Die >Lebens-Kunst< der Ninon Ausländer-Hesse (1895-1966)

»Ich produzierte nicht Kunst, nur mein Leben: das war mein Werk«

Als der vierundfünfzigjährige Hermann Hesse im November 1931 die damals sechsunddreißigjährige Ninon Ausländer heiratete - es war seine dritte und ihre zweite Ehe schrieb er in einem Brief:

  • »Morgen nachmittag gehe ich aufs Standesamt, um mir den Ring durch die Nase ziehen zu lassen. Es war Ninons Wunsch schon lange, und diesen Sommer wurde ihre Wiener Ehe geschieden und da sie jetzt das Haus so sehr hat bauen helfen etc. etc., kurz es geschieht nun also.«

In einem Brief an Alfred Kubin äußerte er sich noch zynischer:

  • »Meine Heirat ist nichts anderes, als was bei mir eben eine Heirat sein kann: Ein Akt der Ergebung nach langem Sträuben, eine Gebärde des Nachgebens und Fünfe grade sein lassen der Frau gegenüber. Immerhin, ich bin dieser Frau dafür dankbar, daß sie mich an der Grenze des Alters noch einmal in Versuchung geführt und zu Fall gebracht hat daß sie mein Haus führt und mich mit leichten bekömmlichen Sachen füttert, da ich meistens krank bin.«

Ganz anders stellte sich der Schritt der Eheschließung für Ninon Ausländer-Hesse dar. Euphorisch schrieb sie an Hesse einen Tag nach der Trauung:

»Ich liebe dich immer - Vogel - kleiner Knabe - geheimnisvoller Zauberer... Ich bin wieder die kleine Ninon und träume von dem wunderbaren Dichter. Ich bin vierzehn Jahre alt und liege in der Hängematte zwischen dem Nußbaum und der Laube und denke an Dich ... an den wunderbarsten Menschen der Welt! Du bist mir soviel geworden - Geliebter, Beschützer und nun Gatte und doch bist Du mir ein Wunder geblieben, das beglückendste Wunder meines Lebens.«

Tatsächlich ging für Ninon Ausländer-Hesse mit der Heirat ein Lebenstraum in Erfüllung, der bis in ihre Jugendzeit zurückreichte. Seit sie als vierzehnjährige Schülerin »Peter Camenzind« gelesen hatte, fühlte sie sich Hesse wie magisch verbunden. Noch unter dem Eindruck des Leseerlebnisses schrieb sie dem verehrten Dichter im Februar 1910:

»O wie ich sie beneide, die Dichter! Sie können sagen was sie fühlen sie können den >tiefsten Schmerz, die höchste Lust< in Worten ausdrücken... Und wir armen Nichtdichter, die wir nicht die Schaffensfreude kennen die wir nur allzuhäufig die Natur und das Schöne, das in uns verborgen liegt, vor dem Schmutz des gemeinen Lebens vergessen, wir stehen staunend vor einem Menschen wie Camenzind, der sich eine so reine Seele bewahrt hat, vor einem Menschen dessen Herz immer für das Gute und Schöne geschlagen hat und noch schlägt. Denn Peter Camenzind ist nicht gestorben, er lebt - und er ringt weiter.«

Instinktiv suchte die kleine Ninon hinter der Romanfigur den Dichter, beide verschmolzen für sie zu einem Bild der Poesie, der fortan ihr Sehnen galt. Die schließliche Heirat mit ihrem Idol Hesse, der für sie die dem Alltag entrückte Poesie verkörperte, nach über zwanzig Jahren intensiven Werbens mußte ihr als geheimer Triumph ihrer ausdauernden Liebe erscheinen.
Selten ist eine Ehe unter so erkennbar und offen ausgesprochenen unterschiedlichen Voraussetzungen eingegangen worden wie die zwischen dem damals schon weltberühmten Dichter Hermann Hesse und seiner trotz ihrer sechsunddreißig Jahre noch immer kindlich gebliebenen Verehrerin Ninon Ausländer. Trotzdem hat diese Ehe einunddreißig Jahre bis zum Tode Hesses 1962 gehalten und kann trotz aller Krisen und Verzweiflungen auf beiden Seiten nicht eigentlich als unglücklich bezeichnet werden. Die Ursache hierfür liegt sicherlich in Ninon Hesses enormer Anpassungsfähigkeit und ihrer exzessiven Aufopferungsbereitschaft einerseits und dem entschiedenen Abgrenzungsvermögen andererseits, Eigenschaften, die ihr die Realisierung ihres kindlichen Lebenstraums an Hesses Seite erlaubten. Die seltsame Mischung von Hingabe und Eigenständigkeit ist dabei eine unabdingbare Voraussetzung. Sie zeichnete sich schon sehr früh als Charakterzug ab.
Geboren wurde Ninon Ausländer 1895 in Czernowitz, der Provinzhauptstadt der Bukowina, einem Vielvölkergebiet, das seit 1775 zur Habsburgischen Monarchie gehörte. Sie war die älteste Tochter einer wohlhabenden und angesehenen jüdischen Familie. Bereits als Kind bildete sie den starken Wunsch heraus, sich als eine besondere, eigenständige Person von ihrer Umwelt abzugrenzen. Ihr Vorbild war der Vater, ein erfolgreicher, kunstsinniger und hochgebildeter Anwalt. Dieser förderte sie wie auch seine anderen beiden Töchter in ihrem Drang nach Selbständigkeit. In der Rückschau hat Ninon Ausländer die lebenslange Fixierung auf den Vater als Hauptproblem ihrer späteren Beziehungsschwierigkeiten gesehen:

»Wir waren Töchter und blieben es auch, als es den Vater nicht mehr gab. Wir haben die Sehnsucht zu verehren, uns anzulehnen, nie verloren.«

Für die drei Töchter brach eine Welt zusammen, als der Vater 1919 starb. In einem Gedicht hielt Ninon Ausländer ihre Erschütterung fest:

»Schon entschwindest du mir. Nur wie im Nebel
schimmert dein Antlitz noch, klingt deiner Stimme Laut.
Sieh, meine Augen durchdringen angstvoll die Leere,
meine Hände greifen sehnend ins Nichts.
Oh ich dachte dich ewig in mir geborgen,
unvergänglich bewahrt in sehnsuchterfüllter Brust.
Aber mein Auge ist trüb vom Lichte der Welt, meine Ohren
ertaubt im Geräusche des Tags und hören dich nicht.
Ja, ich weiß: Ich habe dich zweimal verloren,
als dein Leben erlosch, starbst du zum ersten Mal,
aber ich trug dein Bild glühend in meiner Seele,
selber war ich verlöscht, du nur lebtest in mir.
Und nun wache ich auf. Dein glühendes Bild verblaßt,
eigne Seele erwacht, flammt aus Asche empor.
Nimmer gleiche ich dir: Du bist mir entglitten.
Ferner wirst du mir stets: Du starbst. Und ich lebe.

Eine solche Form der literarischen Verarbeitung stand der Schwester Toka nicht zur Verfügung. Sie nahm sich kurze Zeit später das Leben. Ninon Ausländer jedoch fand Kraft im Schreiben und in der Beziehung zu Hesse, an den sie sich in dieser Situation erneut mit einem Brief wandte. 1922, kurz nach dem Selbstmord der Schwester, kam es zu einer ersten Begegnung mit dem Dichter. Dieser hatte sich damals gerade von seiner ersten Frau getrennt, die seit 1919 in einer Nervenklinik lebte. Ninon Ausländer war seit 1918 mit dem Karikaturisten Fred Dolbin verheiratet. Merkwürdigerweise übertrug sie ihre Gefühle gegenüber dem toten Vater nicht auf den Mann, mit dem sie zusammenlebte, sondern auf den fernen Dichter. Das Bild des Vaters und Hesses verschmolzen zu einer untrennbaren Einheit, die Ninon Ausländer nicht müde wurde in ihren Briefen an Hesse zu beschwören:

»Manchmal bist Du gütig wie mein Vater, und ich glaube ihn zu sehen, wenn ich Dich ansehe.«

So einschränkend die starke Orientierung auf den Vater auch für die spätere Entwicklung von Ninon Ausländer als Frau gewesen sein mag, für das heranwachsende Mädchen bedeutete der Einfluß des Vaters eine nicht zu überschätzende Förderung der Persönlichkeitsentwicklung. Der Vater war ihr vor allem ein Vorbild in seiner Intellektualität, seinem künstlerischen Interesse und seiner sozialen Verantwortung. Auf allen Gebieten versuchte sie dem Vater nachzueifern. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin. Obwohl eine fundierte Ausbildung für Mädchen auch in ihren Kreisen damals noch die Ausnahme war, setzte Ninon es durch, das Gymnasium zu besuchen. Mit zwei anderen Mädchen saß sie als Externe in einer Klasse voller Jungen. In der Pause wurden die drei Mädchen unverzüglich in einen gesonderten Raum geführt, wo sie unter Aufsicht die nächste Stunde abwarten mußten. Aus dieser Zeit rührt Ninon Ausländers Ressentiment gegen die Frauenrolle. Bereits als Kind wußte sie, daß sie studieren wollte. An den Vergnügungen der sogenannten höheren Töchter fand sie wenig Gefallen. So lehnte sie es ab, Klavier zu spielen und in die Tanzstunde zu gehen, was in der damaligen Zeit einer kleinen Rebellion gleichkam. Trotz solcher Aufmüpfigkeiten, mit denen sie vor allem die um den guten Ruf besorgte Mutter ärgerte, sah sie sich selbst eher als eine angepaßte Bürgerstochter:

»Ich hatte einen Hang zum Konventionellen, ich war von jeher unrevolutionär und wollte mich nicht auflehnen. >So sein wie die anderen, war meine Sehnsucht... nicht >wie handle ich<, hieß es bei uns zu Hause, sondern: >Wie handelt man?< in diesem oder jenem Fall, und dies >man<, dieses bürgerliche Gespenst, dieser kategorische Imperativ, beherrschte mich viele Jahre lang, angefangen mit der Kleidung und aufgehört mit der Lebensführung.«

Die überzogene Selbstkritik, die aus solchen Zeilen spricht, verrät den hohen Selbstanspruch der »Vater-Tochter«, die alles, nur kein gewöhnlicher »Dutzendmensch« sein wollte. Die Folge war ein gebrochenes Verhältnis zur Mutter und ein zwiespältiges Verhältnis zur Frauenrolle insgesamt. Mehrfach notierte sie in ihrem Tagebuch: »Ich hasse Frauen.« Sie meinte damit vor allem Frauen wie die Mutter, die die Ausbildung ihrer eigenen Persönlichkeit vernachlässigten und darüber hinaus häufig nicht einmal den begrenzten häuslichen Aufgabenkreis sorgfältig ausfüllten. An der Mutter kritisierte sie deren angebliche Oberflächlichkeit und Koketterie, die sie in den Augen der Tochter zum ewigen Kind machte:

»Sie war ein Kind, ab er sie heiratete, trotzdem sie inzwischen zwanzig Jahre alt geworden war, und sie blieb ein Kind auch als seine Gattin, auch als sie Mutter geworden war. «

Deshalb konnte die Mutter nicht zur Leitfigur der Tochter werden, obwohl sie durchaus Anregungen von ihr auf künstlerischem Gebiet erhielt und sie häufig auf Bildungsreisen ins westliche Ausland begleiten durfte. Das, was für die Mutter Bildung bedeutete, war für die anspruchsvolle Tochter jedoch nur »Halbbildung«. Sie wollte nichts Halbes, sie wollte alles, und am liebsten noch mehr.

»Dies habe ich mir immer gewünscht: viele Leben zu leben. Ich wollte Mann und Frau sein, ich dachte, daß es nur von mir abhinge, welche der vielen Leben, die mir begehrenswert erschienen, ich leben würde. Aber nie dachte ich daß es doch nur eins sein würde.«

In der doppelt so alten Freundin Johanna Gold, einer ehemaligen Züricher Studentin die durch Heirat nach Czernowitz verschlagen war, fand das nach Orientierung hungernde Mädchen Halt. Von Johanna Gold die Ninon Ausländer in ihrem Unabhängigkeitsstreben und im Leistungswillen bestärkte, bekam sie übrigens den »Peter Camenzind« geschenkt, über den sich die Beziehung zu Hesse herstellen sollte. Ninon Ausländer hing mit großer Leidenschaft an ihr:

»Ich liebte sie wie eine Göttin - diese Liebe brach in mein Leben ein wie ein Sturm, fegte weg, was nicht standhielt, beherrschte mich völlig. Jahrelang blieb diese Frendschaft das höchste Gefühl, das ich kannte. Sie versetzte mich in einen Glückszustand, der einem Rausch glich...«

Gerade wegen dieser Leidenschaftlichkeit war die Beziehung nicht unproblematisch. Ninon Ausländer litt unter den hohen Ansprüchen der Freundin, die sich als Erzieherin der Jüngeren verstand und krampfhaft bemüht war, die erotischen Wünsche der Jüngeren moralisch zu kanalisieren und auf Leistung zu lenken. In der Rückschau hat Ninon Ausländer die Beziehung zu der Freundin sehr kritisch gesehen:

»An dem Tag, an dem die schönste Beziehung begann, die ich zu einem Menschen gehabt habe, begann mein Leben an meinem Ich vorbei.«

Bereits während der Zeit der schwärmerischen Zuneigung zu der Freundin, die sie zärtlich Dziunia nannte und der sie viele Gedichte schrieb, hat Ninon Ausländer die Ambivalenz der Beziehung gespürt. In einer 1916/17 entstandenen Erzählung hat sie ihre Beziehung zu Johanna Gold »als Selbstentfremdung aus Liebe« dargestellt. Die wachsende Spannung zwischen den eigenen Wünschen und dem »Gesetz der Freundin« hat sie in der Erzählung interessanterweise auf zwei junge Männer transponiert. Der jüngere versucht vergeblich, aus der ihn einerseits fördernden, im ganzen aber eher bedrückenden Freundschaft auszubrechen. Die Erzählung ist Fragment geblieben, die stichwortartigen Notizen zeigen aber, wie belastend die Beziehung für die heranwachsende Ninon gewesen sein muß:

»Zum ersten Male taucht der Gedanke auf, daß alles entlehnt ist, zitiert, nichts eigen ... Immer stärkerer Haß gegen den Freund... In der Nacht Versuch den schlafenden Freund zu töten. Dieser erwacht, mißversteht, ist voll zarter Aufmerksamkeit. Der Verzweifelte tötet sich selbst - Ausweglosigheit.«

In der Ausblendung der erotischen Wünsche, die Johanna Gold der jüngeren Freundin in der Beziehung auferlegte, hat Ninon Ausländer später die Ursache dafür gesehen, daß es ihr in der Zukunft nie gelungen sei, »Liebe und Lust« gemeinsam in einer Beziehung zu leben. Das Scheitern ihrer ersten Ehe mit dem Bohemien Fred Dolbin hat sie unter anderem darauf zurückgeführt, daß ihr die Freundin Maßstäbe vermittelt habe, die in einer »Künstlerehe«, wie sie Dolbin vorschwebte, nicht gelebt werden konnten. In dem Entwurf zu dem Roman »Freundschaft eines Lebens«, in dem sie die Beziehung zu Johanna Gold verarbeiten wollte, stellte sie die Frage:

»Dziunia bewahrte mich vor >Niedrigem<, aber vielleicht wäre es besser gewesen, niedrig zu werden?«

In der Trennung von »Lust und Liebe« liegt sicherlich auch ein Schlüssel zum Verständnis ihrer lebenslangen Beziehung zu Hesse, die gerade darauf basierte, daß Lust und Liebe im landläufigen Sinne getrennt waren. Die lebenslange Fixierung auf den Vater und die starke Prägung durch die Freundin waren die Koordinaten, die Ninon Ausländers Leben bestimmten. Das Studium der Medizin, das sie nach dem mit Auszeichnung bestandenen Abitur als geheime Huldigung dem Vater und der Freundin gegenüber aufnahm, ebenso wie die späteren sprach- und kunstwissenschaftlichen Studien in Wien wie auch die überstürzte Heirat mit Fred Dolbin, mit der sie gegen den Vater und die Freundin zugleich opponierte, waren nur Etappen auf einem Weg, der sie immer näher an Hesse heranführte. Beide, der Vater und die Freundin, hatten Ansprüche in der Heranwachsenden geweckt, die sie in tiefe Versagensängste und Selbstzweifel stürzten. Hin- und hergerissen zwischen den ehrgeizigen Lebensplänen des Vaters und der Freundin und dem Wunsch, einen eigenen Weg für sich zu finden, bekam Ninon Ausländers Leben über Jahre hinweg etwas Hektisches, Sprunghaftes. Schreibend versuchte sie sich ihrer selbst zu vergewissern. In zahlreichen Gedichten dieser Zeit entwarf sie von sich das Wunschbild einer Künstlerin, die sich im Werk in allen ihren Widersprüchen, in ihrer ganzen Totalität auszudrücken vermag:

»Ich möchte singen können, tanzen, rufen, schrein
in Farben, Worten, Ton und Marmor Ewigkeiten schaffen,
Chaos gestalten, tausendfaches Leben leben:

Stärker jedoch als der Wille zum Werk, der aus solchen Zeilen spricht, war die Kritik an dem vermeintlichen künstlerischen Unvermögen. Die eigenen literarischen Texte, Traumaufzeichnungen, Kurzgeschichten, Romanentwürfe und Gedichte, stellten Ninon Ausländer nie zufrieden. Die Orientierung an den Übervätern - seien es Hesse, Musil oder andere - verhinderte zwar nicht die eigene Produktion, hemmte aber deren systematische und kontinuierliche Ausbildung und Entwicklung. Obwohl Ninon Ausländer zeit ihres Lebens geschrieben und auch einiges, zum Teil unter Pseudonym, veröffentlicht hat, verstand sie sich nie als Schriftstellerin. Schreiben und Leben standen für sie in einem ungeklärten Verhältnis. Manchmal erschien ihr das Schreiben als die einzige und verlockendste Möglichkeit, die vielen Leben, nach denen sie Sehnsucht hatte, auszuprobieren, dann wieder schreckte sie bereits in Gedanken vor der Fülle der Wünsche zurück und sehnte sich nach einer »gläsernen Kugel«, die sie vor dem Selbstverströmen bewahren sollte.

»An eine gläserne Kugel
Glaskugel du - sei meine Welt,
umgib gleich einer Muschel, Schale mich,
schließ mich in dir ein!
Laß allen Glanz der Welt in dir sich spiegeln,
verrate nichts vom Inhalt, den du birgst.
Laß jeden Strahl der Sonne sich an deinen Wänden
brechen,
doch selber bleibe kühl und klar!
Vom Leid der Welt betaut sei deine kühle Hülle,
doch niemals dringe eine Träne in dich ein.
Sei Spiegel du! Ich fürchte diese Welt.
Vor Lust und Leid geborgen will ich in dir schlafen.

In dieser Phase des Selbstzweifels, des Schwankens zwischen Kunst und Leben, zwischen ekstatischem Verströmen und asketischer Begrenzung, zwischen Lebensgier und Lebensflucht, wurde die Figur der Ariadne zur Schlüsselfigur für Ninon Ausländer. Nicht die antike, handelnde Ariadne, sondern die duldende Ariadne, wie sie sie durch die Oper von Strauß kennengelernt hatte. Hier fand sie den entscheidenden Gedanken vorgedacht, der auf sie wie eine Erlösung wirkte: Kunst und Leben mußten keine unüberwindlichen Gegensätze sein. Schöpferische Kraft äußerte sich nicht nur im Kunstwerk, auch das Leben verlangte schöpferische Kraft. In einem autobiographischen Fragment der Zeit, in das die Auseinandersetzung mit der Ariadne-Figur eingegangen ist, heißt es:

»Von nun an nahm sie ihr Leben wie ein ernst betriebenes Spiel, das heißt, sie machte aus dem Leben eine Schöpfung. Sie bearbeitete das Material, das dieses Leben darstellte, und gab ihm eine Form, sich selbst, den Former darin einbeziehend. Das war ihr Werk.«

Das Werk bestand vor allem aus Warten:

»Warten war ihr Werk. Erfüllung kam von außen. Warten war ihre Produktivität.«

Dieses der Ariadne-Figur abgewonnene Lebens-Kunst-Konzept, in dem letztlich das alte Idealbild passiver Weiblichkeit durchschimmert, gegen das die Vater-Tochter Ninon so vehement opponiert hatte, versuchte sie in der Beziehung zu Hesse in die Praxis umzusetzen. Die »Erfüllung von außen« - sie sollte von Hesse kommen. In einem autobiographischen Roman, in dem sie sich selbst als Ariadne entwarf, schrieb sie kaum verschlüsselt: »H. das ist die höchste Steigerung des Hingabevermögens.«
Obgleich Ninon Ausländer zu dieser Zeit für Hesse nur eine Episode unter anderen war, fixierte sie sich in zunehmender Ausschließlichkeit auf ihn und betrieb ihre Trennung von ihrem ersten Mann Dolbin. Nicht zu Unrecht warf ihr dieser »Götzendienst« an Hesse vor und sah die Ursache in der unaufgearbeiteten Vaterbeziehung, was Ninon Ausländer auch ohne weiteres zugab: »Du sagst, daß in mir die Sehnsucht nach meinem Vater lebt. Du hast gewiß recht.«
Zwar fand sie in Hesse trotz aller angestrengten Stilisierungen nicht den Vater, wohl aber konnte sie ihm Mutter sein. In ihren Briefen wird Hesse zum »armen Kind«, zum »liebwinzigen Köpfchen«. Dieser wehrte sich gegen die Vereinnahmung. Sie machte ihm angst:

  • »Momentan ist eine Frau aus Wien da, die plötzlich hergereist kam, weil sie mich gern hat, aber, obwohl sie mir gefällt und ganz lieb ist, kann ich nichts mit ihr anfangen und stehe der dramatischen Lage ohne allen Humor gegenüber.«

Schließlich kapitulierte Hesse. Er ließ sich auf eine Form des getrennten Zusammenlebens ein, die sie nach dem Ende von Hesses zweiter Ehe 1927 probeweise versuchten. Für das Nachgeben Hesses war sicherlich auch die Tatsache wichtig, daß Ninon Ausländer ihm angesichts seines sich verschärfenden Augenleidens immer unentbehrlicher wurde. Ein Titelverzeichnis der vorgelesenen Bücher, das Ninon Ausländer seit 1929 führte, enthält 1447 Werke. In manchen Jahren las Ninon Ausländer Hesse über hundert Bücher vor. Unter Trennungen litt Hesse vor allem deshalb, weil ihm die Freundin als Vorleserin fehlte:

  • »Du fehlst mir oft, das ist natürlich, und Du hast ja auch meine Augen mitgenommen, die sonst für mich so viele Briefe und Bücher lesen.«

So wie Clara Wieck Robert Schumann die kranke Hand ersetzen mußte, so ersetzte Ninon Ausländer Hermann Hesse die kranken Augen. Wie Clara Wieck sah auch Ninon Ausländer in dieser Ersatzfunktion eine besondere Auszeichnung:

»Wenn ich als Vorleserin auch nur Medium bin, nur ein Ersatz für Hermanns schmerzende Augen... so geht doch alles durch mich hindurch...«

In den folgenden Jahren fand ein erbitterter Kampf zwischen Nähe und Ferne statt. Stets war Ninon Ausländer die Drängende, litt unter Zurückweisungen Hesses und war immer wieder von Zweifeln gepackt, ob sie ihn nicht verlassen sollte. Ihre Depressionen steigerten sich bis zu Selbstmordabsichten. Hesse sah die Beziehungsfalle sehr deutlich, in die ihn Ninon Ausländers angeblich so selbstlose Liebe hineinmanövrierte:

  • »Also, die Sache sieht für einen Zuschauer so aus: daß Du dich nur aufopferst, Dein ganzes Leben nach mir richtest, und daß ich dies annehme und selber nichts dafür tue und gebe ... So lieb mir Deine Nähe ist, so wäre es mir doch lieber, vollends allein kaputt zu gehen, als mit dem Gefühl zu leben daß Du meinetwegen beständig Opfer bringst.«

Ninon Ausländer schlug ihm ein Leben vor, das möglichst parallel nebeneinander verlaufen und wo keiner den anderen stören sollte. Im übrigen lehnte sie den Begriff »Opfer« ab:

»Es ist alles Liebe. Und sobald es anders wäre, wäre es zuende. «

Mit einer gewissen Berechtigung drehte sie den Spieß einfach herum:

»Daß ich für meinen Mann da bin rechne ich mit zum Egoismus.«

Opfer - Liebe - Egoismus, was immer es gewesen sein mag, auf jeden Fall war es ein Spiel, in dem beide, Hesse und Ninon Ausländer, wechselseitig zu Opfern und Tätern wurden, in dem »Verlust« und »Gewinn« aber im ganzen gesehen sehr unterschiedlich verteilt waren. Die angestrebte und behauptete Symmetrie war nur eine scheinbare, wie sie sehr wohl wußte:

»In gewisser Weise sind wir wie siamesische Zwillinge, d. h. ich bin der von ihm abhängige Zwilling, er nicht von mir.«

Daß die Beziehung trotz der Asymmetrie lebbar blieb, hängt zusammen mit der Fähigkeit Ninon Ausländers, für sich auch über weite Strecken allein sein zu können. Diese Fähigkeit, die sie als Vater-Tochter früh ausgebildet hatte, kam der Beziehung zu Hesse zugute. Immer wieder suchte sie planmäßig auch das Alleinsein, die Trennung von Hesse, um auf Reisen neu aufzutanken und Kräfte zu sammeln:

»... sei mir nicht böse, wenn ich Dich für einige Wochen verlassen habe. Du bist so groß, und ich bin klein und in steter Gefahr, in Dir zu ertrinken. Darum tut es gut, daß ich wieder einmal allein bin, ganz ich, dann kann ich wieder neben Dir leben und mich bewahren und hoffentlich weiterentwickeln.«

Als Ninon Ausländer Hermann Hesse im Jahre 1931 schließlich heiratete, war der Kampf um Nähe und Ferne keineswegs ausgestanden. Er wurde in der fünfunddreißigjährigen Ehe mit großer Verbissenheit weitergeführt. Phasen der Ausgeglichenheit wechselten mit Phasen der tiefsten Depression auf seiten Ninon Hesses ab. Bereits im März 1932 begann sie ihr »Tagebuch der Schmerzen«. Ganz offensichtlich litt sie unter den vielen Verzichten, die ihr ein Leben mit Hesse abforderte. Besonders schwer fiel es ihr, keine Kinder haben zu dürfen. Bereits im Mai 1927 hatte sie Hesse geschrieben: »Ich sehnte mich schrecklich ein Kind von Dir zu haben.« Wie so vieles andere wurde aber auch der Kinderwunsch dem höheren Ziel einer idealen Lebensgemeinschaft aufgeopfert. Die Kinderlosigkeit erschien Ninon Hesse schließlich als eigene Entscheidung:

» ... ich habe keine Kinder und habe keine Kinder haben wollen und weiß genau, um was ich mich dabei gebracht habe, aber ich habe es getan und stehe dazu.«

Es blieben also nur die Katzen, die die Einsamkeit manchmal mildern konnten. Häufig konnte sie bittere Gefühle nicht unterdrücken:

»Wer am meisten dabei zu kurz kommt, bin ich - denn für mich bleibt oft gar nichts mehr übrig, weder Zeit noch gute Laune. Ich bin der Alltag und gehöre zu H. wie der Rheumatismus, die Augenschmerzen und anderes. Das mag ehrenvoll sein, es ist aber oft kaum zu ertragen.«

Auch Hesse litt darunter, daß ihr das Leben an seiner Seite wie »reine Sklaverei« vorkam. Immerhin hatte er es vorausgesehen und sie gewarnt, er sei nun einmal ein »Großverbraucher an menschlicher Kraft«, die jedoch nicht ihm, sondern nur seinem Werk zugute komme.
Hinter all den Krisen der Anfangsjahre zeichnete sich jedoch ein Lebensmodell ab, das beiden Identifikationsmöglichkeiten bot und jedenfalls zeitweilig ihre unterschiedlichen Wünsche im Zusammenleben befriedigen sollte. Das Märchen »Der Vogel«, das Hesse 1932 schrieb und das er seiner Frau widmete, zeigt, wie stark Hesse zu dieser Zeit bereits auf seine Frau bezogen war. Er selbst sah sich als Vogel seine Frau verglich er mit dem Keuper, einer Gesteinsart aus der frühen Erdgeschichte. Damit wies er ihr einen wichtigen Platz zu: Sie wurde zur archaischen Mutterfigur und zugleich zur geschlechtsneutralen Freund-Gattin verklärt. Eine solche Verteilung von Aktivität und Passivität in der Beziehung half Hesse, seine Bindungsängste zu überwinden, für seine Frau bedeutete sie jedoch eine Festschreibung auf ein Bild traditioneller Weiblichkeit, das mit ihrem wenn auch nicht immer konsequent durchgehaltenen Selbstverständnis als gleichberechtigte Gefährtin und mit ihrem - wenn auch gebrochenen - Drang nach Selbständigkeit kollidierte und gegen das Hesse seinerseits auch immer wieder opponierte. So beklagte er sich häufig über das »etwas allzu bürgerliche Milieu« in das er sich durch die Ehe versetzt sah, genoß jedoch andererseits die Fürsorglichkeit seiner Ehefrau, die er, humoristisch verbrämt, auch immer wieder einforderte: »Keuper muß besser auf Vogels Diät achten.«
Trotz der engen Grenzen, die Ninon Hesses Entwicklung durch ihre eigene Selbststilisierung, die Hesse als Festschreibung der Rollen nur zu gern aufnahm, gesetzt waren, gelang es ihr jedoch im Laufe der Ehe in erstaunlicher Weise, sich einen eigenen Bereich zu schaffen. Dies gelang um so besser, je mehr die erotischen Wünsche, die in der Ehe mit Hesse nicht befriedigt wurden und sich mehr oder minder verdeckt ein Ventil in außerehelichen Beziehungen suchten, mit zunehmendem Alter in ihrer Bedeutung zurücktraten. Systematisch baute Ninon Hesse in ihrer zweiten Lebenshälfte ihr bereits in der Ariadne Rezeption deutlich gewordenes Interesse für die griechische Mythologie zu einem regelrechten Schwerpunkt aus. In mehreren Reisen nach Griechenland, die sie allein oder mit Freundinnen unternahm, wurde aus der Dilettantin eine ernstzunehmende Forscherin, die ausgedehnte archäologische Studien trieb und sogar noch Neugriechisch lernte, um sich in ihrer Wahlheimat Griechenland besser orientieren zu können. Diese Mythologiestudien waren jedoch kein Selbstzweck, sondern dienten der Archäologie der eigenen Person und ihres zwanghaften Verhältnisses zu Hesse. In den Apollo-Studien führte sie in der Suche nach der verdrängten wölfischen Natur Apollons die Auseinandersetzung mit Hesses »wölfischer« Natur, der er im »Steppenwolf« Ausdruck gegeben hatte. Dahinter steckt der Versuch, sich über die eigene Rolle als Frau in einem »wölfischen« System Klarheit zu verschaffen. An die Stelle der Ariadne tritt Hera als neue Identifikationsfigur. In ihr sieht Ninon Hesse nicht die inferiore Zeus-Gattin, als die sie in der Überlieferung lebt, sondern sie deutet sie als eigenständige Figur, in die Züge der alten Gorgo-Medusa eingegangen seien. Mag in einer solchen Lesart auch viel Selbststilisierung und Selbstrechtfertigung als Dichtergattin liegen, die Suche nach einer kraftvollen, undomestizierten Weiblichkeit in vorpatriarchalischer Zeit bleibt interessant genug und verweist auf die Traditionssuche und Mythosrezeption von Frauen in der Gegenwart.
Die Verlagerung des Interesses von der duldenden Ariadne hin zur mächtigen und autonomen Gorgo-Medusa zeigt einmal mehr, daß das passive Lebens-Kunst-Konzept auf die Dauer an Faszination verlor. Der Wunsch nach eigener Entwicklung und Welterfahrung, nach Auseinandersetzung und kreativer Betätigung ist stärker als die rigiden Muster, in die sich Ninon Hesse einzufügen versucht hatte. Die »gläserne Kugel« erweist sich als Gefängnis. Die Mauern werden durch die Reisen aufgesprengt.
Der Tod Hesses 1962 verschiebt das mühsam errungene Gleichgewicht in der Beziehung ironischerweise wieder zu Lasten Ninon Hesses und hemmt die Entwicklung zur Selbständigkeit, die sich im Laufe der Jahre so hoffnungsvoll entwickelt hatte. Nach Hesses Tod wächst sie in die Rolle der Nachlaßverwalterin wie selbstverständlich hinein. Sie gibt Hesses »Späte Gedichte« (1963) heraus, setzt sich mit viel Elan für die Einrichtung eines Hermann-Hesse-Archivs ein, ediert Hesses »Prosa aus dem Nachlaß« und ist mit der Herausgabe biographischer Hesse-Zeugnisse beschäftigt. Für ihre Hera-Gorgo-Studien, an denen sie dennoch bis zum Schluß arbeitet, bleibt wenig Zeit. 1966, vier Jahre nach Hesses Tod, stirbt Ninon Hesse, wenige Tage nachdem sie die Korrekturen für die Hessesche Briefdokumentation abgeschlossen hat. Die eigenen mythologischen Studien sind Fragment geblieben. Sie harren ebenso wie ihre anderen literarischen Texte der Aufarbeitung. Wer aber sollte sich dieser Mühe unterziehen? Dichterfrauen pflegen sich im allgemeinen dadurch auszuzeichnen, daß sie treue Förderinnen und Nachlaßverwalterinnen des Werkes ihrer Männer sind, für ihr eigenes Werk aber ohne eine vergleichbare Unterstützung bleiben.

Copyright-Hinweis zu »Die Lebenskunst der Ninon Ausländer-Hesse«

Die Darstellung von >Die Lebenskunst der Ninon Ausländer-Hesse« basiert auf dem Werk »Ninon und Hermann Hesse - Leben als Dialog« von Gisela Kleine, das 1982 (2. Auflage 1984) im Thorbecke Verlag, Sigmaringen, erschienen ist. Eine Taschenbuchausgabe ist 1988 unter dem Titel »Zwischen Welt und Zaubergarten - Ninon und Hermann Hesse - Ein Leben im Dialog« als suhrkamp taschenbuch 1384 erschienen.
Die Verwertungsrechte am literarischen Nachlaß von Ninon Hesse liegen bei Dr. phil. Gisela Kleine, München. Wir danken der Rechtsinhaberin für die Genehmigung zur Verwendung des von ihr erarbeiteten Materials.