmensfinanzierung, die die Bereitstellung „geduldigen“ Kapitals fördern, als auch über Institutionen des Kündigungsschutzes und der Mitbestimmung, die die Kernbelegschaften langfristig an das Unternehmen binden. Der spezifische Wettbewerbsvorteil von Unternehmen aus liberalen Marktökonomien liegt hingegen in ihrer Fähigkeit, schnell in neue Produktionsnischen vorzudringen, dort radikale Innovationen hervorzubringen und sich gegebenenfalls schnell wieder aus der Nische zurückzuziehen. Ein institutionelles Umfeld, das dies ermöglicht, verfügt sowohl über Institutionen, die die Bereitstellung von Risikokapital begünstigen, als auch über Arbeitsmarktinstitutionen, die nicht nur die rasche Einstellung, sondern auch die rasche Entlassung qualifizierter Beschäftigter ermöglichen. Die „Spielarten des Kapitalismus“-Schule formuliert: In diesen Beispielen wirken die Institutionen der Unternehmensfinanzierung und die Arbeitsmarktinstitutionen komplementär.

Eigentlich erscheint die Einsicht in die Eigenschaft der institutionellen Komplementarität naheliegend, zumindest aber nicht besonders kompliziert. Gleichwohl hat sie weitreichende Konsequenzen für das Denken über Institutionen. Wie ist es um die Produktivitäts- und Profitabilitätswirkungen der Arbeitnehmermitbestimmung bestellt? Entfaltet der Kündigungsschutz produktive oder destruktive Wirkungen auf die Innovationskraft von Unternehmen? Studien zu solchen und ähnlichen Fragen füllen Regale der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Bibliotheken. „Spielarten des Kapitalismus“-Theoretiker aber lehnen solche Fragen als grundsätzlich fehlgeleitet ab. Institutionen sind stets in übergreifenden institutionellen Konfigurationen und zudem in spezifischen historischen Kontexten verortet. Ob eine Institution wie beispielsweise der Kündigungsschutz neben dem naheliegenden Arbeitnehmerschutz auch Produktivitätswirkungen entfaltet, lässt sich nur in Kenntnis der Eigenschaften der anderen Institutionen des Produktionsregimes und der „Querwirkungen“ zwischen ihnen beantworten.

Was, wenn wir ein Produktionsregime annehmen, dessen Wettbewerbsvorteile auf der Ausbildung von Fertigkeiten beruhen, die nur intern – im Unternehmen – erbracht und also nicht über den unternehmensexternen Arbeitsmarkt beschafft werden können? Welche Institutionen wären (neben einer funktionalen Regulierung des betrieblichen Ausbildungswesens) vonnöten, um älteren Beschäftigten zu ermöglichen, ihre Fertigkeiten an Jüngere weiterzugeben, ohne befürchten zu müssen, im Anschluss durch den jüngeren und potenziell produktiveren Beschäftigten ersetzt und also gekündigt zu werden? Müsste man diesem Träger unternehmensspezifischer Skills nicht einen einklagbaren Kündigungsschutz zubilligen? Und wenn das so ist – wäre dann nicht einzuräumen, dass der Kündigungsschutz nicht nur Wirkungen im Sinne des Arbeitnehmerschutzes, sondern auch Effizienz- und Profitabilitätswirkungen entfaltet?

Das führt uns zu einem interessanten Punkt, den wir in Abschn. 3.2 noch einmal vertiefen werden: „Spielarten des Kapitalismus“ hat eine kontroverse, neuartige Fachdebatte über die Funktionslogiken und machtpolitischen Ursprünge sozialpolitischer Institutionen ausgelöst. Denn wenn die Annahme begründet erscheint, dass Institutionen wie der Kündigungsschutz produktive Beiträge zu Produktion und Wettbewerbskraft leisten können, ist folgerichtig auch die Frage berechtigt, ob der Kündigungsschutz denn tatsächlich gegen die Interessen der Unternehmen durchgesetzt werden musste. Eben diese Frage stellen „Spielarten des Kapitalismus“-Theoretiker nicht nur in Bezug auf den Kündigungsschutz, sondern auch für im engeren Sinne sozialpolitische Institutionen wie beispielsweise die Arbeitslosenunterstützung.

2.4 Nationale Spielarten des Kapitalismus

Mit Hilfe der in den vorigen Abschnitten skizzierten Unterscheidungen lassen sich empirisch vorgefundene Realtypen zu Gruppen oder in Rangfolgen sortieren (siehe Tab. 1). Hall und Soskice (2001) arbeiten mit der Unterscheidung zwischen koordinierten Ökonomien und liberalen Marktökonomien und klassifizieren zudem einige Fälle als Mischtypen (Spalte 2 der Tabelle). Verschiedentlich wurden Verfeinerungen dieser Typologie vorgeschlagen. So unterscheidet Amable (2003, Kap. 5) fünf Typen: den marktbasierten, den asiatischen, den sozialdemokratisch-nordischen, den mediterranen sowie den kontinentaleuropäischen Kapitalismus (Spalte 3).Footnote 5 Witt et al. (2018) haben eine Studie vorgelegt, die vor allem wegen der Größe des Ländersamples beeindruckt: Untersucht werden 61 Länder, die zusammengenommen (im Bezugsjahr 2013) 93,5 % des weltweiten Sozialprodukts ausmachen. Das führt die Autoren zur Unterscheidung von neun Spielarten des Kapitalismus (in deren Terminologie: business systems): hochkoordinierte, koordiniert-marktbasierte und peripher-europäische Ökonomien, liberale Marktökonomien, Entwicklungsländer, Schwellenländer (advanced-emerging), entwickelte Stadtökonomien (diese Kategorie ist mit Hong Kong und Singapur besetzt), arabisch-ölbasierte Ökonomien und sozialistische Länder (letztere, Kuba und Venezuela, freilich nicht primär kapitalistisch).

Tab. 1 Länderskalen in der „Spielarten des Kapitalismus“-Forschung

In der Forschungspraxis erweisen sich solche Typologisierungen insbesondere dann als hilfreich, wenn es gilt, Länder für qualitative Vergleiche mit kleiner Fallzahl auszuwählen. Unumstritten ist die Bildung solcher Länderkategorien indes nicht. Kritiker haben clusteranalytisch gezeigt, dass die entstehenden Gruppen recht instabil sind. Sie verändern sich, sobald vergleichsweise wenige Indikatoren durch andere ersetzt werden, und entsprechend wechseln einige Länder im Zeitverlauf ihre Gruppenzugehörigkeiten (Ahlquist und Breunig 2009; Schneider und Paunescu 2012).

Wir sehen: Offenbar darf man sich die Welt unterschiedlicher Kapitalismen nicht allzu kategorial vorstellen, sondern als eine sich ständig im Fluss befindliche und zudem mit vielen Graustufen zwischen den Typen ausgestattete Vielfalt. Und dass stets umstritten ist, welche Indikatoren eigentlich die entscheidenden sind, macht die Sache nicht einfacher. Letztlich, so könnte man sagen, repräsentiert jeder vorgefundene Realtyp ein eigenes Kapitalismusmodell („each case is a special case“). Aber auch diese Lösung, die den gänzlichen Verzicht auf Typenbildungen nahelegen würde, ist nicht wirklich befriedigend. Denn für die Theoriebildung hat die Unterscheidung von Kategorien, mit all ihren Schwächen, eine wichtige Funktion.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, lediglich zwei Typen zu definieren und die vorgefundenen Realtypen auf einer Achse zwischen ihnen zu verorten. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass der Anschein eindeutiger kategorialer Zuordnungen vermieden wird. Allerdings bleiben solche Skalen beispielsweise gegenüber Amables Typologie (5 Typen) unterkomplex. Tab. 1 zeigt zwei solcher Messversuche: die Indizes von Hall und Gingerich (2004) (Spalte 4) sowie von Witt und Jackson (2016) (Spalte 5), die beide mit dem Ziel konstruiert wurden, das Ausmaß an durch Institutionen bereitgestellter Kapazität zur Koordination (im Sinne des „Spielarten-des-Kapitalismus“-Ansatzes) über unterschiedliche Sphären hinweg abzubilden.Footnote 6 Da beide Indizes auf Werte zwischen Null (marktbasiert) und Eins (koordiniert) kalibriert sind, lassen sich die Werte für die einzelnen Länder gut vergleichen. Obwohl unterschiedliche Einzelindikatoren in die jeweiligen Indizes einfließen, überwiegen die Gemeinsamkeiten: Die Indizes kommen zu sehr ähnlichen Ergebnissen, insbesondere an den marktbasierten und koordinierten Enden der Skalen (siehe etwa die Positionierungen von Großbritannien und Österreich).Footnote 7 Allein bei dem notorisch schwer zu klassifizierenden japanischen Fall ergibt sich ein nennenswerter Unterschied.Footnote 8

2.5 Komparative Vorteile und institutioneller Wandel

Zu den Grundeinsichten der „Spielarten des Kapitalismus“-Theoretiker gehört, dass es kein optimales, allen anderen Konfigurationen überlegenes Wirtschaftsmodell gibt. Vielmehr erlauben koordinierte Ökonomien und liberale Marktökonomien die Ausschöpfung unterschiedlicher komparativer Vorteile. Koordinierte Ökonomien ermöglichen die langfristige Ausschöpfung von Kooperationsgewinnen zwischen den am Produktionsgeschehen Beteiligten, was als günstiges Umfeld für die so genannte inkrementelle Innovationen gilt. In einem für die Genese des „Spielarten des Kapitalismus“-Konzepts besonders wichtigen Aufsatz hat Streeck (1991) diese Produktionsweise als „diversifizierte Qualitätsproduktion“ bezeichnet. Sie findet sich etwa in der deutschen Automobilindustrie und im Maschinenbau – und es wird nicht überraschen, dass genau dies die Sektoren sind, die Deutschland immer wieder zum Exportweltmeister machen. Liberale Marktökonomien sind hingegen nicht auf die Ausschöpfung der Vorteile langfristiger Kooperation ausgerichtet. Ihr Vorteil ist ein anderer: das enorme Maß an Flexibilität, das entsteht, wenn sich alle zur Produktion notwendigen Elemente auf liquiden Märkten beschaffen und ggf. auch wieder abstoßen lassen. Diese Flexibilität begünstigt laut Theorie einen Innovationstyp, der in Abgrenzung zur inkrementellen als radikale Innovation bezeichnet wird. Ein vorteilhaftes Umfeld stellen solche Ökonomien beispielsweise für Finanzdienstleistungen, Biotechnologie, Pharmazeutika, Telekommunikation und Informationstechnologie bereit (besonders anschaulich: Schröder 2014, Kap. 5; kritisch: Taylor 2004).

Dass es kein optimales Wirtschaftsmodell gibt, impliziert für Hall und Soskice (2001) aber nicht, dass alle institutionellen Konfigurationen gleichermaßen vielversprechend sind. Vielmehr gehen sie davon aus, dass Produktionsregime insbesondere dann zur Ausschöpfung der Potenziale institutioneller Komplementarität geeignet sind, wenn sie in kohärenter Weise – also: stringent koordiniert oder stringent marktförmig – organisiert sind. Hall und Gingerich (2004) argumentieren, dass sich die Stimmigkeit dieser Überlegungen an ländervergleichenden makroökonomischen Daten ablesen lässt. Sie untersuchen Zusammenhänge zwischen den Graden an Koordiniertheit von Ökonomien und Wachstumsraten der 1970er- bis 1990er-Jahre. Unter statistischer Kontrolle für zahlreiche weitere Variablen zeigen sie einen U-Kurven-förmigen Zusammenhang dahingehend, dass kohärent koordinierte und kohärent liberale Ökonomien höhere Wachstumsraten hervorbringen als Mischtypen.Footnote 9 „Wenn, dann richtig“, so ließe sich die Implikation auf den Punkt bringen: Verfügt ein Produktionsregime über viele koordinierende Eigenschaften, dann erschiene es vorteilhaft, auch die restlichen Elemente auf die Ermöglichung langfristig-strategischer Koordination umzustellen, um auf diese Weise Kohärenz zu maximieren und also die optimale Ausschöpfung der Potenziale institutioneller Komplementarität zu erlauben.

Interessant ist nun, dass aus diesen Überlegungen zur Überlegenheit kohärenter Produktionsregime eine Hypothese über langfristigen institutionellen Wandel folgt. Denn welche Reaktionen auf ökonomische Schocks und auf Wettbewerbsdruck wären zu erwarten, wenn Hall und Soskice mit den oben skizzierten Überlegungen Recht hätten? Sowohl in koordinierten Ökonomien als auch in liberalen Marktökonomien sollten die Politiker mit Strategien der Kohärenzmaximierung reagieren, was allerdings höchst unterschiedliche Formen annehmen sollte: Reformen zur Steigerung der strategischen Koordinationskapazitäten in den koordinierten Ökonomien, Liberalisierung hingegen in den liberalen Marktökonomien.Footnote 10 Im Prinzip müssten Produktionsregime im Zuge von Wettbewerbsverschärfungen und ökonomischen Schocks daher immer unterschiedlicher beziehungsweise „extremer“ werden (Soskice 1999, S. 123 spricht von „bi-furcated convergence“).

Das ist zweifellos eine faszinierende Hypothese (auf die wir in Abschn. 3.1 noch einmal zurückkommen werden). Die Leserinnen und Leser werden die Hypothese aber unmittelbar als ziemlich gewagt erkennen. Was alles gegeben sein muss, damit diese Überlegungen zutreffen! Zunächst einmal müssten die Wachstumswirkungen der Kohärenz nicht nur vorhanden, sondern auch sehr deutlich sein. Des Weiteren müssten die Politiker und Interessensgruppen die etwaige Vorteilhaftigkeit einer Strategie der Kohärenzmaximierung durchschauen – und sie auch dann akzeptieren, wenn die jeweilige Strategie zunächst einmal den eigenen Interessen zuwiderläuft. Beispielsweise könnte ein Mehr an Koordination in den koordinierten Ökonomien ja ein Mehr an Arbeitnehmermitbestimmung bedeuten – eine Aussicht, von der Arbeitgeber gewiss nicht auf Anhieb begeistert wären. Aber nicht nur müssten die Reformen machtpolitisch durchsetzbar sein, sie müssten auch gesellschaftspolitisch machbar sein. Institutionen existieren schließlich nicht im luftleeren Raum, sie sind vielmehr in den spezifischen Traditionen von Ländern verwurzelt. Weitere Einwände ließen sich anführen. Nichts am „Spielarten des Kapitalismus“-Konzept wurde so engagiert und nahezu einhellig kritisiert wie der krude Funktionalismus – Funktionalismus im Sinne von: Funktion determiniert Struktur – der „bi-furcated convergence“-These (besonders nachdrücklich: Streeck 2009). In Abschn. 3.1 werden wir sehen, dass die „Spielarten des Kapitalismus“-Theoretiker ihre Aussagen an genau dieser Stelle spürbar relativiert haben.

3 Anwendungen

„Spielarten des Kapitalismus“ hat eine der lebhaftesten und kontroversesten politökonomischen Debatten der vergangenen ein bis zwei Dekaden angestoßen. Viele Autoren formulierten theoretische Einwände (als ein Beispiel unter vielen sei Streeck 2011 genannt). Weitere Arbeiten haben den Theorieansatz auf Länder angewendet, die von Hall und Soskice (2001) ursprünglich nicht berücksichtigt wurden, und das Konzept zu diesem Zweck graduell angepasst. Als Beispiele seien Studien zu osteuropäischen (Nölke und Vliegenthart 2009; Bohle und Geskovits 2012), afrikanischen (Wood und Frynas 2006), asiatischen (Boyer et al. 2012; Kalinowski 2013) und südamerikanischen Ländergruppen (Schneider 2013) genannt, jeweils unter mehr oder weniger enger Anknüpfung an das „Spielarten des Kapitalismus“-Konzept. Selbst ein Beitrag, der bei der Untersuchung der Finanzsysteme islamischer Länder an „Spielarten des Kapitalismus“ anknüpft, lässt sich finden (Watkins 2020, Kap. 9).

Schier endlos ist zudem die Liste an politischen Präferenzen, wirtschaftlichen Praktiken, Staatstätigkeiten und outcomes, die mit Hypothesen untersucht wurden, die aus dem Theorieansatz abgeleitet wurden. Untersucht wurden die Personalpraktiken von Unternehmen (Iseke und Schneider 2012) und deren Gleichstellungspolitiken (Pucheta-Martínez et al. 2020), internationale wirtschaftliche Kooperation (Fioretos 2001; Kalinowski 2019), Determinanten des Glücks (Pryor 2010, Kap. 7), Parteispenden (Goerres und Höpner 2014), Strategien institutioneller Investoren (Goyer 2006), der Wandel von Telekommunikationssektoren (Thatcher 2004), globale Rechnungslegungsstandards (Walker 2010), Strategien gegen Klimawandel (Mikler 2009; Gouch 2017), die Macht des Europäischen Gerichtshofs (Höpner und Schäfer 2012) und vieles andere mehr. Wenn der Gebrauchswert einer Theorie darin besteht, interessante Hypothesen zu generieren, die sich gegen unterschiedlichste empirische Beobachtungen testen lassen, dann hat sich „Spielarten des Kapitalismus“ offenbar als nützlich erwiesen.

Betrachten wir nachfolgend drei Diskussionsstränge etwas eingehender, und zwar die Debatten über Liberalisierung in Deutschland, über Sozialpolitik und über Wachstumsregime.

3.1 Wandel des deutschen Produktionsregimes

In Abschn. 2.5 haben wir die Hypothese der „gegabelten Konvergenz“ (bi-furcated convergence) kennengelernt, der zufolge Produktionsregime ihre Eigenschaften im Zeitverlauf immer stärker herausbilden, vervollkommnen, ja radikalisieren sollten. Genau genommen sollte Liberalisierungspolitik daher nur in liberalen Marktökonomien, nicht aber in koordinierten Ökonomien auftreten.Footnote 11 Diese Vorhersage, das wird schnell deutlich, ist also nicht haltbar. Es lässt sich kaum bestreiten, dass alle entwickelten Industrieländer spätestens seit den frühen 1990er-Jahren von einer Welle der Liberalisierung erfasst wurden, die freilich nicht geradlinig verlief und je nach Politikfeld auch immer wieder Phasen der Re-Regulierung anstieß (Hall 2007, S. 39; Hall und Thelen 2009, S. 22–24; Höpner et al. 2011; Zohlnhöfer et al. 2018; Fill 2019). Wie wir ebenfalls bereits in Abschn. 2.5 gesehen haben, ist die Hypothese einer im Zeitverlauf zunehmenden Kohärenz der institutionellen Konfigurationen von Produktionsregimen (Hall und Soskice 2001, S. 17) in der Fachwelt besonders kritisch aufgenommen worden, und genau dies ist auch die Stelle, an der Vertreter der „Spielarten des Kapitalismus“-Theorie im Verlauf der jüngeren Debatten am deutlichsten zurückgerudert sind. Die (vermeintliche) Effizienz von Institutionen, so stellen sie klar, ist nur eine unter vielen Triebkräften institutionellen Wandels (Hall 2005, S. 375; Hancké et al. 2007, S. 12–14). Es gibt aber viele andere solcher Triebkräfte, die sich zum Teil außerhalb der Reichweite der Theorie befinden, zum Teil aber auch durchaus in die Theorie integrieren lassen (siehe hierzu auch Abschn. 4). So argumentieren Hall und Thelen (2009, S. 25–26), entscheidend für den Wandel von Institutionen seien nicht die erwarteten Effizienzeffekte, sondern die Verteilungswirkungen auf jene Akteurskoalitionen, die die im Wandel begriffene Institution in der Vergangenheit stützten.

Folgt man diesen Klarstellungen, besteht kein Grund mehr für die Annahme, Liberalisierungspolitik könnte nur in liberalen Marktökonomien auftreten. In einer abgeschwächten Variante aber halten die „Spielarten des Kapitalismus“-Theoretiker an ihrer Vorhersage fest: Sie halten Pfadwechsel, die koordinierte Ökonomien in die Gruppe der liberalen Marktökonomien überführen, für unwahrscheinlich. Liberalisierungspolitik existiere, führe aber nicht zu einer Konvergenz der Produktionsregime, sondern zu einer flexibleren Spielart der koordinierten Ökonomien, die an den entscheidenden Stellen ihre Koordinationskapazitäten gleichwohl beibehielten (Hall 2007, S. 69, 2015, S. 51). In der Debatte hierüber fungiert insbesondere Deutschland – in seiner Eigenschaft als Paradefall einer koordinierten Ökonomie – als empirischer Testfall.

Eine Schwierigkeit dieser Debatte besteht darin, dass sich keine Schwellenwerte benennen lassen, ab der die kumulierten Wirkungen von Liberalisierung den Grundcharakter eines Produktionsregimes verschieben. Auch finden sich zwischen den im „Spielarten des Kapitalismus“-Konzept unterschiedenen Sphären recht heterogene Entwicklungen, und als nicht minder uneinheitlich erweisen sich die Befunde, wenn man innerhalb ein und derselben Sphäre, beispielsweise der Arbeitsbeziehungen, zwischen Wirtschaftssektoren oder etwa zwischen Größenklassen betroffener Unternehmen unterscheidet. So bleiben große deutsche Exportunternehmen des verarbeitenden Gewerbes in aller Regel mitbestimmt und an Flächentarifverträge gebunden (Weckwerth und Weishaupt 2019), bei kleinen und mittelgroßen Unternehmen – insbesondere etwa in Ostdeutschland – ist die Erfassung durch diese Institutionen hingegen alles andere als eine Selbstverständlichkeit (Bispinck und Schulten 2009; Kißler et al. 2011). Im westeuropäischen Vergleich ist die deutsche Erosion der Tarifbindung exzeptionell: Nur noch jeder zweite deutsche Beschäftigte wird von Flächen- oder Haustarifverträgen erfasst, während Länder wie Belgien, Finnland, Frankreich, die Niederlande, Portugal und Spanien den Niedergang ihrer tariflichen Deckungsraten durch die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen geschützt haben (Günther und Höpner 2022).Footnote 12

Insbesondere mit Blick auf die Arbeitsbeziehungen wurde die Liberalisierung des deutschen Produktionsregimes häufig als „Dualisierung“ beschrieben (Hassel 2014; Rueda 2014): Die Merkmale des koordinierten Kapitalismus existieren weiterhin, dies allerdings in einem schrumpfenden Kern, der von einer wachsenden Peripherie mit liberaleren Arbeitsbeziehungen umgeben wird. Diese Beschreibung fängt einen erheblichen Teil der Liberalisierung korrekt ein, allerdings ist auch hier Vorsicht geboten: Auch der koordinierte Kern bleibt von den Liberalisierungsprozessen nicht unberührt. Das gilt nicht nur für die Arbeitsbeziehungen, sondern auch für die Unternehmenskontrolle (Corporate Governance). Auch hier freilich sind die Veränderungen komplex und uneinheitlich, je nachdem, welche Variablen man in das Zentrum der Betrachtungen rückt. So stehen einer rapiden Annäherung des Finanzsektors an angloamerikanische Muster (Beyer 2004) und einer Auflösung der für Deutschland lange Zeit so typischen Kapitalverflechtungen zwischen Großunternehmen (Beyer 2007) beispielsweise Eigentümerstrukturen von Großunternehmen gegenüber, die weiterhin vergleichsweise konzentriert sind (Culpepper 2005, S. 189–190). Auch im Ausbildungswesen zeigen sich rapide Veränderungen, auch und gerade im hochproduktiven industriellen Kern der deutschen Ökonomie: Die Nachfrage der Unternehmen nach Universitätsabsolventen (general skills) hat auf Kosten der Nachfrage nach Absolventen der dualen Ausbildungsgänge (specific skills) im Zuge der Digitalisierung erheblich zugenommen. Blickt man auf neu abgeschlossene Arbeitsverträge, halten sich beide Gruppen nunmehr die Waage, nachdem die Nachfrage nach Absolventen der betrieblichen Ausbildungsgänge im Jahr 2000 noch doppelt so hoch war wie jene nach Universitätsabsolventen (sehr lesenswert: Diessner et al. 2021, dort insbes. S. 12–17).

Wir sehen: Die Frage, ob koordinierte Ökonomien auch unter verschärftem Wettbewerbsdruck koordinierte Ökonomien bleiben, ist letztlich „zu groß“ gestellt und nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten. Halten wir aber fest, dass „Spielarten des Kapitalismus“ einen geeigneten Bezugspunkt für empirische Überprüfungen bereitstellt. In zahlreichen jüngeren Analysen zum politökonomischen Wandel in Deutschland wurde die Theorie, wenn auch zuweilen unter kritischer Abgrenzung (siehe etwa Streeck 2009), als Ausgangspunkt, als Lieferant von Hypothesen oder als Kontrastfolie für weitergehende Überlegungen genutzt.

3.2 Die neue Wohlfahrtsstaatsdebatte

Dieser Abschnitt verdeutlicht, dass „Spielarten des Kapitalismus“ zur Generierung neuartiger Hypothesen über die Ursprünge und die Genese des modernen Wohlfahrtsstaats beiträgt. Denken wir zunächst an die Überlegungen zum Kündigungsschutz aus Abschn. 2.3 zurück. Die unmittelbare Funktion dieser Institution, so haben wir dort gesehen, ist der Arbeitnehmerschutz. Aufgrund der institutionellen Komplementarität aber, so einige „Spielarten des Kapitalismus“-Theoretiker, könne der Kündigungsschutz durchaus funktionale Beiträge zu Produktivität und Innovation leisten, und zwar dann, wenn wir gleichzeitig in der Sphäre der Humankapitalproduktion unternehmensspezifisches – nicht über Unternehmensgrenzen hinweg transferierbares – Humankapital vorfinden.

Nehmen wir nun in leichter Modifikation dieser Überlegungen an, das von den Unternehmen benötigte Humankapital sei zwar nicht gänzlich unternehmensspezifisch, aber sektorspezifisch. Es sei im Prinzip transferierbar, der hierfür in Frage kommende Pool an Unternehmen sei aber klein und folglich müsse im Fall von Kündigungen mit einer vergleichsweise langen Phase der Sucharbeitslosigkeit und einer damit einhergehenden graduellen Entwertung der Humankapitalinvestition gerechnet werden. Warum sollten die Beschäftigten in die Ausbildung eines mit entsprechend hohem Entwertungsrisiko behafteten Humankapitals investieren, wo ihnen doch prinzipiell auch Wege zur Ausbildung genereller Fertigkeiten offen stehen? Müsste eine Volkswirtschaft, die aufgrund ihrer Stellung in der internationalen Arbeitsteilung auf die Ausbildung sektorspezifischer Fertigkeiten angewiesen ist, nicht latent mit Problemen der Unterversorgung mit dem benötigten Humankapital konfrontiert sein, und müsste der Staat den betroffenen Beschäftigten im Fall der Arbeitslosigkeit nicht statusbezogene, also vom letzten erzielten Arbeitsentgelt abhängige Lohnersatzleistungen garantieren, um die Bereitschaft zu entsprechenden Investitionen zu fördern? Und wenn das so wäre: Sollten dann nicht auch die Arbeitgeber des hochproduktiven Exportsektors ein Interesse an der Gewährung solcher Sozialleistungen haben? Das ist eine kühne Überlegung – denn stimmt sie mit den Tatsachen überein, dann wären Abstriche an der Grundannahme der Machtressourcentheoretiker zu machen, dass der Wohlfahrtsstaat von der Arbeiterklasse und den ihnen nahe stehenden Parteien gegen die Interessen und den Widerstand der Arbeitgeber durchgesetzt werden musste (siehe Ebbinghaus und Wenzelburger i. d. B.).

Das skizzierte Argument wird auf zwei Arten geführt und mit Empirie unterfüttert. In der historisch-genetischen Variante untersuchen Autoren wie Mares (2000, 2003) und Swenson (2002, 2004) entscheidende Wendepunkte bei der Entstehung moderner Wohlfahrtsstaaten und zeigen auf, dass die Haltungen der Arbeitgeber nicht durchgehend von monolithischer Gegnerschaft geprägt waren. Beide Autoren argumentieren mit großer Vorsicht und warnen vor der Fehlinterpretation, der Wohlfahrtsstaat sei funktional und genetisch als Arbeitgeberinstrument zur Generierung von Wettbewerbsvorteilen zu verstehen. Swenson geht es um sektoral begrenzte, klassenübergreifende Koalitionen als Grundlage wohlfahrtsstaatlicher Politik in den USA und Schweden (Swenson 2002) und, in einem parallelen Argument, um die machtpolitischen Determinanten der Zentralisation der schwedischen und dänischen Tarifsysteme (Swenson 1991). Mares argumentiert noch zurückhaltender und stellt am Beispiel Deutschlands heraus, dass dominante Fraktionen des Kapitals – ihren ursprünglichen, „vorstrategischen“ Präferenzen folgend – in den zwanziger Jahren tatsächlich zunächst gegen die Einführung der allgemeinen Arbeitslosenversicherung votierten. Um aber die aus ihrer Sicht schlechtesten Ergebnisse zu verhindern, ließen sich Unternehmen aus den hochproduktiven Exportsektoren auf Kompromisse ein und wurden so zu potenziellen Verbündeten der Reformflügel der Arbeiterbewegung. Die agenda setter und Architekten der Reformen, so stellt Mares heraus, waren keine Arbeitgeber, sondern Reformpolitiker, denen es gelang, auf Grundlage „nachstrategischer“, zweiter Präferenzen fragile Kompromisse zu schmieden und die sozioökonomischen Akteure auf diese zu verpflichten (Mares 2003).

Neben der historisch-genetischen gibt es eine wählerzentrierte Variante des Arguments (Estévez-Abe et al. 2001; Iversen 2005; Iversen und Soskice 2012; Iversen und Stephens 2008). Im Kern geht es dabei um eine Modifikation des Meltzer/Richard-Modells, das vom Einkommen des Wählers auf die Präferenz gegenüber staatlicher Sozialpolitik schließt und besagt, dass Wähler bis zum Medianeinkommen Befürworter von Umverteilung sind, Wähler oberhalb des Medianeinkommens hingegen Gegner. Diese Interpretation, so der Einwand, modelliere Einstellungen gegenüber Umverteilung im Prinzip korrekt, ignoriere aber die Versicherungsfunktion des Wohlfahrtsstaats, genauer: seine Schutzfunktion in Bezug auf nur begrenzt über Unternehmensgrenzen hinweg transferierbares Humankapital. Beide Funktionen, Umverteilung und Absicherung, seien im Wohlfahrtsstaat untrennbar verknüpft, und ebenso wie die Verfügung über physisches Kapital die Präferenzen gegenüber Umverteilung determiniere, präge die Verfügung über Humankapital die Präferenzen gegenüber der Versicherungsfunktion des Wohlfahrtsstaats. Wähler mit unternehmens- oder sektorspezifischem Humankapital, so zeigen Iversen und Soskice (2012) anhand von Umfragedaten, weisen auch dann noch eine Präferenz für Umverteilung auf, wenn man es aufgrund ihrer Einkommenshöhe nicht mehr erwarten würde. Die Autoren schließen: In Produktionsregimen, deren komplementäre Institutionen auf die Ausbildung spezifischen Humankapitals hinwirken, konkurrieren die großen Parteien um einen Medianwähler, der „pro Sozialstaat“ ist – und entwickeln deshalb eine dezidierte wohlfahrtsstaatliche Programmatik. Im Ergebnis wird die institutionelle Ausgestaltung des Produktionsregimes über den Umweg des Grads an Humankapitalspezifität zum Prädiktor für wohlfahrtsstaatliche Politik.

Wie stark sich die Einsichten der Machtressourcentheoretiker in die Determinanten wohlfahrtsstaatlicher Politik letztlich durch Befunde der „Revisionisten“ relativieren lassen, ist umstritten. Paster (2011, 2013) beispielsweise ist skeptisch: Ihm zufolge passt das historisch-genetische Argument für Deutschland am ehesten auf die im Jahr 1884 eingeführte Unfallversicherung, aber kaum auf die 1883 eingeführte Krankenversicherung, die 1889 eingeführten Kranken- und Invalidenrenten und schon gar nicht auf die 1922 eingeführte Arbeitslosenversicherung. In Bezug auf den Kündigungsschutz äußern Emmenegger und Marx (2011) ähnliche Zweifel. Für die Gegenwart denke man zudem etwa an die Kampagnen der arbeitgeberfinanzierten Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), die regelmäßig mehr Liberalisierung anmahnt (Kinderman 2005). Man mag zu dem Ergebnis kommen, dass die „Spielarten des Kapitalismus“-Sicht auf die Genese des Wohlfahrtsstaats mehr problematische als valide Züge hat. Es sei aber daran erinnert: Worauf es uns hier ankommt, ist das Potenzial eines Theorieansatzes, eine neuartige Hypothese über einen vielbeforschten Gegenstand zu formulieren und damit eine Perspektive zu eröffnen, die den Expertinnen und Experten ansonsten möglicherweise verborgen bliebe. Dass eine Hypothese interessant ist, neuartig und zumindest mit so viel Anfangsplausibilität ausgestattet, dass sie Forschungsaufwand rechtfertigt, sagt noch nichts darüber aus, wie viel Varianz aufseiten der abhängigen Variablen sich mit ihr am Ende tatsächlich aufklären lässt. Sollte die Hypothese am Ende des Tages vor allem neues Licht auf unterschiedliche Grade an Ablehnung wohlfahrtsstaatlicher Reformen durch Arbeitgeber geworfen haben (für eine abschließende Evaluation ist es noch zu früh), so hat sie gleichwohl Erkenntnis erzeugt, indem sie unseren Wissensstand einem neuartigen Test unterzog.

3.3 Wachstumsmodelle

Das dritte und letzte Beispiel geht über eine empirische Anwendung des Theorieansatzes hinaus. Die Forschung über Wachstumsmodelle (growth models oder growth regimes) nimmt „Spielarten des Kapitalismus“ zum Ausgangspunkt für die Entwicklung eines eigenständigen Ansatzes. Zwischen beiden gibt es offenkundige Ähnlichkeiten: Auch der Wachstumsmodell-Ansatz ist in der Vergleichenden Politischen Ökonomie verankert und strebt nach der Erforschung und Erklärung der Wirtschaftsprofile entwickelter Länder. Auch hier werden Länder zu Gruppen klassifiziert. Auch hier sind Institutionen wichtig (zum Teil sogar dieselben wie im „Spielarten des Kapitalismus“-Ansatz), und auch hier geht es um die Komplementarität von Institutionen und Praktiken, die zusammengenommen und sich wechselseitig verstärkend bestimmte Ergebnisse hervorbringen. Im Unterschied zu „Spielarten des Kapitalismus“ geht es in der Forschung über Wachstumsmodelle aber nicht um die Angebotsseite, sondern um die Nachfrageseite von Ökonomien.

Um wachsen zu können, sind alle Ökonomien auf eine hinreichende Nachfrage nach den produzierten Produkten und Dienstleistungen angewiesen.Footnote 13 Baccaro und Pontusson (2016) zufolge speiste sich die Nachfrage in den meisten entwickelten Volkswirtschaften bis in die frühen 1990er-Jahre hinein vor allem aus dem Lohnwachstum. Säkularer Wandel machte diesen Weg aber zunehmend prekär: die Institutionalisierung einer strikten Geldpolitik, die Schwächung der Gewerkschaften, die Globalisierung und die Kapitalmarktliberalisierung. Der daraus resultierende Rückgang des Nominallohndrucks senkte die Inflation, aber auch die aggregierte Nachfrage, was zur Folge hatte, dass die Länder alternative Lösungen für das Problem der Nachfrageknappheit finden mussten.

Die Forschung über Wachstumsmodelle klassifiziert diese Lösungen und strebt nach Einsichten in die Determinanten und Implikationen über unterschiedliche Politikfelder hinweg (die bisher umfassendste Darstellung ist Baccaro et al. 2022). Die USA und Großbritannien stehen für die Aktivierung des Kreditkanals: Die Nachfrage wurde über die Begünstigung der Privatverschuldung stabilisiert (von Crouch 2009 als „privatisierter Keynesianismus“ bezeichnet). Die deutsche Lösung unterscheidet sich hiervon erheblich, denn Deutschland schöpft seine Wachstumsimpulse seit den 1990er-Jahren, insbesondere aber seit der Einführung des Euro vor allem aus der ausländischen Nachfrage (exportgetriebenes Wachstum). Für große Länder mit typischerweise im Vergleich zur Binnenwirtschaft kleinen Exportsektoren ist das eine ungewöhnliche Konstellation. Österreich repräsentiert ein ausbalanciertes Wachstumsmodell: Die Wachstumsimpulse stammen in ungefähr gleichem Umfang aus der Binnen- und der Exportnachfrage. Zudem ist möglich, dass es Ländern nicht gelingt, das Problem der Nachfrageknappheit einer stabilen Lösung zuzuführen. Hierfür steht Baccaro und Pontusson (2016) zufolge Italien seit Einführung des Euro.

Greifen wir das deutsche Beispiel heraus: Welche Eigenschaften und kausalen Mechanismen machen Deutschland zu einem exportorientierten Wachstumsmodell? Als entscheidend hierfür sehen Vertreter des Ansatzes die Fähigkeit von Ländern an, ihren realen effektiven Wechselkurs über längere Zeiträume in eine Unterbewertungskonstellation zu manövrieren. Hierfür ist zweierlei notwendig: Inflationszurückhaltung gegenüber den Handelspartnern sowie ein Wechselkursregime, das Wechselkursanpassungen entweder minimiert und verzögert oder aber – wie der Euro, unter dessen Teilnehmern es keine nominalen Wechselkurskorrekturen mehr gibt – sogar gänzlich unterbindet. Aber wie und warum bringt Deutschland niedrigere Inflationsraten hervor als vergleichbare Länder (grundlegend zu den politisch-institutionellen Determinanten der Inflation: Busch 1995)? In Deutschland, so der Befund, kumulieren und verschränken sich inflationsminimierende Institutionen und Praktiken, vor allem: Institutionen der Lohnaushandlung, die sich besonders zur Durchsetzung von Lohnzurückhaltungsstrategien eignen; ein Fiskalföderalismus mit nur sehr begrenzten Steuerschöpfungs- und Verschuldungsmöglichkeiten der unteren Einheiten, der nicht nur für eine moderate Finanzpolitik, sondern auch für steten Druck auf die Löhne öffentlicher Beschäftigter sorgt (zu letzterem Di Carlo 2020); und eine im internationalen Vergleich strenge Kreditregulierung, die die Verschuldung privater Haushalte in engeren Grenzen hält.

Diese Merkmale sind für das Wachstum zunächst einmal nachteilig, weil sie die Binnenkonjunktur hemmen und namentlich unterentwickelte Dienstleistungssektoren und Bausektoren hervorbringen. Vor dem Hintergrund fester Wechselkurse sind sie für den Exportsektor aber vorteilhaft, weil sie die vom Binnensektor ausgehenden Inflationsimpulse in engen Grenzen halten und den Exporten so einen dauerhaften, mittels Wechselkursanpassungen nicht mehr korrigierbaren Wettbewerbsvorteil verschaffen. So gelingt es im Ergebnis, Nachfrage aus dem Ausland abzuschöpfen. Der Übergang in ein exportgetriebenes Wachstumsmodell vollzog sich in Deutschland, Baccaro und Höpner (2022) zufolge, nach dem Ende des Vereinigungsbooms der frühen 1990er-Jahre und erfuhr während der ersten zehn Eurojahre eine weitere Radikalisierung. Die outcomes waren sowohl im internationalen Vergleich als auch im Zeitvergleich beispiellos: Zwischen 1999 (dem Jahr der Euro-Einführung) und 2008 (dem Jahr des Lehmann-Schocks) wuchs der deutsche Exportsektor von 27 % des BIP auf 44 % des BIP, und die Wachstumsimpulse kamen fast ausschließlich aus dem Exportsektor. Damit trug Deutschland erheblich zur Entstehung der innereuropäischen makroökonomischen Ungleichgewichte bei, die dann schließlich in die Eurokrise der Jahre 2010–2012 mündeten. Erst in der zweiten Hälfte der zweiten Euro-Dekade setzte eine gewisse Normalisierung des deutschen Wachstumsmusters ein und die aus dem Binnensektor generierten Wachstumsbeiträge wuchsen.

Worauf es hier ankommen soll, sind aber nicht die empirischen Einzelheiten zu Deutschland. Bemerkenswert ist vielmehr, wie die Forschung über Wachstumsmodelle durch Übernahme von Konzepten wie der institutionellen Komplementarität erkennbar im „Spielarten des Kapitalismus“-Ansatz wurzelt und in Auseinandersetzung mit diesem entstand, sich von diesem aber dergestalt „emanzipiert“ hat, dass sie inzwischen als eigenständige, aber eng verwandte Theorieschule klassifiziert werden sollte.

4 Fazit: Vom Nutzen enger Theorien

In diesem Kapitel haben wir „Spielarten des Kapitalismus“ als einen jener Theorieansätze kennengelernt, die im Rahmen der Policy-Forschung zur Ableitung von Hypothesen genutzt werden können. Das bedeutet konkret: Wer – beispielsweise mit einem ländervergleichenden Untersuchungsdesign – die Bandbreite möglicher Erklärungen für eine bestimmte Ausprägung von Staatstätigkeit erfassen möchte, der sollte berücksichtigen, dass die beobachteten Länder nicht nur über jeweils spezifische sozioökonomische Entwicklungsstände verfügen, in unterschiedlichem Maße europäisiert und internationalisiert sind, von bestimmten Parteien regiert werden, eine bestimmte Struktur und Stärke von Interessensgruppen aufweisen und über ein spezifisches politisches System verfügen (für jedes Glied dieser Aufzählung steht ein Theorieansatz im Sinne dieses Bandes). Er oder sie sollte auch beachten, dass die betrachteten Länder über unterschiedliche Produktionsregime verfügen, mit jeweils eigenen Logiken des Zusammenwirkens der produktionsbezogenen Institutionen und spezifischen Wettbewerbsvorteilen auf den internationalen Märkten. Denn diese Merkmale können Auswirkungen auf die Politikgestaltung entfalten, die von keinem der anderen Theorieansätze erfasst werden.

Wir haben auch gesehen, dass Policy-Forscherinnen und -Forscher ein spezifisches Theoriebedürfnis aufweisen. Sie müssen in der Regel mehr als eine Theorie konsultieren, um aus ihnen Hypothesen abzuleiten.Footnote 14 Was für eine Struktur sollte ein für diesen Zweck einsetzbarer Theorieansatz idealerweise haben? Er sollte so eng und präzise gefasst sein, dass sich die Hypothesen, die aus ihm folgen, deutlich von anderen abgeleiteten Hypothesen unterscheiden. Im besten Fall also gibt die Theorie nicht nur Auskunft darüber, welche Art empirischer Phänomene und möglicher Kausalitäten das Forschersubjekt besonders beachten sollte, sondern auch darüber, welche Elemente der Empirie im Lichte der Theorie nicht relevant sind und daher in den Zuständigkeitsbereich anderer Theorien fallen. Aus Sicht des Policy-Forschers hat eine gute Theorie Einsicht in ihre eigenen Grenzen.

In dieser Hinsicht macht die „Spielarten des Kapitalismus“-Theorie es der Policy-Forschung nicht immer leicht. In der ursprünglichen Darstellung von Hall und Soskice (2001) war der Theorieansatz noch vergleichsweise eng gefasst. In der nachfolgenden Theoriediskussion wurden aber immer mehr Elemente in die Theorie integriert, so dass sie sich immer mehr einem allgemeinen Analyserahmen annäherte. Auch solche Analyserahmen haben eine wichtige Funktion. Aber die Ableitung klarer, distinkter Hypothesen wird durch die unklare Grenze zwischen Zuständigkeit und Umwelt der Theorie erschwert. Meine Empfehlung an die Nutzerinnen und Nutzer der Theorie lautet deshalb, in zwei Schritten zu verfahren. In einem ersten Schritt sollte „Spielarten des Kapitalismus“ eng verstanden werden, um die Ableitbarkeit sinnvoller Hypothesen zum Forschungspuzzle zu überprüfen. In einem zweiten Schritt kann dann geprüft werden, ob spezielle Erweiterungen des Forschungsansatzes existieren, die auf das Forschungsproblem zugeschnitten sind, und ob aus ihnen zusätzliche Hypothesen folgen. Aber auch ohne eigene Forschungstätigkeit lohnt es, den distinkten Kern des Theorieansatzes und Grundzüge der an ihn anknüpfenden Theoriedebatte zu erfassen: Die „Spielarten-des-Kapitalismus“-Debatte ist hochgradig faszinierend.