1 Menschliche und/oder personale Identität?

Der Begriff der Identität fokussiert die Frage nach dem Menschen auf zwei miteinander verschränkten Ebenen: die der Gattung (‚Wer oder was ist der Mensch?‘) einerseits und die des Individuums (‚Wer oder was bin ich?‘) andererseits (Nunner-Winkler 2009: 353). Als eine Art Grundbegriff ist er nicht nur in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen und Veröffentlichungen gegenwärtig (vgl. Straub 2004: 277). Er bietet auch ein gutes Beispiel dafür, wie Begriffe mit philosophischem Hintergrund breiten Eingang in das Alltagsdenken findenFootnote 1 – und auch umgekehrt. Durchaus als Folge dessen anzusehen sind die vielen unterschiedlichen Verwendungsweisen und die damit verbundene semantische Vagheit bzw. Vieldeutigkeit des Begriffs.Footnote 2 Niethammer verweist in diesem Kontext auf Uwe Pörksens Plastikwörter – „einen Bausatz von semantischen Molusken, die alles und nichts bedeuten, aber wissenschaftlich klingen“ (Niethammer 2000: 33) –, zu denen auch der Begriff der Identität gezählt wird.Footnote 3 Hinzu kommt eine enge Beziehung zu bzw. Überschneidung mit den Begriffen ‚Ich‘, ‚Selbst‘, ‚Subjekt‘, ‚Eigenes‘ etc. Dabei besteht immer auch die Gefahr, den Identitätsbegriff substanziell aufzufassen. Eine – wie auch immer geartete – feste Bestimmung personaler Identität ist mit zwei problematischen Folgen verbunden: Einerseits kann sie aufgefasst werden als den Menschen unzulässig vereinseitigende und vereinheitlichende Fest-Stellung auf bestimmte notwendige Eigenschaften; andererseits – und dies auch durchaus als Folge der definitorischen Fest-Stellung(en) – kann sie als normative Verpflichtung auf einen bestimmten zu erreichenden Zielzustand hin missverstanden werden. Eine substanzielle Bestimmung der personalen (wie auch der kollektiven) Identität des Menschen wäre demzufolge gekennzeichnet durch eine semantische Doppeldeutigkeit: der (definitorischen) Bestimmung von etwas und der (teleologischen) Bestimmung zu etwas.Footnote 4

Damit befindet sich der Begriff der Identität ebenso wie der Begriff des Menschen in einem Spannungsfeld zwischen Deskriptivität und Normativität. Denn eine Definition des jeweiligen Begriffs kann und wird immer auch als Vergleichsgröße mit dem Ist-Zustand der gesellschaftlich vorgefundenen Situation des Menschen benutzt. Diese Definition dient dann, gerechtfertigt dadurch, dass sie der ‚Natur des Menschen‘ entspreche, als Norm-Zustand, der mit dem Ist-Zustand verglichen wird und dadurch zu einem Ziel-Zustand wird: Der Mensch ist zu dem und dem bestimmt, und dieses und jenes entspricht nicht seiner Bestimmung. Somit wird die Definition (oder ‚Eigentlichkeit‘) des Menschen gleichzeitig zu einem Sollwert erklärt, der aus der historisch-konkreten Situation der ‚Entfremdung‘ innerhalb der Gesellschaft hinausführen soll: So und nicht anders hat der Mensch zu sein und zu leben. Grundlegend, um überhaupt von ‚Entfremdung‘ sprechen zu können, ist also folgendes formale Prinzip: Man muss über einen Begriff des Eigenen, das sich im Wesen des Menschen zeigt, verfügen (sprich: die Bestimmung des Menschen), um das Fremde und Andersartige am Menschen feststellen zu können.Footnote 5 Diese Argumentationsfigur lässt sich von der allgemeinen anthropologischen Ebene ebenso auf die individuell-konkrete Ebene der personalen Identität übertragen. Beide Ebenen stehen in einer Wechselwirkung zueinander und bedingen sich gegenseitig.Footnote 6

Dieses doppelte Problem – semantische Vagheit auf der einen, normative Fest-Stellungen auf der anderen Seite – kann wiederum zu der Schlussfolgerung führen, dass der Begriff der Identität – da er mehr verschleiert als enthüllt, da er mehr fordert als gibt – im wissenschaftlichen Diskurs unbrauchbar sei.Footnote 7 In Auseinandersetzung mit Plessner und Ricœur kann dem jedoch eine Alternative entgegengestellt werden. Dabei bietet die plessnersche Bestimmung des Menschen als eines unergründlichen und exzentrischen Lebewesens das formale Prinzip einer offenen Struktur, die sich auf den Bereich der personalen Identität anwenden lässt und verabsolutierenden Fest-Stellungen entgegensteht. Darüber hinaus liefert sie zugleich eine Begründung dafür, dass das Konzept der personalen Identität immer auch als ein dynamisches Konzept gedacht werden muss. Als eine genauere Ausarbeitung und Weiterführung dieser dynamischen Struktur kann schließlich der ricœursche Begriff der narrativen Identität interpretiert werden. (Der Zwang zur) Identitätsbestimmung ist eine konstitutive Ausdrucksform desjenigen Wesens, das in seiner natürlichen Unbestimmbarkeit dazu bestimmt ist, sich selbst mit künstlichen Mitteln zu bestimmen.Footnote 8 Dazu muss es sich sowohl eine Form als auch einen Inhalt geben, die zugleich offen genug sind, um ebenso wieder umgeformt und/oder mit einem anderen Inhalt gefüllt werden zu können. Denn durch seine exzentrische Positionalitätsform lebt der Mensch in einer ständigen Auseinandersetzung mit sich selbst; einer Auseinandersetzung, die einen endgültigen Ruhepunkt (und damit gegebenenfalls auch eine feste und endgültige Identitätssetzung) nie erlangen kann. Vor diesem Hintergrund wird auch Zygmunt Baumans Aussage verständlich, dass (die vermeintlich einstmals sichere) Identität nicht erst in der Moderne zu einem Problem wurde, sondern schon von Geburt an ein Problem war und auch nur als Problem existieren kann (Bauman 1997: 134).Footnote 9

Grundsätzlich lassen sich zwei Bedeutungsbereiche des Identitätsbegriffs voneinander unterscheiden: personale und kollektive Identität (vgl. Straub 2004: 278). Erstere bezieht sich auf ein Individuum, Letztere auf eine wie auch immer große Gruppe.Footnote 10 Von zentraler Bedeutung hinsichtlich einer Theorie personaler Identität sind dabei drei grundlegende Fragen. Zunächst einmal die Frage nach der Art und Weise des Selbstverhältnisses (und dessen Voraussetzungen), das mittels der Identitätssetzung des Individuums realisiert wird. Dies ist zugleich eine erkenntnistheoretische Frage: Wie kann ich wissen, wer oder was ich bin? Diesbezüglich ist auch die Frage nach der Zeitlichkeit des Individuums zu klären.Footnote 11 Gerade in dieser tritt ein Problem zum Vorschein, das für die Identitätsdebatte von grundlegender Bedeutung ist: der scheinbare Widerspruch zwischen Beständigkeit und Veränderlichkeit des menschlichen Individuums. Denn als ein Lebewesen ist der Mensch dazu bestimmt, sich beständig zu verändern. Als Person wird er jedoch sowohl von sich selbst als auch von anderen als dieser (eine) Mensch angesprochen. Daher muss er allein schon für die alltagsweltliche Wahrnehmung etwas sein oder etwas an sich haben, das es ihm selbst wie auch den Anderen ermöglicht, ihn inmitten aller anderen Menschen und trotz all seiner Veränderungen durch die Zeit hindurch als denselben einen Menschen zu identifizieren. Damit verbunden ist auch die Frage nach dem Verhältnis des Individuums zu seiner Mitwelt, deren Teil es ist und die es zugleich auch verkörpert. Einen ersten Ansatz in Bezug auf diese Frage bietet bereits Plessner, der in seiner Konzeption des Begriffs der Person deren griechische (prósõpon) und lateinische (persona) Ursprünge wahrt und sie als eine Maske betrachtet (vgl. GS VIII 310). Die Maske ist dasjenige, was sich der Mensch gemäß seiner Exzentrizität im Prozess der Verkörperung entgegenstellt, um zu sichern, dass er sowohl Einer unter Anderen als auch Einer von Anderen ist.Footnote 12 Dementsprechend muss der Begriff der personalen Identität das Individuum sowohl von Anderen unterscheidbar als auch mit Anderen vergleichbar machen (denn immerhin wird jedem Individuum eine Identität zugeschrieben). Damit verbunden ist eine doppelte Anforderung an Beständigkeit und Gleichheit: Es soll beständig sich selbst gleichen und es soll beständig den Anderen gleichen.

Unter welchen Bedingungen auf diachroner Ebene von der Identität einer Person gesprochen werden kann, wird u. a. mit den Methoden der analytischen Philosophie erörtert (Quante 1999: 9).Footnote 13 Relevant sind die Lösungsansätze sowohl für die theoretische als auch praktische Philosophie (ebd.). Die Grundfrage lautet dabei: Unter welchen Bedingungen lässt sich von einer Entität X zu einem Zeitpunkt t und einer Entität Y zu einem Zeitpunkt t’ sagen, es handele sich bei beiden um ein und dieselbe Person (ebd.)? Diese Frage nach der personalen Identität durch die Zeit hindurch ist auch für Ricœur von entscheidender Bedeutung (Breitling 2007: 167). In der analytischen Debatte werden dabei v. a. drei Kriterien herausgearbeitet, die die Identität der Person sichern sollen. Es sind dies: die Erinnerung, der Körper und die Sorge um die Zukunft (Quante 1999: 12 ff.). Den Ausgangspunkt der Diskussion bildet das Kapitel „Of identity and diversity“ in John Lockes An Essay Concerning Human Understanding (1689), in dem dieser die Identität einer Person von den substanzialisierenden Vorstellungen einer Entität löst und auf der Ebene des Bewusstseins verortet: „This may shew us wherein personal Identity consists, not in the Identity of Substance, but […] in the Identity of consciousness“ (Locke 1979: 342).Footnote 14 Dabei unterscheidet Locke zunächst und grundlegend zwischen den Begriffen des Selbst und der Person; wobei Ersterer an die Perspektive der ersten Person und deren Innenbeziehung zu sich selbst als einem Selbst, zweiter an die Perspektive der dritten Person und deren Außenbeziehung zu einem Anderen als einer Person gebunden ist (vgl. Tengelyi 2013: 29). Die Fähigkeit, sich von innen her zu sich selbst zu verhalten und sich dabei als ein Selbst zu verstehen, bildet für Locke eine notwendige Bedingung für das menschliche Personsein: „Ohne Selbst gibt es keine Person“ (ebd.).

Die Identität einer Person wird also auf der Ebene des Selbstbewusstseins verortet und dabei von der Vorstellung einer Substanz als Träger und Gewährsmann von Identität befreit (vgl. Quante 1999: 10). Dass sich eine Person zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten zu sich selbst verhalten und sich selbst als sich selbst erfassen kann, ist die Voraussetzung dafür, dass sie sich als gleich bleibend erfährt. Die unhintergehbare Identität ihres Bewusstseins bewirkt durch die Fähigkeit des Erinnerns, dass der Person durch ihr Bewusstsein all ihre vergangenen Taten, Gedanken und Erlebnisse zugesprochen werden. Soweit die Erinnerung auf Vergangenes ausgedehnt werden kann, soweit reicht dann auch die Identität der Person. Doch wird auf der zeitlichen Ebene nicht nur die Vergangenheit der Person, sondern auch deren Zukunft in den Blick genommen. Denn das Interesse an der personalen Identität leitet sich auch aus der Sorge um die eigene Zukunft ab (ebd., 18) – und ist dadurch nicht etwa nur verbunden mit der Frage: ‚Wer war und bin ich?‘, sondern auch mit der Frage: ‚Wer werde ich sein (wollen und können)?‘Footnote 15 Damit erscheint die Identität der Person aber nicht etwa nur als etwas Gegebenes, sondern ebenso als etwas Aufgegebenes (vgl. Straub 2004: 279 f.). Die Sorge kann dabei eine doppelte Wurzel haben: Einerseits kann sie als Sorge um das eigene Weiterleben (Quante 1999: 27), andererseits als Sorge um das eigene (erwünschte) autonome Handeln erscheinen (Straub 2004: 280). Damit wird die Einheit einer Person allerdings nicht etwa nur durch eine rein kausale Relation zwischen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zuständen dieser Person – seien diese nun psychischer oder physischer Art – konstituiert (Quante 1999: 28). Auch der praktische Selbstbezug muss mit in den Blick genommen werden:

Die Tatsache, dass Personen nicht nur ein zeitlich ausgedehntes körperliches und geistiges Leben haben, sondern dieses auch in einem hohen Maße selbst führen, ist ein essentieller Bestandteil unseres Verständnisses von Personen, der nicht im Rahmen einer rein kausalen Analyse erfasst werden kann (ebd.).

Denn als gleichsam aspirierte trägt die personale Identität zur Konstitution von Handlungspotenzialen einer Person ebenso bei wie zur Motivation eines bestimmten Verhaltens bzw. dessen Unterlassung (Straub 2004: 281) – sei es nun aus dem Grunde, dass die Person ihre Identität wahren oder aber ändern will. Damit bekommt der Begriff zugleich einen bestimmten „Arbeitscharakter“ (Keupp u. a. 2006: 27): Die Person muss sich – mit Plessner gesprochen – zu der machen, die sie ist.

Dabei führt Locke auch diejenige Methode ein, die die Diskussion innerhalb der analytischen Philosophie prägen wird: das Gedankenexperiment (vgl. Quante 1999: 11).Footnote 16 Mit dessen Hilfe wird in der an Locke anschließenden Debatte versucht, das auf der psychischen Ebene eingeführte Erinnerungskriterium (dem auf der gleichen Ebene das Zukunftskriterium entgegengestellt werden kann) durch das sich auf der physischen Ebene befindenden Körperkriterium zu ersetzen (ebd., 12 f.). Ohne den Rekurs auf die leibliche Existenz der Person könne die Frage nach ihrer Identität deshalb nicht bestimmt werden, weil sie jeglichen Inhalts beraubt sei (ebd.). Erinnerungs- und Körperkriterium stehen dabei im Konkurrenzkampf um den fundamentalen Status hinsichtlich der Konstitutionsbedingung von personaler Identität (vgl. ebd., 12 ff., SAA 156).Footnote 17

An diesem Konkurrenzkampf will sich Ricœur nicht beteiligen.Footnote 18 Ihm zufolge sind die in der analytischen Diskussion vorgestellten Konzepte immer bestimmten Paradoxien ausgesetzt (vgl. SAA 155–172), die auf hermeneutischem Wege gelöst werden sollen (Breitling 2007: 167 f.). Dabei wurden im Rekurs auf Paul Austers New York Trilogy bereits einerseits einige zentrale Probleme eines vereinseitigenden Denkens (das sich bspw. entweder auf das Kriterium der Erinnerung oder auf das des Körpers fokussiert) vorgeführt und andererseits aber auch die konstitutive Verbindung und Verschränkung beider Seiten thematisiert. Dementsprechend ist hier nach einem anderen argumentativen Weg zu suchen. Der von Ricœur eingeschlagene hermeneutische Weg wird schließlich zur Ausarbeitung des Konzepts der narrativen Identität führen, das – auch vor dem Hintergrund der Anthropologie Plessners – die Erzählung auf verschiedenen Ebenen als Vermittlungsinstanz zwischen einander gegenübergestellten Polen (Theorie und Praxis, Geist und Körper, Vergangenheit und Zukunft, Selbst und Welt) einsetzen wird.

Mit dem Begriff der exzentrischen Positionalität bietet Plessner eine naturphilosophische Grundlage für das ortlos gedachte Ich bei Ricœur (SAA 26), das zunächst einmal ohne Halt und ohne Inhalt ist. Im Versuch, einen Halt zu finden, muss es sich auf etwas beziehen, das es sich entgegensetzen kann. Das heißt: Um sich denken zu können, muss es sich als ein Etwas denken. Ein Etwas lässt sich aber nur als ein Begrenztes denken. Bewusstsein seiner selbst kann das Ich nur erlangen, indem es sich dadurch selbst begrenzt, dass es sich etwas entgegenstellt: sich selbst als ein Selbst. Bewusstsein seiner selbst kann es nur als Selbst-Bewusstsein entwickeln. Damit ist das Ich in seinem Selbstbezug notwendigerweise auf das eigene Selbst angewiesen.Footnote 19 Vor diesem Hintergrund wird auch folgende Aussage von Ricœur verständlich: „Selbst sagen heißt nicht ich sagen. Das Ich setzt sich – oder es wird abgesetzt. Das Selbst ist als reflektiertes in Operationen impliziert“ (SAA 29). Ohne die Setzung des Selbst durch das Ich kann auch nicht von einem Ich gesprochen werden. Im Anschluss an die Implikationen, die der Begriff der exzentrischen Positionalität mit sich bringt, kann diese Setzung aber nur eine vorläufige und niemals endgültige sein, weshalb sie immer wieder eine neue Setzung fordert. Die Selbstsetzung ist immer prozesshaft. Aber auch das Selbst ist darauf verwiesen, dass aus der distanzierten Position des Ichs auf es Bezug genommen wird. Somit stehen Ich und Selbst in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Beide sind aufeinander verwiesen, ohne ineinander aufzugehen. Damit ist auch zugleich die Annahme der unmittelbaren Gegebenheit des Ichs dadurch widerlegt, dass sowohl am Konzept Plessners als auch Ricœurs dargelegt wird: Das Ich muss immer einen Umweg – über sein Selbst – gehen, um sich selbst zum Gegenstand werden zu können. Der Begriff der Person ist wiederum als Verschränkung von Ich und Selbst zu denken; er fußt dabei auf der anthropologisch-naturphilosophisch gegebenen Struktur der (doppelten) Selbstbezüglichkeit.

Dabei wurde nun gezeigt, dass das Ich sich nur vermittels seines Selbst haben kann; nicht jedoch, wie dies geschieht.Footnote 20 Die hier durchgespielte heuristische These ist, dass dem menschlichen Ich sein Selbst wiederum nur durch die Konstituierung personaler Identität gegenständlich sein kann. Dieser zusätzliche Umweg müsste nicht gegangen werden, wenn Selbst und Identität synonym gesetzt würden, wie es von Thies (2009: 45) mit Verweis auf Begriffsverwendungen in der Psychologie und Soziologie gemacht wird. Nach Ricœur geht das Konzept der Selbstheit jedoch nicht im Konzept der Identität auf; schließlich habe es der Narratologie, auf der Ricœur das Konzept der narrativen Identität gründet, nichts zu verdanken (NI 63). Auch dann, wenn das Selbst als ein unkohärentes und identitätsloses – als ein Nicht-Subjekt – charakterisiert wird, so wird es immer noch als etwas bezeichnet; das Nicht-Subjekt ist für Ricœur immer noch eine Figur des Subjekts, wenn auch auf negative Weise (ebd.). Es scheint daher sinnvoll, die beiden Begriffe Selbst und Identität – auch wenn sie aufeinander verweisen – mit Blick auf Ricœur und dessen Gegenüberstellung von Identität als Selbigkeit (idem) und Identität als Selbstheit (ipse) auseinanderzuhalten.Footnote 21 Denn auch wenn gezeigt wird, dass das Ich nicht unmittelbar gegeben ist, so könnte doch gedacht werden, dass Ich und Selbst sich in unmittelbarer Beziehung zueinander befinden. Diese Unmittelbarkeit kann aber laut Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit nicht bestehen. Die Argumentationsfigur ist dabei die gleiche wie weiter oben: So wie sich das Ich nur als ein Etwas (sein Selbst) haben kann, so kann auch das Selbst nur als ein Etwas (seine konkrete personale Identität) existieren. Es entsteht ein Dreiecksverhältnis. In seinem Selbstbezug muss dem Ich sein Selbst über den Umweg der personalen Identität gegenständlich werden, d. h. als ein Anderes gegenübertreten. Als ein Anderes entgegenstehen kann es sich jedoch nur durch den Prozess der konkreten, d. h. praktischen, Selbst-Identifikation mit etwas, das es ‚an sich‘ nicht ist – aber sein bzw. werden kann. „Selbstdeutung und Selbsterfahrung gehen über andere und anderes“ schreibt Plessner in Die Frage nach der Conditio humana (GS VIII 196). Damit ist das Selbst zugleich auf dasjenige verwiesen, was zwar vom Menschen geschaffen wurde, in seiner Objektivierung jedoch unabhängig von diesem existiert und dem Selbst somit immer auch schon voraus liegt: der Kultur. Ricœur zufolge ist dieser Umweg, den das Selbst über die Objektivierung seiner selbst gehen muss, allerdings der kürzeste mögliche Weg, den es einschlagen kann (SAA 378). Der in exzentrischer Positionalität lebende Mensch kann sich nicht anders als in einem Verhältnis der Distanz gegenübertreten. Diese Distanz ist zugleich, so Ricœur, die Voraussetzung dafür, dass Mensch und Selbst als „wesentlich weltoffen“ (SAA 378) charakterisiert werden können; jegliches Andere kann zum Gegenstand werden, den sich das Selbst entgegen setzt.Footnote 22 Bei Ricœur wird der Selbstbezug des Menschen mittels Selbst-Identifikation zu einem dauerhaften und nie endenden Prozess einer hermeneutischen Selbst-Auslegung im Medium sinnhafter Verobjektivierungen des Menschen (vgl. Breitling 2007: 166).Footnote 23 Dabei kommt auch Plessner zu dem Schluss: „Nur an dem anderen seiner selbst hat er – sich“ (GS X 235).Footnote 24 Dieses anthropologisch grundierte Denkmuster findet sich ebenso im Werk Paul Austers. In einem Interview verweist dieser explizit darauf: „I [have] to objectify myself in order to explore my subjectivity“ (AH 304).

Vor diesem Hintergrund muss der Begriff der Identität auch als eine Form kommunikativer Selbstbezüglichkeit bestimmt werden. Dies ist – und das wird anhand des Konzeptes der dreifachen Mimesis (siehe unten) noch deutlicher dargestellt – sowohl ein theoretischer als auch ein praktischer Vorgang. Damit steht das Selbst aus der Perspektive der Subjektivitätstheorie Ricœurs nicht etwa am Anfang einer Reihe von reflexiven Operationen, sondern an dessen Ende (Mattern 1996: 191). Personale Identität ist somit als ein Bindeglied zwischen Ich und Selbst anzusehen – als dasjenige, vermittels dessen sich das Ich auf sich selbst als ein Selbst zu beziehen vermag. Das Ich hat sein Selbst als seine Identität(en). Da personale Identität immer auf die ihr voraus liegenden kulturellen Erzeugnisse verwiesen ist, so sind auch Selbst und Ich immer auf sie verwiesen.

2 Der Begriff der personalen Identität: Selbigkeit vs. Selbstheit

Ricœur wendet sich gegen die Annahme eines qualitativ beständigen Identitätskerns. Dabei nimmt er am Identitätsbegriff zunächst einmal eine semantische Zweideutigkeit wahr, die mit den lateinischen Begriffen idem und ipse verbunden ist (vgl. im Folgenden NI 57 f. und ZuE III 396 ff.). Diese Zweideutigkeit führt zur Unterscheidung zweier begrifflicher Konzeptionen: der Gleichheit bzw. Selbigkeit (engl. sameness, frz. mêmeté) der Person einerseits und der Selbstheit (engl. selfhood, frz. ipséité) der Person andererseits. Analog dazu lässt sich zwischen den beiden Fragen ‚Was bin ich?‘ (die nach der Selbigkeit fragt) und ‚Wer bin ich?‘ (die nach der Selbstheit fragt) unterscheiden. Die Selbigkeit bzw. Gleichheit läuft dabei für Ricœur auf eine nummerische Identität hinaus (Welsen 2007: 171),Footnote 25 die ihre Basis nur im Begriff der Substanz finden kann. Denn sie impliziert bzw. fordert eine bestimmte Form der Unveränderlichkeit bzw. Beständigkeit einer Entität durch die Zeit hindurch – oder mit den Worten Kants: „die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit“ (KrV A 144, B 183). Für die Beharrlichkeit eines Dinges wiederum sorgt dessen Substanz. Der Begriff der Substanz wird von Kant definiert als „die Vorstellung desselben (i.e. des Realen) als eines Substratum der empirischen Zeitbestimmung überhaupt, welches also bleibt, indem alles andre wechselt“ (ebd., Hervorhebung M.W.). Doch die menschliche Erfahrung widerspricht, so Ricœur, der Annahme eines substanzialistisch gefassten und unveränderlichen „personalen Kerns“ (NI 58) – schließlich entgehe nichts der inneren und äußeren Veränderung (ebd.). Die damit verbundene Antinomie ist jedoch mit den zur Verfügung stehenden Kategorien unauflösbar. Die Substanz-Kategorie besitze zwar, so Ricœur, Gültigkeit „innerhalb einer Axiomatik der physischen Natur“ (ebd.), könne jedoch nicht auf den Bereich des Menschen übertragen werden. Solch eine Übertragung würde auf einem Kategorienfehler beruhen und hätte als Folge die Entstehung eines trügerischen Verstehensmodells, das den Menschen von den Dingen her zu verstehen sucht und ihm somit den Schein der Beständigkeit aufzuerlegen ersucht.Footnote 26 In Bezug auf den konkreten Menschen heißt das: Die Frage ‚Wer bin ich?‘ findet keinen definitiven Halt mehr in der Frage ‚Was bin ich?‘ (vgl. Ricœur 2005b: 246).Footnote 27 Es lässt sich im Bereich des Menschlichen kein zuverlässiges Kriterium dafür finden, das die Identität einer Person angesichts ihrer Veränderlichkeit durch die Zeit hindurch erklärt. Da sich das Wesen des Menschen nicht in substanzialistischer Weise fassen lässt, so lässt sich auch die Identität der Person nicht in dieser Weise feststellen.

Daher gilt es für Ricœur, nach einem theoretischen Konzept zu suchen, das den Begriff der Identität „als eine Kategorie der Praxis“ (ZuE III 395) zu fassen vermag. Dieses findet sich im Begriff als Selbstheit (Ipseität), der den Vorteil bietet, dass das damit verbundene dynamische Konzept zwischen den beiden Polen der Beständigkeit und der Veränderlichkeit zu vermitteln vermag. Die Identität einer Person auf der Basis der Selbstheit ließe sich mit Straub (2004: 283) auch als kommunikative Selbstbezüglichkeit der Person fassen. Durch dieses eher formale Konzept kommt es wiederum zu einer ‚Verschiebung‘ des Beständigkeitsmerkmals: Beständig ist nun nicht eine bestimmte Qualität eines menschlichen Individuums, sondern die Tatsache, dass es sich sein ganzes Leben hindurch über den Umweg kultureller Verobjektivierungen auf sich selbst bezieht.Footnote 28 Dadurch soll die Selbstheit auch dem Begriff der Lebensgeschichte Rechnung tragen, welcher als eine Mischung von Beständigkeits- und Veränderungsmerkmalen gedacht wird (NI 57 f.). Denn auf die Wer-Frage antworten heißt, die Geschichte eines Lebens zu erzählen (ZuE III 395).Footnote 29 Die Selbstheit beruht damit als dynamisches Konzept auf einer Temporalstruktur, wie sie der poetischen Komposition eines narrativen Textes entspricht und alle möglichen Veränderungen und Bewegungen miteinschließt (ebd., 396). In den Ausführungen zum Begriff der narrativen Identität und dreifachen Mimesis wird sich zeigen, dass es damit dem Einzelnen auferlegt ist, die Einheit seiner selbst angesichts aller Veränderlichkeiten herzustellen – und dass gerade die Form der Erzählung dafür eine „ausgezeichnete Vermittlung“ (SAA 142, Anm. 1) bietet.

Die Entwicklung personaler Identität auf der Basis der Selbstheit kann die formale Grundlage weiterer Identitätstheorien bilden. Will man von personaler Identität sprechen, so handelt es sich immer um ein kommunikatives Selbstverhältnis einer Person, das zu unterscheiden ist von einer theoretischen Identitätsbestimmung anhand von bestimmten qualitativen Merkmalen.Footnote 30 Damit ist das Selbstbewusstsein die Bedingung der Möglichkeit, um sich (und Anderen) eine Identität zuschreiben zu können. In diesem Kontext führt auch Jan Assmann aus:

Identität ist eine Sache des Bewusstseins, d. h. des Reflexivwerdens eines unbewussten Selbstbildes. Das gilt im individuellen wie im kollektiven Leben. Person bin ich nur in dem Maße, wie ich mich als Person weiß, und ebenso ist eine Gruppe ‚Stamm‘, ‚Volk‘ oder ‚Nation‘ nur in dem Maße, wie sie sich im Rahmen solcher Begriffe versteht, vorstellt und darstellt (Assmann 1992: 130).

Wie mit Plessner und Ricœur bereits ausgeführt wurde, muss der Selbstbezug den Umweg über symbolische Formen nehmen. Diese fungieren als Codes, mit deren Hilfe die Grundoperation jeglicher Identitätsfeststellung bzw. -setzung vollzogen wird: das Ziehen einer Grenze: „Grenze ist ein Schlüsselbegriff für Identität, da diese nur als ‚Begrenzung‘ möglich, als Begrenztes gedacht werden kann. Entgrenzung hebt zwangsläufig Identitäten auf“ (Uzarewicz/Uzarewicz 1998: 210).Footnote 31

Die Realisierung der Strukturformeln ist im konkreten Fall der kommunikativen Selbstbeziehung einer Person nur anhand einer qualitativen Selbstcharakterisierung vermittels sprachlicher Codierung möglich; allerdings ohne die vermittelten Qualitäten als wesentliche Merkmale der Person auszuzeichnen.Footnote 32 Wie auch in Plessners anthropologischen Strukturformeln muss die formale Bestimmung immer mit einem qualitativen Inhalt gefüllt werden. Dabei lässt sich hier eine Wechselbeziehung feststellen. So, wie der Mensch aufgrund seiner Unergründlichkeit dazu bestimmt ist, sich sein Wesen selbst zu geben, so ist auch die individuelle Person aufgrund ihrer anthropologischen Weltoffenheit dazu bestimmt, ihre personale Identität selbst zu bestimmen – sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht. Als was sich der Mensch hinsichtlich der Frage nach seinem allgemeinen Wesen versteht bzw. verstehen kann, beeinflusst das jeweilige konkrete Selbstverständnis der Person. Aber auch umgekehrt: Als wer oder was sich die jeweilige Person fasst und konstituiert, findet dadurch, dass sie sich als geschichtliches Wesen entwirft und als kulturelles Wesen in einer sozialen Ordnung lebt, seine Rückbindung zu einer möglichen allgemeinen anthropologischen Bestimmung. Das Prinzip der Unergründlichkeit bildet im Zusammenspiel mit der exzentrischen Positionalität die Basis dafür, dass der Begriff der personalen Identität als offene Strukturformel gefasst werden kann und muss. Bestimmungen bzw. Grenzsetzungen auf beiden Ebenen können allerdings aufgrund der Exzentrizität des Menschen nie zu einem Endpunkt gelangen. Damit kreist der Identitätsbegriff um das dauerhafte Paradoxon einer Einheit, die zwar unabschließbar und ungreifbar ist, doch zugleich beständig angestrebt und fortwährend unerreicht bleibt (Straub 2004: 280). Identität ist kein vorgegebener und daher lediglich feststellbarer Sachverhalt, sondern prozesshaft organisiert. Dieser Prozess verläuft jedoch nicht nach einem Entwicklungs- oder Bildungsweg, der – wie z. B. in dem klassischen Ansatz von Erikson (1997) – teleologisch auf einen bestimmten fest umrissenen Endpunkt zuläuft (Straub 2004: 281). Identität ist zwar aufgegeben, nicht aber letztgültig erreichbar. Damit ist sie zugleich auch Ausdruck desjenigen Sachverhalts, den Plessner mit dem Gesetz des utopischen Standortes zu fassen versucht: Der Mensch ist sich beständig selbst voraus und erschafft (u. a. mittels seiner aspirierten Identität) seine eigenen Fluchtpunkte, die ihm als ‚Anderes seiner Selbst‘ sowohl die Möglichkeit der Realisierung seiner Selbst-Bezüglichkeit als auch eine praktische Stütze seiner Gebrochenheit und Ergänzungsbedürftigkeit bieten.Footnote 33 Vor diesem Hintergrund sind jegliche Versuche der verabsolutierenden Fest-Stellung personaler Identität ebenso verständlich wie das letztendlich notwendige Scheitern dieser. Dass die Antworten auf die Identitätsfrage den jeweiligen Individuen obliegen, heißt allerdings nicht, dass diese Antworten – sowohl impliziter als auch expliziter Natur – in beliebiger Weise gegeben werden können (ebd., 280). Darüber hinaus ergeben sich alle konkreten Antworten und Bestimmungen immer aus einem bestimmten Kontext und sind daher mehr oder weniger kontingent und vorläufig – d. h. auch: offen für die Konstituierung neuer und Revisionen alter Setzungen (vgl. ebd.).

Die damit verbundenen Anforderungen an einen reflexiv und dynamisch konzipierten Begriff der personalen Identität werden von Ricœur ernst genommen. Das Konzept der narrativen Identität wird diesen Anforderungen gerecht, da es das menschliche Selbst einerseits als dynamisch und veränderlich fasst und andererseits seine Einheit wahrt. Insofern sichert die narrative Identität die Einheit des menschlichen Individuums angesichts all seiner inneren und äußeren Veränderungen und Veränderlichkeiten.

3 Das Konzept der narrativen Identität und der dreifachen Mimesis

Jeder gelebte Augenblick hat einen Vorfahren in der Literatur.

Botho Strauß: Die Fehler des Kopisten

Das Konzept der narrativen Identität nimmt eine zentrale Stellung im Werk Paul Ricœurs ein. Mit ihm sollen Fragen der theoretischen und praktischen Philosophie erhellt und bearbeitet werden, die sich auf drei grundsätzliche Problemebenen beziehen: a) die Problematik der Aporetik der Zeitlichkeit, die Ricœur in seinem Hauptwerk Zeit und ErzählungFootnote 34 untersucht; b) die Frage nach der personalen Identität des Menschen, die am Ende von Zeit und Erzählung angesprochen und anschließend in Das Selbst als ein AndererFootnote 35 wiederaufgenommen wird; und c) ethische Fragestellungen, die v. a. in Das Selbst als ein Anderer behandelt werden.Footnote 36 Das Konzept der narrativen Identität fungiert hierbei als eine Art Scharnier, anhand dessen Ricœur auch zu Erklärungsansätzen bezüglich der von der Identitätsfrage auf den ersten Blick eher entfernten Problembereiche a) und c) gelangen will – und zwar dadurch, dass er die Narration als eine Vermittlungsinstanz bestimmt: „Mit ‚narrative Identität‘ bezeichne ich jene Art von Identität, zu der das menschliche Wesen durch die Vermittlung der narrativen Funktion Zugang haben kann“ (NI 57). Auf der Ebene der Zeitproblematik geht Ricœur bspw. davon aus, dass mithilfe der narrativen Funktion die subjektive zeitliche Empfindung in die Welt eingeschrieben (Breitling 2007: 164) und somit zur ‚erzählten Zeit‘ wird. Darin sieht er die Antwort auf die erste Aporie der Zeit, dem Auseinandergleiten des subjektiven zeitlichen Empfindens (phänomenologische Zeit) und der objektiven Bestimmung der Zeit (kosmologische Zeit) (ZuE III 392).Footnote 37 Durch die narrative Formung und Vermittlung wird Zeit zur menschlichen Zeit. Es ist die grundlegende Hypothese Ricœurs,

daß zwischen dem Erzählen einer Geschichte und dem zeitlichen Charakter der menschlichen Erfahrung eine Korrelation besteht, die nicht rein zufällig ist, sondern eine Form der Notwendigkeit darstellt, die an keine bestimmte Kultur gebunden ist. Mit anderen Worten: daß die Zeit in dem Maße zur menschlichen wird, in dem sie nach einem Modus des Narrativen gestaltet, und daß die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt, wenn sie eine Bedingung der zeitlichen Existenz wird (ZuE I 87).

Auf der Ebene der ethischen Problematik ist es ebenfalls die narrative Identität, die als Brücke zwischen Deskription und Präskription fungiert (vgl. Haker 2004: 140–152).Footnote 38 Eine Position der Vermittlung nimmt die narrative Funktion jedoch nicht nur zwischen Selbst und Zeit sowie Sein und Sollen ein, sondern auch im Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu seiner Welt. Insbesondere Zeit und Erzählung liefert eine detaillierte und umfangreiche Analyse der Verbindung und Verschränkung von Narrationen und menschlichen Erfahrungen (vgl. auch Venema 2000: 91).

Dabei ist das menschliche Selbst auf die vermittelnde Funktion kultureller Symboliken angewiesen: „Das Selbst erkennt sich nicht unmittelbar, sondern nur indirekt, über den Umweg über verschiedenste kulturelle Zeichen“ (NI 65).Footnote 39 Diese kulturellen Symboliken liegen, obwohl vom Menschen selbst geschaffen, dem Selbst, das sich zu verstehen sucht, immer schon voraus – wodurch dieses in seinem Selbstbezug beständig auf ein Anderes angewiesen ist (Mattern 1996: 9), mit dessen Hilfe es sich einerseits die Wirklichkeit als bedeutungsvoll erschafft und andererseits sein Handeln ermöglicht bzw. einschränkt.Footnote 40 In den Geschichten, die eine Person sich selbst (und Anderen) über sich erzählt, erkennt sie sich nicht nur wieder, sondern setzt zugleich ihre Identität (vgl. ZuE III 397). Das Konzept der narrativen Identität ist daher immer auch praktisch orientiert. Das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte(n) entgeht jedoch einer strikten Differenzierung von Selbigkeit und Selbstheit insofern, als der Begriff der Lebensgeschichte als eine Mischung dieser beiden entgegengesetzten Pole gedacht wird (NI 57 f.). Dabei oszilliert die narrative Identität Ricœur zufolge zwischen diesen beiden Polen: „einer unteren Grenze, an der die Beständigkeit in der Zeit die Vermischung des idem und des ipse zum Ausdruck bringt, und einer oberen Grenze, an der das ipse die Frage seiner Identität aufwirft, ohne die Hilfe und die Unterstützung des idem“ (SAA 154 f.). Die narrative Identität einer Person vermittelt somit zwischen den beiden Aspekten des idem und des ipse.

Das Kernstück der narrativen Identität bildet das Konzept der dreifachen Mimesis. Dieses Konzept kann auch als ein „hermeneutische[r] Zirkel des Narrativen“ (ZuE I 115) verstanden werden, der im Sinne der hermeneutischen Phänomenologie Ricœurs als ein unhintergehbarer anzusehen ist. Auf drei ineinander verschlungenen mimetischen Ebenen wird die praktische Erfahrung und Wahrnehmung des Menschen in den Dimensionen Zeit, RaumFootnote 41 und Selbst figuriert. Ricœur entwickelt dieses Konzept in Auseinandersetzung mit der aristotelischen Poetik und erweitert es dabei um drei grundlegende Aspekte: zum Ersten wird es auf das narrative Genre übertragen,Footnote 42 zum Zweiten um ein Vorher und ein Nachher des Textes ergänzt,Footnote 43 und zum Dritten schließlich auf die Problematik der ZeitlichkeitFootnote 44 appliziert. Von zentraler Bedeutung sind hierfür die drei Begriffe poiesisFootnote 45, mimesisFootnote 46 und mythos. Die beiden letztgenannten sind, da sie unter den Oberbegriff des Poetischen fallen, immer „als aktive Vorgänge und nicht als Strukturen zu verstehen“ (ZuE I 56). Dabei beschreibt der mythos eine besondere Form des Nachahmens: die der Handlung. Diese ergibt sich aus der Zusammensetzung einzelner Geschehnisse (bzw. Teilhandlungen) und bildet ein in sich abgeschlossenes Ganzes (d.i. auch: die Fabel), das aus einem Anfang, einer Mitte und einem Ende besteht (vgl. Aristoteles 2006: 1450b). Daher ist der Mythos immer auch als etwas Komponiertes bzw. Konstruiertes zu verstehen. Diese Gestaltungsleistung findet sich bei Ricœur auf drei unterschiedlichen mimetischen Ebenen – Präfiguration, Konfiguration und Refiguration – wieder, welche in einem zirkulären Verhältnis zueinander stehen und sich dementsprechend ineinander verschränken.

Die Ebene der Mimesis I beschreibt dabei ein gewisses Vorverständnis dessen, was eine Erzählung ist (Präfiguration). Auf dieser Ebene analysiert Ricœur zunächst einmal das menschliche Vorverständnis des Begriffs der HandlungFootnote 47:

Welches immer die Innovationskraft der dichterischen Komposition im Bereich unserer Zeiterfahrung sei, so ist doch die Fabelkomposition in einem Vorverständnis der Welt des Handelns verwurzelt: ihrer Sinnstrukturen, ihrer symbolischen Ressourcen und ihres zeitlichen Charakters (ZuE I 90).

Von diesem Vorverständnis der Handlung hebt sich die literarische Fabelkomposition zwar einerseits ab, baut aber andererseits zugleich auch auf ihm auf; denn es würde doch zu einer gänzlich unverständlichen Literatur bzw. Narration führen, wenn sich nicht beide Bereiche in gewisser Weise überschneiden würden und sich im Vorverständnis dessen, was eine Handlung ist, nicht schon die Basis für die Gestalt der literarischen HandlungFootnote 48 finden ließe (vgl. ebd., 103 f.): Bevor eine Geschichte überhaupt erzählt werden kann, muss sie erst einmal jemandem widerfahren sein (ebd., 119), der sie auch als Geschichte verstehen kann. Dafür müssen sich aber auch strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen Handlungen und Erzählungen feststellen und anhand eines „Begriffsnetz[es]“ (ebd., 90) verwenden lassen.Footnote 49 Dies setzt gewissermaßen eine kulturelle Kompetenz des Menschen dahin gehend voraus, dass er Ziele, Motive, handelnde Subjekte, Umstände, Interaktionen und Ausgänge von Handlungen zu erkennen vermag (ebd., 90 f.) – und sich dadurch immer auch schon in einem „praktische[n] Verstehen“ (ebd., 92) befindet. Durch diese strukturellen Gemeinsamkeiten – die schließlich auch dafür sorgen, dass Handlungstheorie und Erzähltheorie miteinander verbunden werden können – begreift Ricœur menschliche Handlungen als „Quasi-Text“ (ebd., 96) und „Vorform der Lesbarkeit“ (ebd., 95). Denn die Handlung ist, hier verweist Ricœur auch auf Clifford Geertz’ Interpretation of Cultures und Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, immer auch schon symbolisch vermittelt; sie artikuliert sich in Zeichen, Regeln und Normen (ebd., 94). Ricœur spricht diesbezüglich auch vom „Symbolnetz der Kultur“ (ebd., 95); die symbolischen Formen werden dabei als „handlungsinterne Interpretanten“ (ebd.) verstanden, die gewissermaßen immer schon unbewusst im menschlichen Tun wirksam sindFootnote 50 – und zwar noch bevor die Handlung selbst zum Text wird bzw. als Text interpretiert wird.Footnote 51 Dabei ist die Handlung zugleich zeitlich so strukturiert, dass sie mit der zeitlichen Struktur der Erzählung korreliert und mit dieser im Wechselverhältnis steht (ebd., 98). Ricœur geht hier von einem immer schon gegebenen impliziten Verständnis der zeitlichen Strukturen der Handlung aus und spricht dabei auch von einer „pränarrativen Struktur der Erfahrung“ (ebd., 98). Diese pränarrativen zeitlichen Strukturen der Handlung und Erfahrung sind es wiederum, die „zum Erzählen herausfordern“ (ebd.).

Die hierbei angesprochenen drei Merkmale – semantisches Bezugsnetz, symbolische Vermitteltheit, zeitliche Strukturiertheit – bilden also die wesentlichen Komponenten des menschlichen VorverständnissesFootnote 52 der Handlung, das das Erkennen, Bewerten und Wiedergeben von Handlungen bestimmt und die narrative Konfiguration der Handlung präfiguriert:

Damit wird der Sinn der mimesis I in seiner Vielschichtigkeit deutlich: eine Handlung nachahmen oder darstellen heißt zunächst, ein Vorverständnis vom menschlichen Handeln haben: von seiner Semantik, seiner Symbolik und seiner Zeitlichkeit. Von diesem Vorverständnis, das dem Dichter und seinem Leser gemeinsam ist, löst sich die Fabelkomposition und damit die textuelle und literarische Mimesis ab (ebd., 103).

Dementsprechend hat auch die Erfahrung als solche bereits ein Ansatz zum Narrativen und konstituiert damit zugleich auch ein „authentisches Erzählbedürfnis“ (ebd., 118). Somit ist die Mimesis II, die Ebene des Textes, bereits in der Mimesis I, der Ebene der Alltagserfahrung, angelegt (vgl. Nünning/Sommer 2002: 38). Der Akt des Erzählens markiert hierbei den Übergang von Mimesis I zu Mimesis II.

Auf der Ebene der Mimesis II (Konfiguration) wird der poetische Gestaltungsvorgang selbst realisiert: die Darstellung der Einheit der Handlung. Diese Einheit wird v. a. durch drei Eigenschaften erzeugt: Abgeschlossenheit, Totalität und entsprechender Umfang (NI 59, ZuE I 66). Dadurch verleiht die Fabel – als „Zusammensetzung der Geschehnisse“ (Aristoteles 2006: 1450a) – einer heterogenen Ansammlung von Absichten, Ursachen und Zufällen eine verstehbare Gestalt und führt so zu einer „Synthese des Heterogenen“ (SAA 174, NI 60). Dieser Konstruktcharakter ist für Ricœur entscheidend, da in ihm die eigentliche Leistung der narrativen Identität zum Tragen kommt: die Integration des Verschiedenen, Veränderlichen, Diskontinuierlichen und Unbeständigen in eine Einheit, ohne die Verschiedenartigkeit der Ereignisse und Geschehnisse zu zerstören (Breitling 2007: 168). Ricœur spricht hierbei auch explizit von einer Kompositionskunst, welche zwischen Diskordanzen und Konkordanzen der Fabel auf drei unterschiedlichen Ebenen vermittelt: a) zwischen der Vielfalt einzelner Ereignisse und der Einheit der Erzählung, b) zwischen der Vielzahl der Elemente der Handlung (Personen, Absichten, Zufälle) und dem Zusammenhang der Geschichte, c) zwischen den einzelnen Zeitekstasen und der chronologischen Einheit der Zeit (vgl. NI 60 f., SAA 174, ZuE I 105 ff.). Dadurch erzeugt die narrative Konfiguration eine „dissonante Konsonanz“ (ZuE I 106) bzw. „diskordante Konkordanz“ (SAA 174, NI 60).

Der mimetische Akt der narrativen Konfiguration bezieht sich hierbei zunächst auf die Nachahmung der Handlung und dann erst auf die Nachahmung der Figuren (NI 58); auch darin folgt Ricœur der aristotelischen Poetik.Footnote 53 Denn den zentralen Referenzpunkt der Narration bilden immer „handelnde Menschen“ (Aristoteles 2006: 1448a). Daher stellt auch Ricœur fest: „Thema aller Erzählungen ist letztlich das Handeln und das Leiden“ (ZuE I 92). In diesem Sinne muss auch jede narrative Theorie und Strukturanalyse Anleihen machen bei einer impliziten oder expliziten Phänomenologie des Tuns und Handelns (ebd.). Ricœur verwendet hierbei einen möglichst weitgefassten Handlungsbegriff, der sowohl äußere wie auch innere Prozesse umfasst:

Unter Handlung muß man mehr als das Verhalten der Figuren verstehen dürfen, das sichtbare Veränderungen der Situation, Schicksalsschläge oder das, was man das äußere Los der Personen nennen könnte, bewirkt. Auch die moralische Wandlung einer Gestalt, ihr Heranwachsen und ihre Erziehung, ihre Einführung in die Komplexität des moralischen und affektiven Lebens sind in einem erweiterten Sinn noch Handlung. In einem noch subtileren Sinn gehören zur Handlung auch rein innerliche Veränderungen, wie sie an dem zeitlichen Ablauf der Empfindungen, der Emotionen vorgehen, möglicherweise auf der absichts- und bewußtseinsfernsten Ebene, die der Introspektion zugänglich ist (ZuE II 19).

Dabei stellt Ricœur ein zentrales Bedingungs- und Wechselverhältnis zwischen der narrativen Konfiguration der Handlung und der Figur fest:

Die Erzählung konstruiert die Identität der Figur, die man ihre narrative Identität nennen darf, indem sie die Identität der erzählten Geschichte konstruiert. Es ist die Identität der Geschichte, die die Identität der Figur bewirkt (SAA 182).

Die Identität der Figur ist dabei von der Identität der Handlung abhängig und kann dementsprechend nicht unabhängig von der in der narrativen Konfiguration vollzogenen Verknüpfung der Handlung bestimmt werden (NI 61); ja mehr noch: „Die Figur ist selbst eine narrative Kategorie“ (Ricœur 2006: 133). Wer oder was eine Figur ist, zeigt sich demzufolge erst über den Umweg der Handlungen und Geschehnisse, in die sie verstrickt ist und die zusammengenommen die Geschichte der Figur ausmachen. Dadurch eröffnet erst die Geschichte der Figur auch einen Zugang zur Identität der Figur. Daher zitiert Ricœur (NI 61, ZuE I 199) als weitere Referenz auch Wilhelm Schapps Kernaussage: „Die Geschichte steht für den Mann“ (Schapp 2004: 100 und 103). Die Subordination der Figur unter die Handlung bedeutet in seiner Folge, dass das Konzept der Synthese des Heterogenen ebenso für die Figur wie für die Handlung gilt und daher die Figur in einer grundsätzlichen Dynamik gefasst und gedacht werden kann – die schließlich auch bis zum nahezu kompletten Verlust narrativer Strukturen und dem damit einhergehenden Anschein des IdentitätsverlustsFootnote 54 gehen kann:

Wenn nämlich jede Geschichte als eine Kette von Transformationen angesehen werden kann – ausgehend von einer anfänglichen Situation bis hin zu einer abschließenden Situation –, so kann die narrative Identität des Helden nichts anderes sein als der einheitliche Stil von subjektiver Transformation, in Entsprechung zu den objektiven Transformationen, die der Regel der Abgeschlossenheit, Totalität und Einheit der Handlungsverknüpfung gehorchen. […] Es ergibt sich daraus, daß die narrative Identität des Helden nur korrelativ zur diskordanten Konkordanz der Geschichte selbst sein kann (NI 61).

Dieser Vorrang der Erzählung vor dem Charakter der Figur findet sich in Austers New York Trilogy. Bereits auf der ersten Seite merkt der Erzähler an: „The question is the story itself, and whether or not it means something is not for the story to tell“ (NYT 3). Dies zeigt sich dann auch konkret in den weiteren Texten, die die Abhängigkeit der Figur von der narrativen Konfiguration durchspielen. In The Locked Room bspw. werden vom Ich-Erzähler zwei exemplarische historische Persönlichkeiten gegenübergestellt: La Chère und Lorenzo Da Ponte (NYT 250 ff.). Dabei verfolgt das Leben des ersten eine gerade Handlungslinie; was vom Erzähler zugleich als ein Segen, aber auch als absolute Ausnahme gewertet wird.Footnote 55 Über Da Ponte hingegen lassen sich mehrere miteinander unvereinbare Lebensgeschichten erzählen. Dadurch wird er jedoch zur prototypischen Figur, an der sich die Synthese des Heterogenen abzeichnet: „In general, lives seem to veer abruptly from one thing to another, to jostle and bump, to squirm. A person heads in one direction, turns sharply in mid-course, stalls, drifts, starts up again“ (NYT 251). Insofern die Konstituierung der personalen Identität von unterschiedlichsten Faktoren beeinflusst wird (siehe Kap. 4) und in sich verschiedene Brüche offenbart, kann das Erzählen als Versuch verstanden werden, diese Faktoren und Brüche zueinander ins Verhältnis zu bringen, zu ordnen und dasjenige, was sich dem Menschen aufgrund seiner exzentrischen Positionalität beständig entzieht – er selbst – mit künstlichen Mitteln verstehbar zu machen. So ist in City of Glass Quinn bspw. beständig bemüht, die im Fall enthaltenen Diskordanzen durch die Einspinnung in eine (Detektiv-)Geschichte kongruent und kohärent zu machen (vgl. z. B. NYT 40) und all den unverständlichen und unerträglichen Bruchstücken von Geschichten eine für ihn akzeptable Gestalt zu geben und somit die Einheit seiner selbst durch die Zeit hindurch zu sichern. Ein ebensolches Bestreben zeigt in Ghosts auch Blue, „[who] tries to fashion a coherent whole, discarding the slack and embellishing the gist“ (NYT 146).Footnote 56

Damit betreiben die Figuren mit den Mitteln der Erzählung aber zugleich auch eine Komplexitätsreduktion. Dies kann als eine der wesentlichen Leistungen der Narration zur Herstellung von Anschaulichkeit verstanden werden (Neumann 2013: 54 f.).Footnote 57 Zwar lässt die Erzählung den Leser nicht unbedingt das Ganze wahrnehmen, suggeriert ihm jedoch, etwas als Ganzes zu erfassen. Dieser Ganzheitscharakter ist für Ricœur von entscheidender Bedeutung.Footnote 58 Als ‚ganz‘ versteht er dabei mit Aristoteles (2006: 1450b) all dasjenige, was einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat (ZuE I 66).Footnote 59 Der ‚ganzen‘ Identität der Figur der Handlung korreliert die ‚ganze‘ Identität der Figur des Protagonisten:

In der Tat wahrt in der erzählten Geschichte, charakterisiert durch die Merkmale der Einheit, der inneren Gliederung und der Vollständigkeit (Merkmale, die ihr durch die Fabelkomposition verliehen wurden) die Figur im gesamten Handlungsverlauf eine Identität, die zu derjenigen der Geschichte korrelativ ist (SAA 177).

Auch in den neueren Ansätzen literarischer Anthropologie wird die notwendige Verschränkung narrativer Strukturen und menschlicher Figuren fokussiert – denn jede Fabel erzeugt „nach ihrer Grundstruktur ein Bild des menschlichen Lebens“ (Neumann 2013: 56).

Dies macht die Fabel für das menschliche Leben relevant; und ermöglicht die systematische Verbindung der Ansätze Plessners und Ricœurs mit denjenigen der literarischen Anthropologie. Ist mit ihr, der Fabel, doch für Neumann die spezifische Funktion der Herstellung von mentaler Ordnung und kognitiver Orientierung verbunden. Sie entspricht dabei dem von Plessner angeführten konstitutiven Mitteilungs- und Darstellungsbedürfnis des Menschen, das ihn zur „Wiedergabe erlebter Dinge, beunruhigender Gefühle, Phantasien, Gedanken“ (Stufen 323) drängt und zugleich die Tendenz aufweist, „das Flüchtige des Lebens durch Gestaltung aufzubewahren und es übersichtlich zu machen“ (ebd.). Gerade vor diesem Hintergrund kann das Erzählen aus den Perspektiven literarischer Anthropologie – Neumann beruft sich hierfür sowohl auf neuere kognitionswissenschaftliche Untersuchungen als auch auf das Werk Ricœurs – als elementares und spezifisch anthropologisches Format zur Verarbeitung von Wahrnehmungen, Bedürfnissen und Erfahrungen verstanden werden (Neumann 2013: 1, vgl. auch Neumann 2009: 235). Die Fabel ordnet und strukturiert nicht nur die Geschichte eines einzelnen individuellen Lebens, sondern potenziell alle wahrnehmbaren und vorstellbaren Phänomene der Wirklichkeit.Footnote 60 Das Erzählen erscheint dadurch als eine Technik, „mit der sich der Mensch seine Wirklichkeit aufbaut und strukturiert, gegenwärtig macht und aktualisiert“ (Neumann 2013: 63). Anhand des Erzählens setzt sich der Mensch aktiv mit seiner Welt und seinem Selbst auseinander: „Aus der grenzenlosen Wirklichkeit des Erlebens grenzt es durch Anfang und Ende etwas Überschaubares aus. Eine solche Endlichkeit ermöglicht es, zu begreifen und sich zu orientieren“ (Neumann 2009: 235 f.). Dies gilt jedoch nicht nur für die wahrgenommene und imaginierte Welt, sondern auch für das menschliche Selbst – sei es nun das eigene oder ein fremdes Selbst. Erst durch die Erzählung werden die einzelnen Identitätsfaktoren in die individuelle – eigene oder fremde – (fiktive) Lebensgeschichte eingesponnen, die das menschliche Selbst formen.

Die Ebene der Mimesis III (Refiguration) schließlich beschreibt die Aneignung der Erzählung durch das Selbst; eine Aneignung, die einerseits auf formaler, andererseits auf inhaltlicher Ebene vollzogen wird und sich zwischen den beiden Polen der Identifikation und der Kritik bewegt. Grundlegend dafür sind zwei Funktionen der fiktiven Erzählung, die Ricœur mit Blick auf die alltägliche Lebenspraxis als „aufzeigend“ und „verwandelnd“ (ZuE III 254) bezeichnet: „aufzeigend in dem Sinne, daß sie [die Erzählung] Züge ans Licht bringt, die zwar verborgen, aber gleichwohl in unserer praktischen Erfahrung bereits angelegt sind; verwandelnd in dem Sinne, daß ein so durchleuchtetes Leben ein verändertes, ein anderes Leben ist“ (ebd.). Die Erzählung generiert dabei fiktionale Welten, die sich selbst übersteigen, indem sie an den Rezipienten weitergegeben und von ihm aufgenommen werden:

So setzen Epos, Drama und Roman im Modus der Fiktion Weisen des Bewohnens der Welt aus sich heraus, die darauf warten, durch die Lektüre aufgenommen zu werden; diese wiederum schafft einen Raum der Konfrontation, in dem die Welt des Textes und die Welt des Lesers einander gegenübertreten können (ZuE II 13).

Dadurch kann die Erzählung auch identitätsbildend wirken (Scharfenberg 2011: 337); ermöglicht sie doch einen Dreischritt: die imaginative Variation der Daseinsweise des menschlichen Selbst in der spielerischen Gestaltung bzw. Deutung der narrativen Konfiguration, die Identifikation des eigenen Selbst mit dem gestalteten bzw. gedeuteten Selbst der Erzählung, und schließlich die Aneignung bzw. Übertragung dieses Selbst der Erzählung auf das eigene Selbst und die eigene Lebensgeschichte: „Sich eine Figur durch Identifikation aneignen, bedeutet, sich selbst dem Spiel imaginativer Variationen unterwerfen, die so zu imaginativen Variationen des Selbst werden“ (NI 66). Damit wird – auch hierbei zeigen sich Parallelen zu Ansätzen literarischer Anthropologie – die Narration zu einer mentalen Probebühne, auf der im Bereich des Imaginären lebensweltliche Erfahrungen und Handlungen durchgespielt werden und dementsprechend auch ethische Konsequenzen haben können. Für Ricœur sind es die Erzählungen,

dank deren wir verschiedene Handlungsrichtungen ausprobieren, indem wir mit den entgegengesetzten Möglichkeiten spielen – im starken Sinne dieses Wortes. In dieser Hinsicht darf man von einer ethischen Einbildungskraft sprechen, die sich von der narrativen Einbildungskraft nährt (SAA 202, Anm. 36).

Dieses mentale Probehandeln findet sich bspw. auch als zentrale anthropologische Funktion der Literatur bei Neumann (2009: 236; 2013: 44 und 58 f.) wieder. Es bietet die Möglichkeit, „selbst komplexe Interaktionen mit verschiedenen Akteuren und längeren Handlungsketten [zu] simulieren“ (Neumann 2013: 59).Footnote 61 Dadurch können auch die menschlichen Handlungsmöglichkeiten erweitert oder mit Sinn angereichert werden. So schreibt Ricœur:

Tatsächlich verdanken wir den Werken der Fiktion zum großen Teil die Erweiterung unseres Existenzhorizontes. Sie erzeugen keineswegs nur abgeschwächte Bilder der Wirklichkeit […], sondern schildern die Wirklichkeit nur, indem sie sie um alle Bedeutungen bereichern, die sie selbst ihren Eigenschaften der Abkürzung, der Sättigung und der Aufgipfelung verdanken, wie sie die Fabelkomposition auf erstaunliche Art und Weise veranschaulicht (ZuE I 127).

Ansätze zu dieser rezeptionsorientierten Perspektive findet Ricœur (ZuE I 81–85) anhand des Katharsis-BegriffsFootnote 62 auch schon in der Poetik des Aristoteles: „Das vom Zuschauer Empfundene muß zunächst im Werk angelegt werden“ (ebd., 84).

Die entscheidende Schnittstelle zwischen der Welt des Textes und der Welt des Lesers bildet dabei der Akt des Lesens; schließlich ist der Leser „der Agierende im besonderen Sinne […], der durch seine Tätigkeit – das Lesen – die Einheit des Weges von der mimesis I über die mimesis II zur mimesis III auf seinen Schultern trägt“ (ebd., 88 f.). Dabei steht dem Erzählbedürfnis, das für die Produktion der narrativen Konfiguration sorgt und den Übergang von Mimesis I zu Mimesis II markiert, aufseiten der Rezeption ein ebenso großes Sinnbedürfnis gegenüber, das sich im Akt des Lesens realisiert (vgl. Nünning/Sommer 2002: 38). Den Akt des Lesens konzipiert Ricœur hierbei in Auseinandersetzung mit den klassischen rezeptionsästhetischen Theorien von Iser und Jauß (vgl. ZuE III 270–293), und zwar als eine Art „Phänomenologie des Lesens“ (ZuE III 276, vgl. Iser 1984: 175).Footnote 63 Das Lesen ist demzufolge durch drei dialektische Aspekte gekennzeichnet, die dafür sorgen, dass „die Lektüre den Text bearbeitet“ (ZuE III 274) – wodurch der Rezipient den Text aktiv gestaltet bzw. produktiv tätig wird. Erstens sind es die textuellen Leerstellen, die die Erwartungen des Lesers an eine unmittelbar lesbare Konfiguration enttäuschen und ihn in seiner Suche nach Sinn und Kohärenz dazu bringen, selbst zu konfigurieren (ebd., 274).Footnote 64 Zweitens ist die Narration – dem gegenüberstehend – zugleich auch durch einen Überschuss an Sinn geprägt, da sie durch ihre selektive Auswahl den Leser immer auch auf dasjenige verweist, was eben nicht erzählt wird (ebd.) und somit quasi ‚jenseits‘ des Textes steht. Drittens lässt sich in der Haltung des Rezipienten zum Text ein Wechselspiel aus Illusionsbildung (dem völligen Aufgehen im Text) und Distanzbildung (der Fremdheit gegenüber dem Text) feststellen (ebd., 275). Das ‚gute‘ Werk teilt mit dem Leser daher einerseits ein „Repertoire des Vertrauten“ (z. B. auf den Ebenen des Themas, der literarischen Gattung und des gesellschaftlichen oder geschichtlichen Kontexts) und verfolgt andererseits und zugleich auch einen „Strategie des Unvertrautmachens“ (ebd.). Diese dreifach dialektische Lektüreerfahrung ist es schließlich, die laut Ricœur eine „lebendige Erfahrung“ (ebd.) erzeugt und drei Stadien durchläuft: Verstehen, Auslegen und Anwenden (ebd., 284).

Die Applikation der narrativen Konfiguration in der Lebenswelt des Lesers bildet dabei schließlich das Ziel dieses hermeneutischen Prozesses (ebd.) und führt zur „Neugestaltung“ (ZuE I 88) der menschlichen Praxis und Lebenswelt durch den Rezeptionsakt und über den Rezeptionsakt hinaus.Footnote 65 Sie ist geprägt von einer Strukturanalogie hinsichtlich der Bedingungen, Abläufe und Logiken der Konstitution der narrativen Identität der Figur des Protagonisten (Mimesis II) einerseits und des lebensweltlichen Selbst (Mimesis III) andererseits (Scharfenberg 2011: 350) – denn beide beruhen auf einer Temporalstruktur, „die dem Modell einer dynamischen Identität entspricht, wie sie der poetischen Komposition eines narrativen Textes entspringt“ (ZuE III 396). Zwischen dem Erzählen einer Geschichte und dem zeitlichen Charakter der menschlichen Erfahrung besteht eine notwendige und transkulturelle Korrelation (ZuE I 87). Diese Strukturanalogie bildet die Voraussetzung für die Identifizierbarkeit der narrativen Identität des Protagonisten im Akt des Lesens durch den Rezipienten – und dadurch auch die Voraussetzung für die Selbstidentifikation im Spiegel kultureller Verobjektivierungen: „Den Text einer Handlung zu interpretieren bedeutet für den Handelnden, sich selbst zu interpretieren“ (SAA 219). Dies bleibt nicht folgenlos für eine Theorie des menschlichen Selbst in praktischer Perspektive. Denn die Strukturanalogie sowie die daran anknüpfenden Akte der Identifikation und Selbstauslegung ermöglichen im Anschluss an den Leseakt die Refiguration des menschlichen Selbst durch die Aneignung und Anwendung der narrativen Konfiguration auf sich selbst (ZuE III 396).

Dieses dynamische Verhältnis zwischen Text und Selbst wird im Werk von Paul Auster aufgenommen und bewusst gestaltet. Es basiert hier zum einen auf der eigenen Erfahrung der Aneignung und Übertragung narrativer Konfigurationen auf das eigene Leben und bildet damit zum anderen auch die Grundlage für die Gestaltung der jeweiligen Werke. So äußert Auster in einem Interview:

The one thing I try to do in all my books is to leave enough room in the prose for the reader to inhabit it. Because I finally believe it’s the reader who writes the book and not the writer. In my own case as a reader […], I find that I almost invariably appropriate scenes and situations from a book and graft them onto my own experiences – or vice versa. […] No matter how specific a writer’s description of a place might be, I always seem to twist it into something I am familiar with (AH 264 f.).

Damit wird schließlich die Selbstinterpretation und Selbstauslegung des menschlichen Individuums über den Umweg des Lesens und Erzählens narrativer Konfigurationen realisiert, die auf der kulturell immer schon gegebenen symbolischen Vermitteltheit der Handlung aufbaut und in der Narration einen besonders passenden Modus findet, der die identifikatorische Aneignung der narrativen Figur durch das menschliche Selbst ermöglicht: „Die narrative Vermittlung unterstreicht so den bemerkenswerten Charakter der Selbsterkenntnis als Selbstauslegung. Die Aneignung der Identität der fiktiven Figur durch den Leser ist das bevorzugte Vehikel dieser Auslegung“ (NI 65). Die narrative Konfiguration und das menschliche Selbst verschränken sich ineinander. Der Argumentationsgang Ricœurs hinsichtlich des Übergangs von Mimesis II zu Mimesis III im Akt der Aneignung der narrativen Identität lässt sich mit Scharfenberg zusammenfassend festhalten; dabei ist insbesondere hervorzuheben,

dass sich die in Rede stehenden identitätsbildenden Effekte der Erzählung allein in Korrelation zu den je heterogenen narrativen Handlungsdiskursen näher qualifizieren lassen, da gemäß Ricœur (1) der identitätsbildende Prozess generell auf die Identifikation mit dem Protagonisten der Erzählung beruht, dessen (2) Identität ihrerseits jedoch als dynamische Identität bestimmt wird, die sich (3) notwendigerweise konstitutionell in Relation zum jeweiligen spezifischen Handlungsdiskurs bestimmt (Scharfenberg 2011: 350).

Dies bietet die Möglichkeit einer systematischen Verbindung mit Ansätzen literarischer Anthropologie. Denn nahezu alle neueren anthropologisch orientierten Erzähltheorien gehen davon aus, dass die in der narrativen Konfiguration erzeugte Verknüpfung von Geschehnissen, Handlungen und Figuren sowie die auf Basis dieser Verknüpfungen hergestellten und mitunter verfestigten (und dadurch auch reproduzierbaren) Handlungsmuster und Figurencharakterisierungen wieder ihrerseits auf den Welt- und Selbstbezug der einzelnen Menschen zurückwirken (z. B. Eibl 2004: 273 ff., Koschorke 2012: 20, Neumann 2000: 289 f., Neumann 2009: 236, Neumann 2013: 186). Wobei zu betonen ist, dass die hierbei angeeigneten narrativen Konfigurationen nicht bloß reproduktiv erzählen und daher vermitteln, was zuvor faktisch geschehen ist, sondern vielmehr produktiv in die Welt eingreifen und diese durch ihre erzählerische Gestaltung und Ordnung gewissermaßen miterzeugenFootnote 66 – und zwar im Sinne einer epistemologischen, die Erkenntnis- und Wahrnehmungsweisen des Menschen betreffenden, und einer performativen, das praktische Handeln und Verhalten des Menschen betreffenden, Rückkoppelung (Koschorke 2012: 22 f.). Es lässt sich wohl sagen, dass hierbei zwei Modi des Nachahmens zusammengeführt werden: die symbolische Nachahmung und die mimische Nachahmung. Erstere erzeugt Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen einem bestimmten Vorbild und seiner modellhaften Abbildung (bspw. in Wissenschaft, Technik, Kunst); wobei das Medium des Nachahmens von anderer Natur ist als sein Vorbild: mit symbolischen Ordnungen werden bestimmte Phänomene, Körper und Sachzusammenhänge nachgeahmt (vgl. Ritzer 2004: 85). Letztere bezeichnet die aktionale Reproduktion eines Modells bzw. Vorbilds durch Verhaltensweisen und Handlungen; wobei das Medium des Nachahmens von gleicher Natur ist wie sein Vorbild: der menschliche Körper ahmt das Verhalten eines anderen menschlichen Körpers nach (ebd., 84 f.). Dies betrifft nicht nur einzelne Phänomene (Gesten, Tätigkeiten etc.), sondern auch Charakterzüge und Lebensstile (ebd., 85).

Durch diese Zusammenführung erhält schließlich auch der Begriff der Mimesis eine lebensweltlich-performative Wendung.Footnote 67 Diese findet sich so auch in der literarischen Anthropologie Isers im Zusammenspiel von Mimesis und Performanz wieder (Iser 1991: 481–504). Demzufolge erschöpft sich der literarische Text nicht in der bloßen Wiedergabe eines vorgegebenen Gegenstands oder Sachverhalts; vielmehr ist die Repräsentation immer an einen performativen Akt gebunden (ebd., 481): „ohne die Vergegenständlichung des Nachgeahmten wäre Mimesis nicht denkbar“ (ebd., 485). Iser bezieht sich hierbei explizit auf Aristoteles und Ricœur und versteht den Akt des Nachbildens als einen produktiven Prozess (ebd., 493 f.).Footnote 68 Dieser lässt sich auch anthropologisch begründen. Bereits Aristoteles vermerkt, dass „das Nachahmen unserer Natur gemäß ist“ (Aristoteles 2006: 1448b). So auch Plessner. In seiner Anthropologie des Schauspielers führt er aus, dass Aneignungs- und Nachahmungsleistungen zu den Bedingungen menschlicher Existenz gehören (GS VII 158) und als solche wiederum die Konstituierung der eigenen Identität bedingen: „Hier empfängt der Mensch Richtung und Form aus einem Vorbild. Er bildet sich ihm nach. Er wird durch den Anderen er selbst“ (ebd., 159). Diese theatralische Leistung findet sich bereits in den kulturellen und etymologischen Grundlagen des Mimesis-Begriffs (Ritzer 2004: 81). Schon für Aristoteles (2006: 1448b) hat das dichterische Nachahmen „zwei naturgegebene Ursachen“: zum einen ist es angeboren, zum anderen bereitet es eine besondere Freude.

Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat (ebd.).

Die Freude ergibt sich für Aristoteles aus der pädagogischen Funktion des Nachahmens als eines Mediums der Erkenntnis:

Das Lernen bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen […]. Sie freuen sich deshalb über den Anblick von Bildern, weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei, z. B. daß diese Gestalt den und den darstelle (ebd.).

Quasi am chronologischen Ende der langen Traditionslinie des Begriffs der Mimesis (siehe dazu auch Auerbach 2001 [1946]) wird dieser argumentative Zusammenhang zwischen natürlicher Ursache, pädagogischer Funktion und grundsätzlicher Freude wieder aufgenommen. Neumann (2013: 81–88) etwa verweist in diesem Kontext auf kognitionswissenschaftliche Untersuchungen zum kindlichen Lernen vermittels Nachahmung und stellt eine direkte Verbindung zum aristotelischen Ansatz her:

Die moderne Kognitionswissenschaft bestätigt also Aristoteles: Narration entsteht aus der Freude, die wir bei der Nachahmung von anderen Menschen empfinden. Entsprechend erregt in der Literatur das die stärkste Aufmerksamkeit, was schon die Neugeborenen am meisten anzieht: die Figuren und ihre Handlungen (Neumann 2013: 88).Footnote 69

Der sich daraus ergebende Prozess der lebensweltlichen Aneignung von Handlungen und Figuren auf der Ebene der Mimesis III umfasst dann schließlich sowohl eine rezeptive als auch eine produktive Leistung des menschlichen Selbst. Eine rezeptive Leistung insofern, als sich der Leser auf der einen Seite formale Aspekte der Gestaltung der Erzählung (wie bspw. Handlungsverknüpfung, Einheit der Zeit) und auf der anderen Seite bestimmte Inhalte der Erzählung (bspw. äußerliche und innerliche Charaktereigenschaften der Figuren) aneignet. Daraus entsteht wiederum eine produktive Leistung: Durch die Auseinandersetzung mit formalen und inhaltlichen Aspekten der Erzählung wird der Leser (der damit zum Erzähler wird) dazu angehalten, sich im Spiegel von Erzählungen eine Identität zu setzen – d. h. entweder bestimmte Erzählmuster oder Erzählinhalte für sich selbst zu übernehmen oder zu verwerfen oder zu verändern. Die Ebene der Refiguration macht dadurch „das Leben zu einem Gewebe erzählter Geschichten“ (ZuE III 396).

Das Werk Paul Austers führt dies auf mindestens drei verschiedenen Ebenen vor Augen. Zum Ersten erzählen die Texte der New York Trilogy von Figuren, die über den Umweg des Lesens und Schreibens von Geschichten in vermittelt-unmittelbarem Kontakt mit ihrer Wirklichkeit – ihrer Innen-, Außen- und Mitwelt – stehen und ihr Leben durch diese Geschichten führen. Das Verstricktsein in Geschichten bzw. symbolische Netze erscheint dabei als existenzielle und unaufhebbare Daseinsform des Menschen. Zum Zweiten kann dies auch für die Person Paul Auster gelten. Schließlich praktiziert und inszeniert Auster mit seinen Werken die Verstrickung des eigenen Lebens in Literatur – und hebt dabei vor allem die produktive Leistung des menschlichen Selbst auf dieser mimetischen Ebene hervor. Erscheint doch ein Großteil der Protagonisten als Versionen Austers (Martin 2008: ix); und finden sich darüber hinaus in den Texten doch auch unzählige weitere ReferenzenFootnote 70 auf das eigene Leben – wodurch Auster, wie er selbst sagt, die Grenzen zwischen Leben und Schreiben unterwandern bzw. auflösen will (AH 259).Footnote 71 Zum Dritten beschreibt und reflektiert Auster in seinen Texten, Essays und Interviews die symbolische Verstricktheit des Menschen in Geschichten und die damit einhergehende kulturelle Selbstvermittlung – und hebt dabei vor allem die rezeptive Leistung des menschlichen Selbst auf dieser mimetischen Ebene hervor. So äußert er bspw. in einem Interview: „I believe that the world is filled with stories, that our lives are filled with stories“ (Irwin 2013: 42). Dabei sind es gerade diese bereits vorhandenen Geschichten, die dem eigenen Leben Sinn vermitteln und eine Deutung ermöglichen. Beispielhaft reflektiert dies Auster anhand der literarischen Gattung des Märchens als einer ursprünglichen Erzählform, durch die der Akt des Lesens (als einer Aufnahme von Geschichten) in den Akt des Erzählens (als einer Produktion von Geschichten) übergeht und dieser Übergang vor allem durch die vorhandenen Leerstellen der Narration initiiert wird:

I think that it’s the reader – or the listener – who actually tells the story to himself. The text is no more than a springboard for the imagination. ‚Once upon a time there was a girl who lived with her mother in a house at the edge of a large wood.‘ You don’t know what the girl looks like, you don’t know what colour the house is, you don’t know if the mother is tall or short, fat or thin, you know next to nothing. But the mind won’t allow these things to remain blank; it fills in the details itself, it creates images based on its own memories and experiences (AH 296 f.).

Eingearbeitet wird dieser Gedanke auch in die New York Trilogy, etwa wenn der Erzähler äußert: „The red notebook, of course, is only half of the story, as any sensitive reader will understand“ (NYT 132) und es damit dem Leser überlässt, verbleibende Leerstellen selbst auszufüllen.

Vor diesem Hintergrund ist auch eine der Charakteristiken der Werke Austers zu verstehen: Die Tatsache, dass sich die Ebene der Mimesis III – der „Schnittpunkt zwischen der Welt des Textes und der des Zuhörers oder Lesers“ (ZuE I 114) – durchweg innerhalb der Romane (auf der Ebene der Mimesis II) gespiegelt findet und ein konstitutives Element des Handlungsverlaufs und der Figurenidentität bildet. Nur über den Umweg der Auseinandersetzung mit und Aneignung von Fremd- und Selbsterzählungen können die Protagonisten Austers zu einem Wissen von der eigenen personalen Identität gelangen. Damit beschreiben sie die Situation, in der sich Plessner (vgl. Macht 159) und Ricœur (vgl. NI 65) zufolge das menschliche Individuum befindet: Selbsterkenntnis und Selbstsetzung ist immer gebunden an Selbstauslegung und Selbstinterpretation. Diese Selbstauslegung und Selbstinterpretation vollzieht der Mensch laut Ricœur im Medium von Geschichten – und zwar notwendigerweise. Denn es lässt sich eine zentrale Gemeinsamkeit zwischen den narrativen Theorien Paul Ricœurs und Wilhelm Schapps feststellen (die auch mit dem Ansatz Plessners korreliert): die Ansicht, dass das menschliche Ich zunächst einmal und grundsätzlich ohne spezifisch festgeschriebene und festgestellte Qualitäten ist und alle feststellbaren qualitativen Eigenschaften erst durch die narrative Vermittlung wahrnehmbar bzw. erst hergestellt werden:

Ebensowenig hat das Ich einen Charakter, Neigungen, Triebe, Leidenschaften, hat es Begierden. Es ist nur in Geschichten verstrickt, etwa in Hochstapeleien, in Betrügereien, in Geschichten von Geldgier. Diese Verstricktheit ist eins mit seinen Geschichten. […] Das Ich selbst ist qualitätslos, alle Qualität liegt in den Geschichten (Schapp 2004: 190).

Das Konzept der narrativen Identität ist damit sowohl als theoretisches wie auch praktisches Selbst- und Weltverhältnis des Menschen aufzufassen.Footnote 72 Als theoretisches, weil er über den Umweg der narrativen Form ein Wissen von sichFootnote 73 und von seiner Welt erlangt. Als praktisches, weil die Erzählung der eigenen Identität gleichzeitig als Übernahme (oder auch: Auf-sich-Nahme) dieser anzusehen ist:Footnote 74 „Individuum und Gemeinschaft konstituieren sich in ihrer Identität dadurch, daß sie bestimmte Erzählungen rezipieren, die dann für beide zu ihrer tatsächlichen Geschichte werden“ (ZuE III 397). Trotz verschiedenartiger Gegenargumente – „die Mehrdeutigkeit des Begriffs des Autors; die ‚narrative‘ Unabgeschlossenheit des Lebens; die Verstrickung der Lebensgeschichten untereinander“ (SAA 198) – hält Ricœur hierbei an der Nützlichkeit der Literatur für das alltägliche Leben fest und behauptet, „daß literarische Erzählungen und Lebensgeschichten nicht nur einander nicht ausschließen, sondern sich – trotz oder wegen ihres Kontrastes – ergänzen“ (ebd., 200). Die Erzählung gehört wesentlich zum menschlichen Leben (ebd.). Indem sich die Person die in der Geschichte zutage tretende Reihe von Geschehnissen und Handlungen zuschreibt, umgrenzt sie sich zugleich in ihrer Individualität (vgl. Thomä 2001: 292).Footnote 75 Das menschliche Selbst ist damit sowohl Leser als auch Schreiber des eigenen Lebens. Als Leser ist es bemüht, das eigene Leben zu ergründen; als Schreiber ist es bemüht, das eigene Leben zu führen. Da die eigene Lebensgeschichte unaufhörlich durch all die wahren und fiktiven Geschichten, die das menschliche Subjekt über sich erzählt (ZuE III 396) und erzählt bekommt, refiguriert wird, so muss das narrative Identitätskonzept in einem dynamischen Sinne gedacht werden und darin zugleich die Offenheit und Unabgeschlossenheit des Sich-Erzählens betonen (vgl. Kraus 1996: 169, Keupp u. a. 2006: 57). KohärenzFootnote 76 und KontinuitätFootnote 77 der Lebensgeschichte werden durch die narrative Integration neuer Erlebnisse bzw. das Umerzählen alter Erlebnisse immer wieder neu hergestellt – wodurch die Narrationen auch dafür sorgen, dass Geschehnisse mit Sinn aufgeladen werden und dafür ein Bewusstsein schaffen, dass die narrative Identität auch anders erzählt werden kann:

Zunächst ist die narrative Identität keine stabile und bruchlose Identität; genauso wie man verschiedene Fabeln bilden kann, die sich alle auf dieselben Vorkommnisse beziehen (die man jetzt nicht mehr dieselben Ereignisse nennen sollte), genauso kann man auch für sein eigenes Leben stets unterschiedliche, ja gegensätzliche Fabeln ersinnen (ZuE III 399).

Insofern der Mensch als wesentlich unergründlich gedacht wird, bietet ihm die (literarische) (Selbst-)Erzählung – durch den Akt der Identifizierung mit dem Protagonisten bzw. Helden (SAA 196, Anm. 27) – sowohl die notwendige Begrenzung und Formgebung seiner selbst als auch, dem wieder entgegenlaufend, einen Raum der Offenheit, der sich einer definitiven Bestimmung entzieht und somit weitere Bestimmungen fordert.Footnote 78 Erzählungen ermöglichen dabei laut Ricœur auch – hierbei zeigt sich ein weiterer Anschluss an Begrifflichkeiten der Philosophischen Anthropologie – eine „Art Transzendenz in der Immanenz“ (ZuE II 13). Daher weist die Erzählung immer auch über sich selbst hinaus und provoziert weitere Erzählungen.Footnote 79 In diesem Sinne kann sie keinen eigentlichen Anfang und kein eigentliches Ende haben; beide gehen immer in eine Vorgeschichte und eine Nachgeschichte über (Schapp 2004: 139). Damit ist die Erzählung „sich ständig selbst voraus“ (ebd.). Die Wortwahl Schapps erinnert dabei nicht von ungefähr an die Plessners. Indem die Erzählung in sich selbst Unergründliches wahrt und zum Ausdruck bringt, weist sie als Produkt und Abbild des Menschen jenen wieder auf sich selbst in seiner Unergründlichkeit zurück und gibt ihm diese zu verstehen – und damit sich selbst zu verstehen. Dadurch, dass es dem Leser (und Erzähler) freigestellt ist, „sich die Sache zurechtzulegen, wie er sie versteht“ (Benjamin 1977: 391), wird ihm auch die Freiheit gelassen, sich im Medium des Erzählens selbst zu bestimmen. Dies birgt dann aber schließlich auch eine Freiheit im handelnden Vollzug, denn es bleibt schließlich „dem Leser, der hier wieder zum Handelnden, zum Initiator einer Handlung wird, überlassen, zwischen den zahlreichen Vorschlägen des ethisch Richtigen, die die Lektüre ihm anbietet, zu wählen“ (ZuE III 400). Was der Mensch sei, sagen ihm daher die Geschichten, in die er sich selbst lesend und erzählend verstrickt.

4 Formen narrativer Selbstbezüglichkeit in der New York Trilogy

Dem Erzählen kommt eine zentrale Funktion für das menschliche Selbst- und Weltverhältnis zu. Dabei kann und muss jedoch zunächst einmal differenziert werden. Denn es lassen sich, rein formal betrachtet, sowohl im alltäglichen als auch literarischen Erzählen drei Aspekte unterscheiden: a) die Tätigkeit des Erzählens selbst (als ‚das, was gerade getan wird‘), b) die narrative Aussage (bzw.: ihr propositionaler Gehalt) des Erzählens, welche eine Reihe von Ereignissen zum Gegenstand hat (‚das, was erzählt wird‘), c) die reale oder fiktive Abfolge dieser Ereignisse (‚das, was geschehen ist‘) (vgl. Genette 1998: 15 f.).Footnote 80 Appliziert man dieses Modell auf die eigene Lebensgeschichte, so lässt sich analog dazu von einer weiteren Dreiteilung sprechen: derjenigen zwischen a) dem Erzähler der Geschichte, welcher von den Erlebnissen des b) Protagonisten als demjenigen, dem die Geschichte widerfährt, berichtet; und schließlich c) der real existierenden Person, die ihr Leben führt und dabei sowohl Erzähler als auch Protagonist der eigenen Lebensgeschichte ist – und sich zu jenen immer auch in einer bestimmten Weise verhalten kann und in diesem Verhalten die Erzählung über sich selbst hinausführt (Thomä 2007: 26 ff.). Der einzelne Mensch ist dabei immer auch geleitet von der Grundfrage, wie zu leben sei; was schließlich auch zur Voraussetzung hat, dass das eigene Leben auch (bewusst) anders gelebt werden könnte (ebd., 9). Die Erzählung kann ihm dabei – möglicherweise – Orientierung geben, und zwar hinsichtlich zweier Ansprüche: „zu erfahren, wie ich bin, und zu entwerfen, worauf es mir ankommt“ (ebd., 15).

Da nun diese drei Instanzen beim Erzählen der eigenen Lebensgeschichte in einem Menschen vereint sind (ohne einander vollkommen identisch zu sein), so ist mit dem Verhältnis der Person zum Erzähler einerseits und zum Protagonisten andererseits zugleich ein indirektes Selbstverhältnis gegeben. Daher geht die Person im autobiografischen Erzählen immer eine zweifache Beziehung mit den Instanzen der Erzählung ein: Auf der einen Seite verbindet sie sich mit dem Erzähler, der sich in ihrem Sinne auf das (eigene) Leben bezieht, auf der anderen Seite verbindet sie sich mit dem Protagonisten, der wiederum stellvertretend für die erzählte Person steht (vgl. ebd., 31 f.). Thomä bezeichnet dies auch als „autobiographische Triade“ (ebd., 27).Footnote 81 Das damit verbundene indirekte Selbstverhältnis kann die Formen der Selbstfindung, Selbsterfindung und Selbstbestimmung annehmen. Sie geben jeweils Auskunft darüber, „wie man sich mit sich zurechtfindet, wenn man auf drei Instanzen ‚verteilt‘ und dort jeweils als alter ego gefragt ist“ (ebd.). Dabei gehen diese Formen davon aus, dass das Befinden eines Menschen von diesem dann verstanden werden kann, wenn sein Handeln und Erleiden auch zur Sprache kommt (ebd., 83)Footnote 82 – und zwar im Medium der Erzählung: „Stories happen only to those who are able to tell them“ (NYT 221). Vermittels der Erzählung als sprachlicher Verobjektivierung seiner selbst enthüllt und verhüllt sich der Mensch und geht dabei einen doppelten Dialog ein: mit sich selbst und mit den Anderen. Die verschiedenen Verschriftlichungen der Figuren sind in Austers Romanen als Selbstnarrationen dieser Figuren zu lesen; und zwar auch dann, wenn sie sich zunächst auf die Darstellung eines anderen Lebens beziehen. Die Narrativisierung personaler Identität ist für sie dabei eine notwendige Bedingung, um überhaupt einen Zugang zum sich entziehenden Objekt der (Selbst-)Beobachtung zu bekommen: „Durch seine Geschichte kommen wir mit einem Selbst in Berührung“ (Schapp 2004: 105).

Im Modus der Selbstfindung identifiziert sich die Person mit dem Protagonisten (Thomä 2007: 36), der dann in der autobiografischen Triade die zentrale Stellung einnimmt. Der Erzähler hat sich hier in seinem Erzählen lediglich danach zu richten, was dem Protagonisten widerfahren ist; es gilt lediglich, dieses auch festzustellen. Wobei das Feststellen gleichzeitig als Fest-Stellung der personalen Identität fungiert: So, wie mir meine Geschichte offenbart, dass ich (als deren Protagonist) war, so bin ich auch und so werde ich sein. Ziel der Selbstfindung ist es, einen festen Persönlichkeitskern bzw. Charakter zum Vorschein zu bringen. Dieser wird dann als wesentliches Merkmal der Person ausgezeichnet bzw. gesetzt. Demgegenüber nimmt im Modus der Selbsterfindung der Erzähler die zentrale Stellung ein (ebd.). Ihm wird die Fähigkeit eingeräumt, die Erzählung des eigenen Lebens – und damit auch die eigene Identität – zu gestalten und zu konstruieren (ebd.). Denn sowohl Form als auch Material des Erzählens sind immer von bestimmten (gegenwärtigen) Bedürfnissen und Perspektiven des Erzählers abhängig. Damit findet eine Verschiebung statt: Aus dem „Erzählen vom Ich“ (im Modus der Selbstfindung) wird nun ein „Erzählen als Ich“ (ebd., 128); und dieses „Erzählen als Ich“ ist in einem ständigen (Um- und Neu-)Interpretieren dessen, was die Person als Protagonist ihres Lebens wahrgenommen, erlitten und erlebt hat, begriffen – wodurch auch der Protagonist immer wieder in einem anderen Lichte erscheint. Im Modus der Selbstbestimmung schließlich nimmt die Person die zentrale Stellung ein. Das Erzählen als bewusst eingesetztes Mittel des individuellen Selbstbezugs trägt hierbei dem Umstand Rechnung, dass die Person sich zu dem, was ihr geschieht und was sie tut (einschließlich des Erzählens als einer [interpretatorischen] Handlung), verhalten kann und sich somit eine Autonomie gegenüber dem Erzählten bewahrt. Sie ist weder an den Protagonisten noch an den Erzähler gebunden, sondern verweist sich selbst auf die Erzählung um Rechenschaft abzulegen, Handlungsalternativen zu prüfen oder Erinnerungen zu mobilisieren (ebd., 28) – ohne jedoch durch diese festgelegt zu werden.

Diese Formen des Selbstverhältnisses müssen jedoch nicht auf die eigene Geschichte beschränkt bleiben. Da das Individuum immer schon in aktiver und passiver Weise an einem oder mehreren diskursiven und narrativ strukturierten kulturellen Kontext(en) teilhat, lassen sich Selbstfindung, Selbsterfindung und Selbstbestimmung nicht nur auf die eigenen, sondern auch auf fremde Erzählungen beziehen.Footnote 83 Dafür finden sich aus anthropologischer Perspektive und in Verschränkung der Ansätze Plessners und Ricœurs zwei Grundlagen. Zum einen ist es die mit Unergründlichkeit und der exzentrischen Positionalität gegebene Plastizität des Menschen, zum anderen diejenige anthropologische Fähigkeit, die man mit Robert Musil als Möglichkeitssinn bezeichnen könnte.Footnote 84 Im Mann ohne Eigenschaften wird dieser folgendermaßen bestimmt: „So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“ (Musil 1978a: 16). Eine Darstellung und Reflexion dieser anthropologischen Fähigkeit findet sich nicht nur in der New York Trilogy. Der Möglichkeitssinn bildet auch die Grundlage des jüngsten und bisher umfangreichsten Roman Austers, dem im Jahr 2017 erschienen 4 3 2 1; erzählt dieser doch die Lebensgeschichte des Protagonisten Ferguson in vier verschiedenen Varianten, die ihren Ausgang in einem jeweils anders verlaufenden Ereignis nehmen.Footnote 85 Nun ist es Ricœur zufolge eine der wesentlichen Eigenschaften des literarischen Textes, den Möglichkeitssinn nicht nur zu realisieren, sondern auch zu konstituieren – zielt der Text doch immer „über sich selbst hinaus auf eine mögliche Welt ab, eine Welt, in der ich wohnen könnte, um dort meine eigenen Potentialitäten als In-der-Welt-sein zu entwickeln“ (Ricœur 2005a: 199).Footnote 86 Dies gilt nicht allein nur für literarische Erzählungen. Relevant sind vielmehr alle möglichen Erzählungen, die „der in Geschichten Verstrickte“ (Schapp 2004: 123) in seinen kulturellen und diskursiven Kontexten vorfindet. Dadurch, dass innerhalb dieser Kontexte bestimmte Erzählmuster und -inhalte allgemein geteilt werden, ist die Person auf ein „Archiv möglicher Selbste“ (Kraus 1996: 173) verwiesen, aus dem sie sich als natürliches Kulturwesen – d. h. in Realisierung ihrer exzentrischen Positionalität – bedienen kann und muss. Dieses kulturell vermittelte Archiv möglicher Selbste bietet dem konkreten historischen Selbst eine Auswahl einander „konkurrierende[r] Identifikationsmodelle[]“ (NI 66). Die hierbei angeeigneten (aber auch verworfenen) Erzählmuster strukturieren zugleich auch den Bereich des Praktischen insofern vor, als sie typische Verlaufs- bzw. Handlungsmuster vermitteln.Footnote 87

Damit bietet dieses Archiv zugleich einen Fundus verschiedener möglicher Erzählweisen und Rollen, die die Art und Weise, in der sich jemand erzählen – und daher auch verstehen – kann, schon vorprägen (Kraus 1996: 160).Footnote 88 Mit Blick auf seine natürliche Künstlichkeit bieten sie dem menschlichen Selbst einen Ausgleich und eine Stütze seiner eigenen Gebrochenheit; schließlich auch die Möglichkeit, sein Leben in und anhand der verobjektivierten Modelle zu führen. Mit Blick auf seine vermittelte Unmittelbarkeit bieten sie dem menschlichen Selbst eine Vermittlung zu sich selbst; schließlich auch die Möglichkeit, sich in den verobjektivierten Modellen selbst zu erkennen. Mit Blick auf seinen utopischen Standort bieten sie dem menschlichen Selbst das Verständnis der eigenen Zufälligkeit; schließlich auch die Möglichkeit, mit den verobjektivierten Modellen das eigene Selbst und die eigene Welt zu transzendieren und sich einen Fluchtpunkt im Absoluten zu imaginieren. Entscheidend aus allen drei Perspektiven ist, dass die Narration dem an sich ungeformten und unergründlichen menschlichen Individuum eine verobjektivierende Form bietet, mit der es sich selbst verkörpern kann. Dies umfasst sowohl die hermeneutische Version literarischer Anthropologie Isers und das dabei zum Ausdruck gebrachte Wechselspiel zwischen Inszenierungsnotwenigkeit und Plastizität des Menschen als auch die biologische Version literarischer Anthropologie Eibls und das dabei zum Ausdruck gebrachte Wechselspiel genetischer Dispositionen, offener Verhaltensprogramme und kultureller Ausgleichsangebote. Nach Eibl etwa stellen Erzählungen das Material bereit, in das sich die menschliche Person hinein vergegenständlichen kann (Eibl 2004: 274). Dementsprechend erscheint das menschliche Ich letztlich als „ein Aggregat von Geschichten“ (ebd.) – was einerseits produktionsorientiert, andererseits aber auch vor allem rezeptionsorientiert gedacht wird: „Womöglich deutlicher ist die Funktion bei den Lesenden, Rezipierenden: Sie finden eine fertige Formulierung vor, an die sie ihre Subjektivität anschließen können“ (ebd., 274 f.). Insofern ist das menschliche Selbstbild ein „in externe Materialen gefertigte[s] Selbstbild“ (ebd., 273).

Bestimmte Erzählformen erweisen sich dabei dem Selbst als besonders zugänglich und sorgen so – u. a. durch ihren hohen Wiedererkennungswert – für eine höhere Rezeptions- und Produktionsbereitschaft.Footnote 89 In ihnen lassen sich bestimmte prototypische Inhalte und Formen des Selbst-Erzählens finden. Aus einem solchen Archiv bedient sich Quinn durch die Identifizierung mit der Detektivfigur Max Work, vermittels derer er bestimmte Erzählmuster und Erzählinhalte übernimmt. Zusammengenommen bilden sie eine wohlgeformte Erzählung. Diese orientiert sich hauptsächlich an Aristoteles und ist daher bestrebt, ein abgeschlossenes Ganzes zu erzeugen – umso stärker dann, wenn Innen-, Mit- und Außenwelt des Menschen in zunehmend ungeordneter Weise erscheinen.Footnote 90 Bestimmt ist die wohlgeformte Erzählung durch fünf Charakteristika, mit denen eine Einheit der Handlung hergestellt werden soll: a) die Hinführung zu einem sinnstiftenden Endpunkt, welcher entweder möglichst werthaltig und wünschenswert oder aber nicht wünschenswert ist; b) die Einengung auf relevante Ereignisse; c) die narrative Ordnung der Ereignisse (z. B. durch eine lineare Chronologie); d) die Herstellung von Kausalverbindungen; e) das Setzen von ‚Grenzzeichen‘, welche die Erzählungen mit bestimmten Mitteln umrahmen (und somit das ‚Betreten‘ bzw. ‚Verlassen‘ der fiktionalen Welt anzeigen) (vgl. Kraus 1996: 172 f.). All diese Charakteristika lassen sich auch in Quinns Versuch finden, sich eine Detektivgeschichte anzueignen und diese auch auszuleben. Quinn übernimmt die Erzählfigur, weil sie ihm als wohlgeformte Erzählung gegenwärtig ist; und er versucht mit ihr, sich selbst als wohlgeformte Erzählung zu erzählen. Dies geschieht im quasi kompensatorischen Versuch, der Unverständlichkeit und Ungeordnetheit des (eigenen) Lebens eine narrative Ordnung gegenüberzustellen und sie auf das (eigene) Leben zu applizieren: „Im Leben, wie es immer schon (zerrissen) ist, kommt demnach der Wunsch auf, daß man es in der Erzählung ordnen will“ (Thomä 2007: 21). Dadurch soll sich das (ungeordnete) Leben an der (geordneten) Form der Erzählung ausrichten und anpassen. Realisiert wird dies im Modus der Selbstfindung, den Quinn jedoch nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf Stillman Sr. anwendet. Konfrontiert wird Quinn dabei allerdings mit mehreren Problembereichen, die allesamt zu der Grundfrage zurückführen, wie sich über jemanden sprechen bzw. schreiben lässt. Thematisiert und reflektiert wird diese Fragestellung bereits in Austers Roman The Invention of Solitude, dessen erster Teil („Portrait of an Invisible Man“) von Auster als Reaktion auf den Tod seines Vaters geschrieben wurde und in dem eben jener porträtiert wird. In einem Interview äußert Auster dazu:

In the act of trying to write about him, I began to realize how problematic it is to presume to know anything about anyone else. While that piece is filled with specific details, it still seems to me not so much an attempt at biography but an exploration of how one might begin to speak about another person, and whether or not it is possible (AH 258).

In der New York Trilogy wird dieser Problembereich wieder aufgenommen. Das Erzählen der Lebensgeschichte gestaltet sich hierbei als quest (Klepper 1996: 251). Ziel ist dabei das Auffinden personaler Identität, welche durch das Schreiben und Erzählen jedoch nicht nur ermöglicht und gesichert, sondern zugleich gefährdet und behindert wird (ebd.). Zunächst ist da wieder das Problem der von Quinn vertretenen und anvisierten Wahrheitstheorie. Als Vorbild der Verschriftlichung Stillman Srs. dienen ihm die Reiseaufzeichnungen Marco Polos, in denen er folgenden Anspruch formuliert findet:

We will set down things seen as seen, things heard as heard, so that our book may be an accurate record, free from any sort of fabrication. And all who read this book or hear it may do so with full confidence, because it contains nothing but the truth (NYT 6).Footnote 91

Dementsprechend erzeugt Quinn ein detailgetreues und nichts auslassendes Abbild der Verkörperungsformen Stillmans, von dem er annimmt, dass es ihm einen Zugang zu Stillmans Motiven eröffnet:

Instead of merely jotting down a few casual comments, as he had done the first few days, he decided to record every detail about Stillman he possibly could. […] Not only did he take note of Stillman’s gestures, describe each object he selected or rejected for his bag, and keep an accurate timetable for all events, but he also set down with meticulous care an exact itinerary of Stillman’s divagations, noting each street he followed, each turn he made, and each pause that occured (NYT 62).

Dabei verbindet Quinn insbesondere mit der Verschriftlichung auch die Hoffnung auf die Herstellung einer ihm zugänglichen und die Wirklichkeit in akkurater Weise wiedergebende und begreifbar bzw. handhabbar machenden Ordnung: „Das Niederlegen der Ereignisse in den Strukturen von Wort und Schrift soll, wie im Detektivroman, der Unübersichtlichkeit der labyrinthischen, unüberschaubaren Wirklichkeit eine kohärente Struktur verleihen und so den Lauf der Ereignisse in eine kontrollierte Matrix, einer überschaubaren Textur aus Worten, überführen“ (Schmidt 2014: 214 f.). Das verschriftlichende Erzählen erhält hierbei die Funktion, sowohl kognitive als auch lebensweltliche Orientierung herzustellen: „In that way, perhaps, things might not get out of control“ (NYT 38). Da ihm Stillman jedoch grundsätzlich entzogen bleibt,Footnote 92 vermutet Quinn, dass sich hinter der Oberfläche der Handlungen noch unentdeckte Zusammenhänge befinden könnten – sind doch die gelebten Geschichten des Einzelnen immer in die Geschichten Anderer verstrickt (SAA 197). Dabei ist mit der narrativen Herstellung von Ordnung in der New York Trilogy ein doppeltes Problem verbunden: entweder wachsen die Verstrickungen ins Unermessliche und machen eine Verschriftlichung unmöglichFootnote 93 oder sie sind für den Einzelnen gar nicht einsehbar.

Quinn scheitert jedenfalls durchweg an den von ihm verwendeten Methoden und Begriffen – er wird, sozusagen, von einem trügerischen Verstehensmodell in die Irre geführt. Dabei kann er weder einen Einblick in seine eigenen Verstrickungen noch in die der anderen Figuren gewinnen, weshalb er ständig neue Zusammenhänge erfindet, die der detektivischen Logik angemessen erscheinen. Aber nicht nur die Feststellung eines Zusammenhangs zwischen den Handlungen der Figuren untereinander misslingt, auch eine Verbindungslinie zwischen den vergangenen und gegenwärtigen Handlungen Stillmans lässt sich nicht auffinden: „the facts of the past seemed to have no bearing on the facts of the present“ (NYT 67). Der gegenwärtige Zustand Stillmans ergibt sich nicht folgerichtig aus dem vergangenen Zustand, es lässt sich kein Lebenszusammenhang herstellen. Diesen kann auch Blue im Roman Ghosts nicht auffinden, jedoch aufgrund eines anderen Problems. Blue ist dazu gezwungen, in seinem Apartment zu sitzen, Black zu beobachten und ein Buch zu lesen. Dieses Buch – das hier sowohl auf Thoreaus Walden als auch, im übertragenen Sinne, auf den (beobachteten und beobachtenden) Menschen referiert – bietet ihm allerdings keinerlei Handlung: „There is no story, no plot, no action – nothing but a man sitting alone in a room and writing a book“ (NYT 169). Ohne Handlung kann aber keine Lebensgeschichte erzählt werden. Die Feststellung der personalen Identität wird daher immer wieder aufgeschoben; wie auch die Feststellung dessen, was überhaupt der Fall ist. Die eine endgültige Begrenzung der Geschichte kann dabei nicht gewährleistet werden. Insofern Austers Romane eine systematische Enttäuschung der Lesererwartung an einen konventionellen Handlungsverlauf betreiben, insofern enttäuschen sie zugleich auch die Erwartungen Quinns. Zwar wird in allen drei Romanen der New York Trilogy der Versuch unternommen, anhand des Erzählens und damit im Medium der Erzählung die Unergründlichkeit und Exzentrizität der menschlichen Lebensform zu kompensieren und den verschriftlichten Figuren eine fixierbare Gestalt zu geben.Footnote 94 Doch ebenso wie Anfang und Ende des eigenen Lebens der Erfahrung immer entzogen sind,Footnote 95 können weder Protagonisten noch Erzähler endgültige Begrenzungen der Identitätserzählungen vornehmen. „But that is only a beginning“, stellt der Erzähler in The Locked Room wiederholt fest (NYT 209, 235). Ein Anfang und ein Ende wird zwar immer gesetzt, muss aber immer wieder korrigiert und weiter nach hinten oder nach vorn verlegt werden – was schließlich auch zum Verlust möglicher und aspirierter Sinnstiftung führt; ist es doch das Ende der Fabel, das der gesamten narrativen Konfiguration einen Sinn verleiht und damit auch Anfang und Mitte beeinflusst. Denn angesichts aller textuellen Dissonanzen ist es insbesondere die Suche nach einem sinnspendenden und kohärenten Schluss, durch den die Erzählung zu einer Ganzheit wird; einer Ganzheit, die jedoch immer auch vom Leser im Akt des lesenden Verstehens hergestellt wird:

Eine Geschichte mitvollziehen heißt, inmitten von Kontingenzen und Peripetien unter Anleitung einer Erwartung voranzuschreiten, die ihre Erfüllung im Schluß findet. Dieser Schluß ist nicht im logischen Sinne in vorausgehenden Prämissen enthalten. Er gibt der Geschichte einen ‚Schlußpunkt‘, der wiederum den Gesichtspunkt beibringt, von dem aus die Geschichte als Ganzes wahrnehmbar wird. Die Geschichte verstehen heißt zu verstehen, wie und warum die einander folgenden Episoden zu diesem Schluß geführt haben, der keineswegs vorhersehbar war, doch letztlich als annehmbar, als mit den zusammengestellten Episoden kongruent erscheinen muß (ZuE I 108).

Erst vom Ende her ist erkennbar, wie die einzelnen Elemente der Erzählung zusammenpassen (Neumann 2013: 56). Dies wird auch Quinn zum Problem; versucht er doch, in analytischer Weise aus dem Ende der Geschichte auf deren Anfang zu schließen: „By coming to the end, perhaps he could intuit the beginning“ (NYT 70). Doch Geschichten sind eben nicht prognostizierbar wie naturgesetzliche Abläufe (Marquard 2000b: 60). Da das Ende seines Falls als ein Nicht-Vorhandenes jedoch nicht mit dem von ihm imaginierten Ende einer typischen Detektivgeschichte korrespondiert, so muss er Anfang und Ende immer wieder aufheben und aufschieben.Footnote 96 Dadurch kann er aber auch keine Begrenzung seiner story vornehmen und die Einheit der Handlung gewährleisten. Geht aber die Einheit der Handlung verloren, so ist auch die Einheit des Selbst der Gefahr ausgesetzt. Denn Erzählform und Erzählinhalt stehen laut Ricœur in einem zirkulären Verhältnis zueinander: Je mehr die Erzählung an narrativer Qualität verliert (so wie es aus der Perspektive Quinns geschieht), desto mehr bewegt sie sich auf die Annullierung des Protagonisten zu – und umgekehrt (vgl. NI 62, ZuE III 398). Denn dem Identitätsverlust des Charakters entspricht dann schließlich auch ein Konfigurationsverlust der Erzählung, der insbesondere auch eine Krise des Abschlusses der Erzählung hervorruft (SAA 183 f.): „Es kommt so zu einer Rückwirkung der Figur auf die Fabel“ (ebd., 184).

Daher ergeben sich Probleme bezüglich des Konzeptes der Selbstfindung immer dann, wenn das, was gefunden werden soll, gar nicht auffindbar ist und die Erzählbarkeit des eigenen und fremden Lebens an ihre Grenzen stößt. Durch die Feststellung, dass sich das Leben Stillman Srs. der Selbstfindung entzieht, wird dieser Modus für Quinn bezüglich der Anwendung auf sich selbst mehr als fragwürdig. Findet und übernimmt Quinn zunächst eine stabile und bruchlose Identität in der Detektivfigur Max Work, so ist er durch Stillman Sr. mit einer brüchigen, nicht-feststellbaren Identität konfrontiert, die auf ihn selbst zurückwirkt. Er wird dadurch, so ließe sich mit Ricœur sagen, mit „der Hypothese seines eigenen Identitätsverlusts“ (ebd., 204) konfrontiert – und steht damit zugleich paradigmatisch auch für das in seiner eigenen Lebenswelt verortete lesende Selbst (vgl. ebd.). Die personale Identität findet nun keinen Rückhalt mehr in der Selbigkeit (idem) und ist dadurch auf ihre Selbstheit (ipse) verwiesen.Footnote 97 Die Unergründlichkeit des Anderen offenbart dem menschlichen Selbst dadurch auch die eigene Unergründlichkeit. Quinn scheitert an dem Versuch, sich eine eigene kohärente und konsistente Lebensgeschichte durch die Zeit hindurch zu erzählen: „He tried to think about the life he had lived before the story began. This caused many difficulties, for it seemed so remote to him now“ (NYT 127). Der Bruch zwischen seinem ‚naiven‘ Leben vor dem ‚Fall‘ und der Aufdeckung der Fragwürdigkeit seiner eigenen Existenz ist und bleibt für ihn unüberwindbar. Auch die Selbstnarrationen Quinns geben in ihrer anekdotischen, episodischen und selbstreflexiven Form Aufschluss darüber.Footnote 98 Dabei zeigt sich in diesen auch die ambivalente Situation Quinns, der seit mehreren Jahren wieder seinen eigenen Namen auf ein Buch setzt; ein Umstand, der ihm als unerheblich erscheint (NYT 39) – was er jedoch nicht ist. Denn er zeigt zweierlei. Zum einen das indirekte Selbstverhältnis, in dem Quinn unbewusst schon immer lebt. Bereits zu Beginn des Romans wird deutlich, dass er nicht etwa als er selbst, sondern vor allem durch die imaginäre Figur Max Work sein Leben führt und mit seiner Umgebung in Kontakt tritt:

He had, of course, long ago stopped thinking of himself as real. If he lived now in the world at all, it was only at one remove, through the imaginary person of Max Work. His detective necessarily had to be real. The nature of the book demanded it. If Quinn had allowed himself to vanish, to withdraw into the confines of a strange and hermetic life, Work continued to live in the world of others, and the more Quinn seemed to vanish, the more persistent Work’s presence in the world became (NYT 9).

Er lebt hierbei schon immer in einem existenziellen Bruch, der eine Differenz zwischen seiner selbst als realer und imaginärer Person markiert. Allerdings befindet sich Quinn nur auf einer Seite des Bruchs, der der imaginären Person. Dieser Bruch zieht sich durch die gesamte Handlung: als Paul Auster (im Verhältnis zu den Anderen) widmet sich Quinn als Max Work (im Verhältnis zu sich selbst) dem Fall, und zwar geleitet von den Imaginationen, die er als William Wilson erzeugt. In dieser „triad of selves“ (NYT 6) ist er nach allen Seiten hin immer durch etwas Anderes vermittelt, das ihn – insofern er in seinen Vermittlungen aufgeht und diese ihm nicht als Vermittlungen durchsichtig werden – in einen möglichen Selbstverlust führt und den Leser mit der Hypothese eines Selbstverlusts konfrontiert. Erst angesichts dieses drohenden Selbstverlustes versucht Quinn (und zwar nun nicht mehr als William Wilson, sondern als Quinn), zum anderen, mit der eigenen Selbstverschriftlichung sein Leben in eine Form zu bringen und sich selbst gegenwärtig zu werden (NYT 40). Er wird nunmehr auch bewusst vom Protagonisten der Handlung zum Erzähler. Die ihm verwehrt bleibende Selbigkeit der eigenen Identität (als Protagonist) bedingt dabei jedoch nicht den Verlust der Selbstheit (als Erzähler); eher im Gegenteil: Je mehr der Figur an Beständigkeit entzogen wird, desto stärker tritt ihre auf dem Konzept der Selbstheit basierende Fähigkeit hervor, sich über den Umweg über Andere und Anderes kommunikativ auf sich selbst zu beziehen und sich in diesem Bezug selbst zu setzen; auch, wenn in der Setzung zugleich immer die eigene Auflösung mit enthalten ist. Die gesamte Innen-, Außen- und Mitwelt, in der sich Quinn befindet und die er zugleich ist, erscheint letztlich immer als eine Form der Verobjektivierung seiner selbst durch Andere und Anderes. Erst dann, wenn Quinn die letzte Möglichkeit, diesen Umweg zu gehen, genommen wird, ist er dem eigenen Verlust ausgesetzt, da er es nun nicht mehr vermag, sich selbst zu verobjektivieren und zu begrenzen. Daher ist zwar das Ende für Quinn vorhersehbar, nicht jedoch vorstellbar: „The last sentence of the red notebook reads: ‚What will happen when there are no more pages in the red notebook?‘“ (NYT 131). Alle drei Romane deuten dabei auf die gleiche Konstellation hin: Sobald die Möglichkeit der Verschriftlichung des eigenen Selbst nicht mehr gegeben ist und das Erzählen verunmöglicht wird, verschwinden auch die Figuren aus der Geschichte.Footnote 99

Betrachtet man Quinns Selbst- und Weltverhältnis aus dessen eigener Perspektive heraus, so lässt sich feststellen, dass Quinn im Modus der Selbstfindung denkt und handelt. Betrachtet man Quinn jedoch von außen, so wird die Selbstfindung zur Selbsterfindung, in der Fakt und Fiktion des Falls nicht mehr voneinander unterscheidbar sind. Quinn vermeint zwar, eine Geschichte vorzufinden,Footnote 100 in der Tat erfindet er diese Geschichte jedoch zu einem Großteil. Denn er befindet sich von Anfang an in den von ihm selbst ihr Autor bereitgestellten imaginären Formen. Damit erscheint Quinn, wie auch die anderen Detektivfiguren der Trilogie, als eine Mischung aus Geschichtsschreiber und Dichter.Footnote 101 Als Geschichtsschreiber versucht er, ein genaues Abbild dessen zu geben, was vor seinen Augen abläuft – gemäß den Geschehnissen, die der speziellen Person Stillman Sr. tatsächlich widerfahren. Als Dichter erschafft er dabei jedoch zugleich ein Abbild dessen, was vor seinen Augen ablaufen könnte – gemäß der allgemeinen Struktur des Detektivromans und den in ihm dargestellten Charakteren. Die in der aristotelischen Poetik auf dem poiesis-Begriff fußende Verbindung von Dichtung und Geschichtsschreibung wird in der Erzähltheorie Ricœurs wieder aufgenommen und verstärkt. Die Erzählung ist dabei nicht nur Geschöpf der Realität, sondern auch Schöpfung von Realität. Sowohl in der historischen als auch in der fiktiven Erzählung lassen sich auf der Ebene der Fabelkomposition jeweils konstitutive Merkmale der anderen Erzählform finden, weshalb Ricœur einerseits von einer „Fiktionalisierung der Historie“ (ZuE III 295) und andererseits von einer „Historisierung der Fiktion“ (ebd., 306) spricht.Footnote 102 Erzeugt wird dadurch auch eine „Gleichzeitigkeit des Wirklichen und des Möglichen“ (Iser 1990: 24). Auf der einen Seite präsentiert die fiktive Erzählung dem Leser eine erfundene Handlung in einer solchen Weise, dass sie tatsächlich stattgefunden haben könnte, auf der anderen Seite stellt die historische Erzählung dem Leser eine reale Handlung so dar, dass er sie als eine mögliche wahrnehmen kann (vgl. Breitling 2007: 147 f.). Diese Verschränkung führt Ricœur letztlich zu seiner zentralen Pointe und Schlussfolgerung: Durch die Aneignung der in der narrativen Konfiguration erzeugten Überkreuzung von Fiktion und Historie wird die menschliche Lebenswelt dahin gehend refiguriert, dass in ihr die erzählte Zeit zur menschlichen Zeit wird (ZuE III 163 und 311).

In den Romanen Austers gehen die beiden Perspektiven der Historisierung der Fiktion und der Fiktionalisierung der Historie ineinander über; jedoch mit einem anderen Verlauf und einer anderen Pointe. Dadurch, dass die vermeintlich rein faktische Wiedergabe des Geschehens keinen Zugang zur Identität des Beobachteten eröffnet, versuchen sich die Figuren an der Fiktionalisierung der Geschehnisse. Für Blue gehören die von ihm erdachten möglichen Geschichten über Black ebenso zu dessen Geschichte wie die tatsächlichen Geschehnisse (NYT 147).Footnote 103 Quinn ist bestrebt, den zufälligen (realen) Ereignissen eine Geschichte entgegenzustellen, die auf Notwendigkeit oder zumindest Wahrscheinlichkeit beruht. Da im Detektivroman alles seine notwendige Ordnung habe (NYT 8), diese Ordnung von Quinn in seinem Fall jedoch schmerzlich vermisst wird – „there seemed to be no substance to the case“ (NYT 64) –, so versucht er selbst, die Einheit der Handlung und der Figuren herzustellen. Durch das beständige Umdeuten des eigenen Falls zeigt sich, dass dieser nicht an sich gegeben, sondern von ihm erfunden ist: Die Selbstfindung Quinns basiert somit auch auf ihrer Erfindung. Dabei setzt er sich mit dieser – seiner – Geschichte zwar etwas entgegen, geht aber in diesem Entgegengesetzten restlos auf, ohne Bewusstsein, dass er selbst (als William Wilson) der Ursprung des Entgegengesetzten (Max Work) ist: „Der Mensch findet zuletzt in den Dingen nichts wieder, als was er selbst in sie hineingesteckt hat“ (Nietzsche KSA 12: 154). Quinn selbst ist es, der „das geschaffen hat, was er bewunderte“ (ebd.). Er befindet sich immer in seinen selbst erfundenen, aber unabhängig von ihm existierenden Geschichten. Seine narrative Identität ist daher weder vollkommen erfunden, noch vollkommen vorgefunden – sondern durch eine Vermittlungsleistung zwischen beiden Dimensionen konstruiert.Footnote 104 Quinn ist zugleich Erzähler und Protagonist, Finder und Erfinder seiner Geschichten.Footnote 105 Doch da er keine Distanz zu diesen Geschichten aufbauen kann und diese seine Geschichte nicht als seine Geschichten wahrnimmt, muss ihm letztlich der Modus der Selbstbestimmung verwehrt bleiben. In seiner „schöpferische[n] Subjektivität“ hat er sich, wie es bei Plessner heißt, „produktiv-selbstvergessen […] ins Dasein und in Geltung gesetzt“ (Macht 149). Als eine in der New York Trilogy imaginierte Person steht Quinn zwar theoretisch in einem Verhältnis zu sich selbst als Erzähler und Protagonist; da er jedoch vermeintlich unmittelbar in diese übergeht, wird das Verhältnis in Quinns alltäglichen Lebensvollzügen für ihn selbst nicht durchsichtig.

Diese letzte Form des Selbstverhältnisses bleibt dem Ich-Erzähler in The Locked Room vorbehalten. Indem er nach den Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen des Erzählens fragt, begibt er sich nicht nur in ein reflexives Verhältnis zu seinen Geschichten, sondern auch zu sich selbst als Erzähler und Protagonist dieser Geschichten – ein Verhältnis, welches selbst wieder, so ließe sich mit Schapp (2004: 127) sagen, zu seiner Lebensgeschichte gehört. Er verweist sich selbst auf die Grenzen der Ergründung des eigenen und des anderen Lebens – und die daran anschließende Fiktionalisierung des unergründlichen Geschehens: „instead of an investigator I was now an inventor“ (NYT 248). Dabei wird ihm die Vermischung von Fakt und Fiktion, welche die Lebenserzählung kennzeichnet, bewusst. Jedes Leben, so der Ich-Erzähler, sei – egal wie viele Fakten über es zusammengetragen und welche Verbindungen zwischen diesen hergestellt werdenFootnote 106 – wesentlich unerklärlich und widersetze sich daher dem Erzählen: „Every life is inexplicable, I kept telling myself. No matter how many facts are told, no matter how many details are given, the essential thing resists telling“ (NYT 247).Footnote 107 Das erzählte Leben verweist den Erzähler dabei auf eine anthropologische Unumgänglichkeit: „our own incoherence“ (ebd.). Was er letztgültig ist, bleibt dem Menschen daher immer verborgen und undurchsichtig; er kann nie ganz zu sich selbst gelangen. Damit fordert die anthropologische Konstitution aber zugleich auch das Erzählen heraus; und zwar als einen Versuch, eine Form und einen Inhalt für dasjenige zu (er)finden, was sich dem Menschen aufgrund seiner exzentrischen Positionalitätsform beständig entzieht – die eigene Identität – und diesen konstitutiven Entzugscharakter zugleich auch reflektiert. Die Erzählung nimmt die Unergründlichkeit des Menschen sowohl inhaltlich als auch formal in solch einer Weise in sich auf, dass sie als Unergründlichkeit zum Ausdruck gebracht werden kann (d. h.: nicht durch feststellende Bestimmungen ergründet werden soll) und schließlich auf denjenigen rückverweist, dessen Ausdruck sie ist – und der dadurch sich selbst in seiner Unergründlichkeit zum Ausdruck bringen und verstehen kann. Immer auf der Suche nach dem (immer wieder aufgeschobenen) Anfang, Zusammenhang und Ende der eigenen und fremden Geschichte(n), gibt sich die Person des Ich-Erzählers dadurch, dass sie das Erzählte bewusst von sich abgrenzt und zugleich in solcher Weise auf sich bezieht, dass sie sich damit auf sich selbst bezieht, die eigene (erzählte) Unergründlichkeit zu verstehen.Footnote 108 Ihre eigene Undurchsichtigkeit wird ihr ebenso gegenwärtig wie die Art und Weise ihres (indirekten) Selbst- und Weltverhältnisses. Sie realisiert zwar die Formen der Selbstfindung und Selbsterfindung, geht aber nicht restlos in ihnen auf. Da sie aus der (Detektiv-)Geschichte aussteigt, bewahrt sie sich eine Autonomie gegenüber der (angeeigneten) narrativen Identität. Man könnte auch, mit Blick auf Schapps berühmte Formel, sagen: Sie entstrickt sich. Sie, die Person, wird nun nicht mehr – wie Quinn – erzählt. Der damit verbundene Freiheitsgewinn (im Sinne eines negativen Freiheitsbegriffs: der Freiheit von etwas) schafft dann wieder die Voraussetzung dafür, dass sie sich selbst (im Sinne eines positiven Freiheitsbegriffs: der Freiheit zu etwas) auch anders erzählen kann.