Klassischerweise wird Führung oft mit (patriarchalischen) Heldengeschichten verbunden. Gerade das Thema Nachhaltigkeit ist jedoch nur zu lösen, wenn Führung „auf breiten Schultern“ steht, das heißt in der ganzen Organisation verankert ist. Es geht um das Gesamtsystem des Unternehmens. Dies hat sich auch in unseren Interviews bestätigt.

Hierzu greifen wir einen Begriff auf, der zunächst ungewöhnlich erscheinen mag: „organisationale Führung“. Es geht also nicht nur um die Führungskraft alleine, sondern um Gesamteigenschaften des Unternehmens. Um hierzu praktische Hinweise zu geben, haben wir „Fünf Essentials“ identifiziert (siehe Abb. 4.1), die wir nachfolgend näher beschreiben.

Abb. 4.1
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Die „Fünf Essentials“ der Organisationalen Führung

4.1 Time Span Capacity: Vom Fahren auf Sicht zum Fahren mit Weitblick

Im letzten Kapitel wurden die Konflikte beschrieben, die sich rund um die verschiedenen „Systemzeiten“ ergeben, zu denen es Schnittstellen zur Nachhaltigkeit gibt: Die Börse tickt in Millisekunden, der Ertrag durch die Konsumenten kommt heute, auf Basis der Bedarfe der Saison.

Die Verträge der Manager laufen wenige Jahre, Boni sind jährlich oder quartalsweise getaktet. Die zeitliche Taktung von Anreizstrukturen ist zum Teil problematisch für das Thema Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeitsinvestitionen zeigen sich unter Umständen erst nach vielen Jahren, bei Produktionsanlagen auch erst nach Jahrzehnten (vgl. auch Abb. 4.2).

Abb. 4.2
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Exemplarischer Überblick über unterschiedliche Zeithorizonte

Hier bringen wir die „Time Span Capacity“ (Wikipedia 2023) ins Spiel. Es kann spannend sein, als Unternehmer mit unterschiedlichen Blickwinkeln zu experimentieren und zu schauen, welche Erkenntnisse dies bringt. Dazu setzt man sich bei der Betrachtung verschiedene Hüte auf:

  1. 1.

    Differenzierung innen/außen: Wie schaue ich als Führungskraft auf die Thematik, wie der Mitbewerber? Was sagen die Aktionäre?

  2. 2.

    Differenzierung auf der Zeitschiene: Was würde der Gründer des Familienunternehmens sagen? Was würden Archäologen sagen, die das eigene Firmenarchiv ausgraben?

  3. 3.

    Spielen mit der zeitlichen Perspektive: „Auf welche Brennweite stelle ich mein Zoom-Objektiv in die Zukunft? Zwei bis drei Jahre? Fünfjahresblöcke? Ein Jahrzehnt?“

Wir empfehlen, bei diesen Übungen die „Überlebensfähigkeit des Unternehmens“Footnote 1 immer als Mindestkriterium im Blick zu behalten. Diese Perspektive ist bei Familienunternehmen überdurchschnittlich verbreitet, geht es doch darum, den Betrieb den Kindern und Enkeln eines Tages zu vererben. In ausgewählten Zeiträumen kann das dazu führen, dass die Überlebenskriterien höher als rein ökonomische Erfolgskriterien gewichtet werden. Dies sieht bei Aktiengesellschaften ganz anders aus, da sie immer die Quartalsergebnisse bzw. den Jahresabschluss im Blick halten müssen. Die spannende Frage ist, an welchen Kriterien „Überleben“ gemessen werden kann; was sind hier relevante Einheiten und Zeithorizonte?

Leitfragen zur Time Span Capacity

Wir regen an, in interdisziplinären Teams das eigene Feld aktiv zu erkunden, um für Nachhaltigkeitsentscheidungen den nötigen Weitblick zu bekommen.

  1. 1.

    Welche relevanten Time Spans gibt es in unserem Business im Thema Nachhaltigkeit (z. B. kurzfristige Softwarelösungen, langfristige Strukturinvestitionen)?

  2. 2.

    Welche langfristigen nachhaltigen Handlungserfordernisse sehen wir?

  3. 3.

    Wie korrespondiert dies mit in der Umwelt beobachtbaren ökologischen und ökonomischen Chancen und Risiken?

  4. 4.

    Wie ist es möglich, langfristige Elemente in kurzfristige Steuerungs- und Anreizstrukturen einzubauen und die verschiedenen Zeitebenen in meinem Handeln zu verbinden?

  5. 5.

    Welche Regelungen sind hier hilfreich (z. B. Sonderboni für nachhaltige Produkte)?

  6. 6.

    Welche Zeitperspektive können wir uns als Organisation vorstellen?

  7. 7.

    Wofür habe ich noch ein kräftiges Bild?

Nachdem die Zukunftsbilder entworfen sind, noch Folgendes:

  1. 1.

    Wie lange können wir es aushalten, uns dorthin zu bewegen, ohne dort gewesen zu sein?

  2. 2.

    Wie lange halten wir im Zweifel daran fest, wollwissend das es Rückschläge und Umwege geben wird?

  3. 3.

    Wie weit gelingt es, über meine Generation hinauszudenken?

4.2 Sowohl-als-auch Denken als Balanceakt

Nachhaltigkeitsmanagement stößt immer wieder auf WidersprücheFootnote 2. Es entstehen spannungsreiche Pole, an denen sich die Meinungsbildung orientiert: Gewinn ausschütten oder in eine Solaranlage investieren? Wirtschaftlich optimieren oder technisch? Moralisch oder pragmatisch vorgehen?

Je besser Führungskräfte verstehen, dass es sich um Widersprüche handelt, die sie pro-aktiv angehen können, werden sie handlungsfähiger und kreativer.

Das alte Managementcredo war ganz anders. Klare Positionierungen waren gefordert. Unternehmen sollten beispielsweise entweder auf Kostenführerschaft oder auf Qualität setzen. Sonst drohten Wettbewerbsnachteile.Footnote 3

Offen gesagt: Viele unternehmerisch geführte Betriebe denken da etwas „schlampig“. Sie kombinieren sehr gekonnt das eine mit dem anderen, schaffen neue Verbindungen, sind innovativ und balancieren Widersprüche aus.

Die Pole erzeugen Spannung, machen aber auch Entscheidungsnotwendigkeiten deutlich. Es ist ungünstig, einen von zwei Polen einer Dualität zu optimieren und den anderen zu negieren. Dies ist kein Plädoyer für ein laues „sowohl als auch“. Vielmehr der Hinweis, dass diese Spannungsfelder auch eine Kraftquelle sein können für Neues. Sie können das „Material“ sein, dass dem Betrieb ihre innovative Dynamik gibt.

Beispiel Sowohl-als auch

Der Jahreskongress zum Thema Strategie und Nachhaltigkeit in einem mittelständischen Unternehmen mit 2000 Mitarbeitenden, eine emotional aufgeregte Diskussion. Der Marketingleiter gibt ein klares Statement ab: „Für uns ist das Thema zentral, wir sollten es sofort in den Mittelpunkt stellen.“ Aufgeregt widerspricht der kaufmännische Leiter: „Das können wir gar nicht. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht gefährden wir da das Unternehmen. Und ganz persönlich gesagt, nicht böse sein, ich halte das auch für eine Modeerscheinung.“ Die Sichten prallen aufeinander. Am Ende der drei Tage, nach intensivstem Arbeiten und Diskutieren: Wir gewichten das Thema deutlich neu. Wir setzen klare Schwerpunkte im Rahmen der Dreijahresplanung. Wir halten uns in der Kommunikation noch etwas zurück, aber wollen die Thematik tief in die DNA des Unternehmens verankern.Footnote 4

Ein einfaches Tool für den Balanceakt des „Sowohl‐als‐auch“ ist das Tetralemma (Sparrer und van Kibed 2008). Es hat sich in unserer Arbeit zum aktiven Umgang mit Widersprüchen bewährt und zeigt mögliche Handlungsoptionen auf.

Beispiel Tetralemma für Nachhaltigkeit

Angenommen es besteht die Wahl zwischen einer nachhaltigen Investition und einer Gewinnausschüttung, dann hat der Entscheider grundsätzlich fünf Möglichkeiten:

  1. 1.

    Die nachhaltige Investition,

  2. 2.

    Eine Gewinnausschüttung,

  3. 3.

    Eine Mischlösung, also ein Sowohl-als-auch,

  4. 4.

    Keine der beiden Optionen!

  5. 5.

    Es wird ein ganz anderes Arbeitsfeld angegangen und die bisherigen Optionen verworfen

Die vierte Variante wird oft gewählt, wenn es „eigentlich“ um ein anderes Thema geht. Zum Beispiel könnte es um einen Richtungsstreit zwischen zwei Generationen gehen, bei denen das Thema Nachfolgeplanung ausgetragen wird.

In den meisten Fällen beschäftigt den Unternehmer Variante 3 (Sowohl-als-auch): Wie lassen sich widersprüchliche Möglichkeiten unter einen Hut bringen? Eine gängige Lösung ist der Kompromiss.

Ein Sowohl-als-auch kann eine Lösung auf einer höheren logischen Ebene sein: Der Unternehmer nimmt Abschied von der eindeutigen Entweder‐oder‐Entscheidung. Es entsteht eine neue Sicht. Diese hat oft ein hohes innovatives Potenzial. Eine Gesamtübersicht finden Sie in der folgenden Abbildung (Abb. 4.3).

„Ein erstklassiger Geist zeichnet sich dadurch aus, dass er in der Lage ist, zwei gegensätzliche Ideen in seinem Kopf auszuhalten und trotzdem noch zu funktionieren.“ Scott Fitzgerald

Abb. 4.3
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Handlungsoptionen Tetralemma

4.3 Umgang mit Nichtwissen

Die Unternehmensführung hat den Überblick. Die Leitung entscheidet nach bestem Wissen und Gewissen. Das war das klassische Modell, das seine Gültigkeit in bekannten und vor allem stabilen Märkten hatte. Diese Zeiten sind vorbei.

Nachhaltigkeit führt uns mit all seinen Facetten in unbekanntes Terrain. Dies gilt insbesondere für die Pfade dorthin. Es sind keine ausgetretenen und robusten Wege, die gut ausgeschildert sind. Für den Umgang mit Nichtwissen sind neue Instrumente notwendig. Es muss umgedacht werden.

„…im Umgang mit Nichtwissen zeigt sich der Unterschied zwischen einer lernenden Organisation und einer Statusorganisation.“ Götz Werner, Gründer der DM Drogeriekette (Zeug 2007)

Wollen Führungskräfte nachhaltige Lösungen umsetzen, müssen sie mit ihren Mitarbeitenden innovative und kreative Lösungen entwickeln. Dazu benötigen sie zum Beispiel die Fähigkeit, neue Geschäftsmodelle und Technologien zu identifizieren und einzuführen. Dies erfordert jedoch andere Fähigkeiten, als das Kerngeschäft am Laufen zu halten. Wir unterscheiden beim Umgang mit Nichtwissen daher:

  1. 1.

    Führung im laufenden Betrieb: Risiko und Fehlerkultur pflegen

  2. 2.

    Führung für Innovation: erfordert mehr Freiräume.

Erfolgreiche Unternehmerinnen beherrschen beide Formen der Führung (Beidhändigkeit oder Ambidextrie; „eine feste und eine explorierende Hand“, vgl. O’Reilly und Tushman 2008).

Führung von Nachhaltigkeit im laufenden Betrieb

Im laufenden Betrieb spielt die Erfassung und das Management von Nachhaltigkeitsrisiken eine wichtige Rolle. Warum? Hier sei auf (oft spektakuläre) Pannen verwiesen, die schnell in der Presse erscheinen.Footnote 5 Systematische Maßnahmen zur Vermeidung insb. ökologischer und sozialer Risiken sind schließlich auch gesetzlich gefordert.

An dieser Stelle gibt es zwei grundlegende Herangehensweisen, die sich nur bis zu einem gewissen Grad ergänzen: Einerseits Risiken über klare Anleitungen und Checklisten auszuschließen. Eine andere Möglichkeit ist es, die Mitarbeitenden zu sensibilisieren und deren Expertise zu fördern. Durch eine höhere Selbstorganisation können sie dann eigenständiger mit den Risiken umgehen.

In diesem Kontext lohnt ein Blick auf den Organisationstypus „High Reliability Organisationen (HRO)“. Dies sind Unternehmen in risikobehafteten Branchen, die sich durch ein Höchstmaß an Zuverlässigkeit auszeichnen und jederzeit damit rechnen müssen, mit unerwarteten Ereignissen konfrontiert zu werden. Dies ist auch für viele technologieorientierte Mittelständler relevant (Weick und Sutcliffe 2008).

Was können Mittelständler von HRO-Organisationen lernen?

  • Kultivierung unterschiedlicher Perspektiven (z. B. Vier-Augen-Prinzip, kein Tunnelblick);

  • Auf schwache Signale für Abweichungen im operativen Geschäft achten;

  • Motiviert sein, Abweichungen und Fehler zu melden; Schuldzuweisungen vermeiden

  • Fehler als potenzielle Symptome für größere systemische Fehler betrachten;

  • Offener und ehrliches Austausch über Fehler, Abweichung, Beinahe-Vorfälle

  • Robuste organisatorische, personelle, finanzielle Puffer aufbauen

Führung für Innovation von Nachhaltigkeit

Was ist hingegen bei der Führung für Innovation zu berücksichtigen? Hier gilt es, aus etablierten Denkstrukturen herauszukommen. Neugierde ist das Wichtigste. Dies bedeutet wiederum: Offenheit für das Thema Nachhaltigkeit, sich darauf einzulassen, mit dem Thema zu „spielen“. Aus der Komfortzone des Denkens herausgehen, auch wenn einige spinnerte Ideen herauskommen, die man dann nicht umsetzt.

Zur spielerischen Neugier gehört die Fähigkeit das Alte, das Vertraute neu zu sehen, alternative Perspektiven einzunehmen und im scheinbaren Bekannten neue Möglichkeiten zu entdecken. Dazu braucht es eine gesunde Balance zwischen Neugier und Erfahrung, zwischen dem Erforschten und dem Unerforschten. Führungskräfte müssen lernen, wieder zu staunen, sich vorwärts zu tasten, auf sich zu hören und den Kontrollverlust zu akzeptieren

Vor allem sei betont: das geht nicht unter Stress, der hirnphysiologisch jegliche Kreativität verzwergen lässt. Auch deswegen ist es ratsam, die gesetzlichen Fristen bei der Nachhaltigkeitsberichterstattung nicht bis auf das Letzte auszureizen.

Das „Entlernen“ (engl. unlearning), also das „heraus Führen“ aus alten Routinen, ist eine größere Herausforderung als das Lernen. Unsere Denkweisen und Routinen sind tief in eingeschliffenen Strukturen sowie unserem (auch organisationalen!) Gedächtnis verankert.

Für den Veränderungsprozess ist es wichtig, die bisherigen Routinen, die sich lange bewährt haben, wertzuschätzen. Für Veränderung braucht es weiterhin eine konstruktive Unzufriedenheit und ab und zu auch einen externen Blick, sei es über kollegiale Formen des Austausches oder neue Mitarbeiterende.

Unsere Interviewpartner brachten weitere Impulse ein: „Mitarbeiter muss man überzeugen. Wenn es nur nach Befehl und Gehorsam geht, wird es nicht funktionieren. Mitarbeiter muss man abholen, deren Sorgen muss man adressieren. Sie sind ja oft sehr loyal und versuchen das eigene Unternehmen vor irgendwelchen spinnerten Ideen zu schützen. Das ist lobenswert. Wenn man selbst überzeugt ist, dass man eine vernünftige Idee hat, kommt man letztlich tatsächlich nur zusammen, wenn man die Argumente gelten lässt und in der Sache überzeugen kann. Sonst wird es nichts.“

Für das Finden neuer Lösungen erweist sich die Methode des ergebnisoffenen Experimentierens oft als zielführend. Sie widerspricht der klassischen Logik („erst Denken, dann umsetzen, dann läuft alles nach Plan“ oder „plan, build, run“). Im Alltag stellen wir oft das Gegenteil fest: Experimentieren ist wie Radfahren. Man lernt durch Übung. So sieht unternehmerisches Tun oft in der Praxis aus. Das Vorgehen, das wird dann schamhaft verschwiegen, widerspricht der klassischen Rationalitätslogik. Dies zeigen auch neuere Forschungsergebnisse (Sarashathy 2009, Faschingbauer 2021).Footnote 6

Gelingende Führung angesichts Komplexität und Unvollständigkeit heißt

  • kritisch denken;

  • konstruktiv zweifeln;

  • andere Fragen stellen;

  • mutig eigene (und zum Teil verrückte) Wege gehen!

Wie sieht das in Ihrer Organisation aus?

4.4 Vernetztes und integratives Denken und Handeln

Zunächst wird es etwas trocken: Die von der Europäischen Kommission verabschiedeten Leitlinien für die Nachhaltigkeitsberichterstattung ESRS erfordern eine „Wesentlichkeitsanalyse“ (ESRS 2023, § 9 A). Klassische Stakeholder-Analysen und -befragungen reichen nicht mehr aus. Unternehmen sollen sich externen Anspruchsgruppen gegenüber öffnen und einen Dialog beginnen (siehe nachfolgender Überblick zur Wesentlichkeitsanalyse). Relevante Anspruchsgruppen sind z. B. Kunden, lokale Kommunalverwaltungen, Mitbewerber oder auch Bürgerinitiativen. Gleichzeitig gilt es, die bestehenden Funktionsbereiche (Einkauf, Vertrieb, Produktion etc.) an Bord zu behalten und in den Dialog einzubeziehen. Dadurch erhöht sich die Perspektivenvielfalt, die schon im Unternehmen eine Herausforderung sein kann.

Wesentlichkeitsanalyse

Im Rahmen der Wesentlichkeitsanalyse prüfen Unternehmen, welche Nachhaltigkeitsbereiche relevant (wesentlich) für die Nachhaltigkeitsberichterstattung sind.Footnote 7 Für manche Unternehmen ist das Thema „Biodiversität“ wesentlich, für andere hingegen nicht. Alternativ für „Wesentlichkeit“ wird der englische Begriff „Materialität“ (materiality) aus der angloamerikanischen Rechnungslegung verwendet.

Die Prüffrage für die Aufnahme einzelner Nachhaltigkeitsbereiche in der Berichterstattung ist: „Welche ökologischen, sozialen und Governance betreffenden Wirkungen sind für uns wesentlich?“

Es sind zwei Perspektiven zu berücksichtigen (daher der Begriff „Doppelte Materialität“):

  • Bei der „Inside-Out Perspektive“ prüfen Unternehmen, welche Auswirkungen („impact“) der Betrieb auf die Nachhaltigkeitsbereiche hat. Dabei gibt es reale und mögliche Auswirkungen, die schädlich oder vorteilhaft sein können.

  • Bei der „Outside-In-Perspektive“ wird gefragt, wie sich die Nachhaltigkeitsbereiche auf die Unternehmensfinanzen sowie das Geschäftsmodell auswirken. Dabei wird auch von „finanzieller Wesentlichkeit“ gesprochen.

Über den Dialog mit den internen und externen Anspruchsgruppen hinaus sind im Rahmen der Analysen auch ökologische und gesellschaftliche Wechselwirkungen zu prüfen. Es wird deutlich, dass ganzheitliche Instrumente des Komplexitätsmanagements im Unternehmen notwendig werden. Die Grundlage hierfür ist: vernetztes und integratives Denken und Handeln.

Vernetztes Denken beinhaltet ein Denken in Kreisläufen (vergleiche auch Abb. 4.4). Dies gilt besonders anschaulich für die Kreislaufwirtschaft (Circular Economy), bei der Energie und Materialkreisläufe durch Wiederverwendung so weit wie möglich geschlossen werden. Peter Senge (z. B. Senge 1990) zeigte auf, wie wichtig vernetzte und nicht-lineare Dynamiken für Unternehmen sind. Hat man Wechselwirkungen und Rückkopplungsprozesse im Blick, können interne und externe strategische Entwicklungen besser vorhergesehen und frühzeitig beeinflusst werden.

Abb. 4.4
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Vernetztes Denken hilft Rückkopplungen zu antizipieren

Frühe Ansätze und Werkzeuge des vernetzten Denkens unter dem Begriff Ganzheitlichkeit (Vester 1999) sind dabei aus dem Blickfeld geraten. Er wurde teilweise durch einen Ökosystemansatz ersetzt (Dürr 2011).

Das systemische Denken und Handeln kann Ihnen helfen, ökonomische, soziale und ökologische Prozesse über die eigenen Unternehmensgrenzen hinaus systematisch zu erfassen. Eine grundlegende Einsicht dabei ist, das lebendige (also ökologische und soziale) Systeme und Umwelten niemals nach linearen Prinzipien funktionieren. Dies ist für die Planung der Nachhaltigkeitsstrategie von Bedeutung.

Nachhaltigkeit orientiert sich am Paradigma des Lebendigen. Nachhaltigkeit bedeutet nichts anderes als die Unterstützung der allgemeinen dynamischen Lebensprozesse, d. h. ihrer Vitalität, Produktivität, Robustheit, Elastizität und Resilienz. Werden diese Prinzipien zur Orientierung bei der Anwendung der Analyse- und Planungstools angelegt, so können sich ganz neue Perspektiven ergeben.

Praxisimpulse für vernetztes und integratives Wirtschaften

  1. 1.

    Für ein ganzheitliches Verständnis Ihrer aktuellen Unternehmenssituation sowie der möglichen nachhaltigen Entwicklungspfade empfehlen wir eine systemische Analyse:

    • Schauen Sie, wie interne und externe Prozesse zusammenhängen, gerade auch über die Grenzen der klassischen (wissenschaftlichen) Disziplinen und betrieblichen Funktionsbereiche.

    • Visualisieren Sie Ihre Anspruchsgruppen (Stakeholder-Analyse), Wechselwirkungen und Rückkopplungen.

    • Erweitern Sie die zeitliche Achse – was passiert nach dem Verkaufsabschluss? Welche Möglichkeiten neuer, ganzheitlicher Prozesse ergibt sich, gerade auch im Hinblick auf Kreislaufwirtschaft? Nehmen Sie vorgelagerte Prozesse in den Blick (Sourcing, Beschaffung, Entwicklung; Design…).

    • Verwenden Sie systemische Instrumente und Tools zur Prüfung, aber auch der Planung Ihrer Nachhaltigkeitsstrategie. Eine prägnante und hilfreiche Einführung findet sich bei Rat für Nachhaltigkeit, 2020 sowie Güthler 2020.

  2. 2.

    Prüfen Sie, welche ausgewählten Mitarbeitenden das Thema vernetztes und integratives Denken im Betrieb voranbringen können, auch als Multiplikator für die Belegschaft sowie als Experte für das Nachhaltigkeitsteam.

  3. 3.

    Schaffen Sie neue Routinen für die laufende Beobachtung externer Trends, Meldungen und Stimmungen in einer immer vielfältigeren Öffentlichkeit im Bereich der Nachhaltigkeit. Hierdurch bekommen Sie wichtige Signale auch für Rückkopplungsprozesse im Rahmen der Doppelten Materialität.

  4. 4.

    Berücksichtigen Sie die Erkenntnisse im Rahmen Ihres Wissensmanagements.

4.5 Robuste Agilität gewährleisten

Bilanzielle Solidität, gute Eigenkapitalausstattung, geringe Abhängigkeit von Banken, das sind oft genannte Punkte, wenn es um Krisenfestigkeit im Mittelstand geht. Aber reicht das aus?

Die ökologische Transformation verlangt längerfristige Investitionen. Kurzfristige politische Kursänderungen führen jedoch dazu, dass es keine stabilen und konsistenten Rahmenbedingungen mehr gibt. Eine klare Orientierung wurde in den letzten Jahren auch aufgrund von Klimaereignissen und geopolitischen Konflikten schwerer. Wurde z. B. vor Jahren noch auf den Energieträger Gas gesetzt, ist das heute unter Klimaschutzgesichtspunkten fragwürdig und teuer.

Darüber hinaus gibt es Moden, die sich marktgetrieben abwechseln. War vor einigen Jahren das E-Auto und die Brennstoffzelle noch gehypt, traten einige Zeit später Wärmepumpen auf die Empfehlungsliste.

Es ist damit zu rechnen, dass die zyklischen Ausschläge und Umbrüche in der Zukunft zunehmen werden. Kaum ein Steuerungskonzept hat in den letzten Jahren für mehr für Schlagzeilen gesorgt als „Agilität.“ Auch im Bereich der Nachhaltigkeit, mit steigendem Veränderungsdruck, wird Agilität häufig als wichtige Kompetenz genannt, um mit den ständigen Kurswechseln, Moden, Konflikten etc. umgehen zu können.

Agile Ansätze führten jedoch nicht immer zu nachhaltigen Ergebnissen. Vielfach gab es nach der Phase der ersten Euphorie Frustrationen über das Ausbleiben schneller Erfolge. In gut und aktiv geführten Mittelstandsunternehmen führte das zu Aussagen wie: „Merkwürdig, vieles davon ist bei uns tief in der Kultur verankert und ist Garant für unseren langjährigen Erfolg.“ (Rachlitz et al. 2021)

Gerade in turbulenten Märkten haben wir häufig eine erfolgreiche Spielart familiengeführter Unternehmen gefunden. Die soziale Dimension der Familien-DNA mit Werten wie z. B. Bindung, Vertrauen, Spielraum, Lernen und Leistung wird dort durch die Idee der „Enkelfähigkeit“ ergänzt, die sich auf eine nachhaltige und langfristige Orientierung richtet.

Hilfreich kann es auch sein, sich an klassische Stärken des Mittelstands zu erinnern: seine Aversion gegen normierte Effizienz, eine kritische Haltung gegenüber Gleichmacherei, Vereinheitlichung, Standardisierung. Die Gründergeneration wie die Nachfolgerinnen fanden oft ihren eigenen Weg – wenn auch mit Ecken und Kanten.

Was in unserer Zeit und in Zukunft neben Agilität als ergänzende Qualität in der hohen Veränderungsdynamik sinnvoll ist, ist ein zweiter Begriff: Robustheit, oft auch als Resilienz bezeichnet.

Robustheit bedeutet die Belastbarkeit eines Systems und Elastizität bei Störungen von außen. In der Technik versteht man unter dem Begriff, die Fähigkeit einer Unternehmung, überraschende Störungen und Schocks selbst regulierend abzufedern, sodass die Vitalität und Lebenskraft des Systems erhalten bleibt. Es geht also um die Widerstandsfähigkeit gegenüber Unerwartetem und die Fähigkeit zur Krisenbewältigung, unter Nutzung eigener Ressourcen.

Die Kombination von Agilität und Robustheit ermöglicht es Organisationen, es in jeder Wetterlage mit unterschiedlichen Herausforderungen aufzunehmen, handlungsfähig zu bleiben.

Robustheit entwickelt sich aus dem Wissen um die eigenen Kompetenzen, um Selbstvertrauen, Zuversicht und verwurzelte Gelassenheit. Sie ist der Nährboden für Kreativität und Innovation. Für ein wirklich nachhaltiges Unternehmen ist Agilität nicht nur eine Methode des Projektmanagements, sondern das Unternehmen selbst wird agil.

Denkanstöße für den einen eigenen Weg mit „Ecken und Kanten“, passend zur Branche

  • Puffer vorsehen (Cyert und March 1992),

  • Aversion gegen normierte Effizienz, eine kritische Haltung gegenüber Gleichmacherei, Standardisierung (Gefahr von Scheinsicherheiten!),

  • Mit hohem Tempo flexibel arbeiten, „Intervall-Sprints ohne Panik!“,

  • Routinen und Gewohnheiten optimieren, Ballast abwerfen, Prozesse digitalisieren,

  • Koordinationsverfahren und Entscheidungsprozesse vereinfachen, Meetings optimieren, also Bürokratie soweit möglich vermeiden,

  • Risiko und Chancen-Kultur bis hin zur Frage: „Was ist das Glück im Unglück?“.