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Geschichte Polnisch-Sowjetischer Krieg

Ein Wunder ließ Polen über die Rote Armee triumphieren

Der Versuch der neu gegründeten Republik Polen, weite Teile Russlands zu vereinnahmen, drohte im August 1920 in einer Katastrophe zu enden. Doch an der Weichsel gelang eine überraschende Wende.
Freier Autor Geschichte
Bolshevik Russia attempts to seize the new republic of Poland, but the Poles fight for their independence with patriotic fervour : Russian prisoners and their captors. Date: 1920 (Mary Evans Picture Library) | Nur für redaktionelle Verwendung., Keine Weitergabe an Wiederverkäufer. Bolshevik Russia attempts to seize the new republic of Poland, but the Poles fight for their independence with patriotic fervour : Russian prisoners and their captors. Date: 1920 (Mary Evans Picture Library) | Nur für redaktionelle Verwendung., Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
Polnische Soldaten mit russischen Gefangenen
Quelle: picture-alliance / Mary Evans Pi

Ironie zu erkennen ist bekanntlich eine Eigenschaft, die nicht jedem gegeben ist. Daher brandete Beifall auf, als der Abgeordnete Stanislaw Stronski im polnischen Parlament, dem Sejm, die erfolgreiche polnische Offensive im August 1920 gegen die Rote Armee als „Wunder an der Weichsel“ bezeichnete. Das sollte einen bissigen Unterton zu dem „ukrainischen Abenteuer“ liefern, in das der Staatschef und Generalissimus Józef Pilsudski mit seinem Vormarsch nach Osten seit April Polen geführt hatte und das Stronski nun geißelte. Aber Pilsudskis Anhänger im Sejm verstanden keine Ironie. Und so wurde das „Wunder an der Weichsel“ zum Ruhmeskapitel in der Wiederauferstehungsgeschichte Polens im 20. Jahrhundert.

WARSAW, POLAND - 13 MAY 1926: Marshal Jozef Pilsudski on Poniatowski Bridge in Warsaw, shortly before a meeting with President Stanislaw Wojciechowski, during the May Coup d'Etat. Warsaw, Poland, 13th May 1926. Pictured from the left: Kazimierz Stamirowski, Marian Zebrowski, Gustaw Orlicz-Dreszer, Jozef Pilsudski, Wladyslaw Jaroszewicz i Michal Galinski, on the street senior watchman Wojcik. (Photo by Laski Diffusion/East News/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Józef Pilsudski (M.; 1867-1935) mit seinem Stab
Quelle: Getty Images

Am 11. November 1918, an dem Tag, an dem das Deutsche Reich in Compiègne den Waffenstillstand mit der Entente unterzeichnete, hatte Pilsudski als „vorläufiges Staatsoberhaupt“ die Macht in Polen übernommen. Ein Monat zuvor hatte der Regentschaftsrat in Warschau einen unabhängigen Staat proklamiert und damit die 123 Jahre währende Zeit der Unterdrückung beendet, in der Polen unter Russland, Österreich und Preußen beziehungsweise Deutschland aufgeteilt gewesen war.

Die drei Teilungen Polens 1772-1795

Um ihre Streitigkeiten nicht in Kriegen gegeneinander auszutragen, verfielen Russland, Österreich und Preußen Ende des 18. Jahrhunderts auf eine Idee: Sie teilten das Königreich Polen unter sich auf.

Quelle: WELT

Doch was war Polen, wo lagen seine Grenzen? Den einen schwebte eine Renaissance des alten Reichs der Piasten vor, zu dem Schlesien und andere Teile des Deutschen Reiches gehört hatten. Andere träumten von der Wiedererstehung des Imperiums der Jagiellonen und der Union mit Litauen, das sich weit ins Baltikum, nach Weißrussland und in die Ukraine bis zum Schwarzen Meer erstreckt hatte. Entsprechend breit gespannt waren die Forderungen, mit denen Polen auf der Friedenskonferenz von Versailles auftrat.

Ein Vorrücken der Grenze nach Westen, das auch dem französischen Konzept eines breiten „Cordon Sanitaire“ zwischen Deutschland und Sowjetrussland entsprochen hätte, scheiterte am Einspruch Englands. In London wollte man Deutschland als mögliches Bollwerk gegen die Bolschewiki erhalten. Das war durchaus im Sinn Pilsudskis und seiner Anhänger. Sie träumten von einer Wiederherstellung Polens in den Grenzen des 17. Jahrhunderts.

WARSAW, POLAND - 22 JANUARY 1920: A decoration with the War Order of Virtuti Militari on the Saski Square in Warsaw, on 22nd January 1920. On the left: the Order Committee with Marshal Jozef Pilsudski at the front, behind him general Waclaw Iwaszkiewicz, on the left general Jozef Haller. (Photo by Laski Diffusion/East News/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Pilsudski bei einer Parade im Januar 1920
Quelle: Getty Images

Der Bürgerkrieg, der Russland erschütterte, bot die Chance dazu. Seit 1918 kämpfte Lenins Regime gegen die Armeen der Weißen und Expeditionskorps verschiedener Großmächte um seine Existenz. Pilsudski nutzte das Machtvakuum, das der Rückzug der deutschen und österreichischen Truppen aus dem Osten hinterlassen hatte, und begann, die Grenze schrittweise nach Osten vorzuschieben, wobei es wiederholt zu Kämpfen mit sowjetischen Truppen kam. Als klar wurde, dass die Rote Armee im Bürgerkrieg siegen würde, schlug er zu. Am 25. April 1920 eröffneten polnische Armeen eine Großoffensive, wobei die Warnungen des Obersten Rats der Entente (England, Frankreich, Italien, Belgien, Japan) geflissentlich übersehen wurden.

Bereits am 7. Mai war mit Kiew die Metropole der Ukraine in polnischer Hand. Doch den Polen sollte es kaum besser ergehen als den Griechen, die zur gleichen Zeit mit wohlwollender Duldung durch die Siegermächte ihren Anteil am Osmanischen Reich zu gewinnen suchten. Die Logistik in den straßenlosen, zudem vom Krieg verwüsteten Weiten des Ostens brach zusammen. Zwar waren die polnischen Truppen hoch motiviert, und viele Soldaten hatten im Ersten Weltkrieg auf verschiedenen Seiten Kampferfahrung sammeln können. Aber sie mussten mit einem Sammelsurium an Waffen kämpfen und hatten oft nicht einmal Schuhe an den Füßen.

Curzon-Linie und polnische Landgewinne durch Krieg und Verträge 1919 bis 1922
Curzon-Linie und polnische Landgewinne durch Krieg und Verträge 1919 bis 1922
Quelle: Wikipedia/r Webcyss/CC BY-SA 4.0

Auf der anderen Seite hatte die von Leo Trotzki organisierte Rote Armee unter großen Opfern den Bürgerkrieg bestanden und war zu einem hochgerüsteten Kampfinstrument geworden, das auch von einer ideologischen Sendung angetrieben wurde. „Im Westen entscheidet sich das Schicksal der Weltrevolution; über den Leichnam Polens führt der Weg zum allgemeinen Weltbrand“, hatte der ehemalige zarische Oberleutnant und nun Oberbefehlshaber Michail Tuchatschewski der Westfront als Tagesbefehl am 2. Juli ausgegeben. Damit begann die sowjetische Gegenoffensive.

Die polnische Front brach zusammen. In ihrer Not bat die polnische Regierung den Ententerat um Hilfe. Der verwies auf die Demarkationslinie am Bug, die der damalige britische Außenminister George Curzon im Dezember 1919 als Ostgrenze Polens vorgeschlagen hatte, weil bis dort Polnisch die Mehrheitssprache war.

The long-drawn out battle of the Vistula ends in a crushing defeat of the Red Army by the Poles, seen here posing later in the year with guns taken from the bolsheviks. Date: 13 to 25 August 1920 (Mary Evans Picture Library) | Nur für redaktionelle Verwendung., Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
Eine polnische Batterie während der Gegenoffensive im August 1920
Quelle: picture-alliance / Mary Evans Pi

Doch die Bolschewiki hatten andere Pläne. Für sie war Polen ein letztes Bollwerk, das niedergewalzt werden musste, um die Weltrevolution endlich nach Westen zu exportieren. Ein „Polnisches Revolutionäres Komitee“ unter der Führung des Tscheka-Gründers Felix Dserschinski, der verarmtem polnisch-litauischem Adel entstammte, stand in Bialystok bereit, um die Macht in Polen zu übernehmen. Und mehrere sowjetische Armeen schickten sich an, über die Weichsel zu setzen und die Hauptstadt Warschau in die Zange zu nehmen.

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Da entwickelte Pilsudski einen tollkühnen Plan. Die zum Teil noch desorganisierten polnischen Divisionen sollten sich an und hinter der Weichsel eingraben oder sich so weit zurückziehen, dass ihre Gegner in leere Räume vordringen würden. Auf jeden Fall sollten sie sie ablenken und binden, damit eine „Reservearmee“ in die Lücke stoßen konnte, die zwischen der sowjetischen West- und Südwest-Front klaffte. Diese Truppe bestand aus 20.000 erfahrenen und hoch motivierten Kämpfern, denen sich weitere Divisionen anschließen sollten.

Die französische Militärmission, die inzwischen die polnische Führung beriet, hielt den Plan für Wahnsinn, nicht zuletzt weil Pilsudski zuvor eher als Revolutionär und Politiker denn als Militärführer Erfahrung gesammelt hatte. Auch zahlreiche Kommandeure Pilsudskis äußerten Zweifel, wurden aber von dem Argument überzeugt, dass nur dieses riskante Flankenmanöver den Zusammenbruch der Front verhindern würde.

Und einer unterstützte mit seinen Intrigen unwissentlich die polnischen Pläne: Josef Stalin. Als Politischer Kommissar der Südwestfront wollte er sich gegenüber Lenin profilieren. Auch hasste er die ehemaligen zarischen Offiziere wie Tuchatschewski, die sich der Revolution zur Verfügung gestellt hatten. Daher verzögerte er den Vormarsch der gefürchteten Reiterarmee seines Genossen Semjon Budjonny, eines zarischen Unteroffiziers, der im Bürgerkrieg Karriere gemacht und später zu einem der mächtigsten Paladine Stalins aufsteigen sollte.

Pilsudskis Plan ging auf. Seine Funkaufklärung hatte den sowjetischen Code geknackt. Auch gelang es, Tuchatschewskis Funkverkehr zu stören, sodass die roten Divisionen keine Befehle erhielten, in der polnischen Abwehr verbluteten oder sich fluchtartig zurückzogen. Lenin erkannte, dass ein polnischer Triumph für die Weltrevolution gefährlicher als ein siegreicher Durchbruch ihr förderlich werden würde und schloss in Riga Frieden mit Polen. Polens Grenze wurde 200 bis 300 Kilometer über die Curzon-Linie hinaus nach Osten geschoben.

Der Triumph verlieh Pilsudski einen Nimbus, der ihn bis zu seinem Tod 1935 zum starken Mann Polens machte. Stalin vergaß den Streit mit Tuchatschewski nicht und machte ihm 1937 einen Schauprozess, den der nicht überlebte. Nach dem Pakt, den der rote Diktator im August 1939 mit Hitler geschlossen hatte, ließ er im September 1939 die Rote Armee in Polen einmarschieren. Die Grenze zwischen beiden Diktatoren wurde in etwa die Curzon-Linie. Sie ist bis heute die Ostgrenze Polens.

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