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Kultur

Das Kerosin des Kubismus

Georges Braque ist an der Seite von Picasso berühmt geworden und hat dabei seine Seele verloren. Eine große Pariser Ausstellung vermisst sein Werk neu

Früher Adel. „Unter den Größten unseres Jahrhunderts – Picasso, Klee, Mondrian, Kandinsky, Matisse, Léger, Chagall – ist Braque der Adligste.“ Notierte der ganz und gar bürgerliche Basler Museumsmann Georg Schmidt. Und es war Basel, nicht Paris, wo 1933 die erste große Braque-Ausstellung zu sehen war. „Woher der dumpfe Ernst all derjenigen“, hätte der Kritiker gerne gewusst, „die jetzt in die Basler Braque-Ausstellung kommen, um das Rätsel einer modernen Sphinx zu enträtseln?“ Später, als das Jahrhundert schon fast nicht mehr „unseres“ war, hieß es, Braque, ach ja, die Sphinx, die moderne, und es klang wie „es war einmal“.

Ein Klassiker, behängt mit Orden und Ehrenzeichen. Die Geschichtsbücher feiern ihn als Prädikatskünstler mit ungefährdetem Ehrenplatz in der Hall of Fame. Und doch: Dass sein Werk gut bekannt wäre, könnte man nicht sagen. Beliebt ist es kaum einmal gewesen. In den Museen kommt der Maler nur am Anfang des 20. Jahrhunderts vor, in den Kubismus-Sälen, wo er sich die Wände mit Picasso teilt. Schon nebenan weiß man von Braque nichts mehr. Anders als von Picasso, den Verehrung und Erinnerung bis ins Greisenalter, bis in die Sechzigerjahre begleiten.

Es ist in der großen Braque-Ausstellung im Pariser Grand Palais nicht anders. Gedränge vor den Bildern der Zehnerjahre. Noch immer ist es ein spektakuläres Drama, wie dem Maler nach und nach die sichtbare Welt in Kuben und Prismen zerfällt, wie sie sich unaufhaltsam verwandelt in kristalline Gebilde von undurchschaubarer Struktur. Und dann, kaum dass das Abenteuer bestanden war, diese Betroffenheit über den seltsam ratlosen Umgang mit dem Abenteuer.

Die Retrospektive, die das Werk getreulich bis ins Todesjahr 1963 verfolgt, wird von Raum zu Raum leerer. Zuletzt vor der kunstgewerblichen Schlichtheit der „Vogelbilder“ ist es wie stille Flucht, was die Leute aus der Ausstellung treibt. Einen Versöhner hat der französische Schriftsteller Francis Ponge den Freund Braque einmal genannt. Ist es das, was die kubistische Zumutung erwartet, der erregende Angriff auf die Sehgewohnheiten irgendwann gebraucht hat? Versöhnung? Oder könnte es sein, dass die moderne Sphinx vielleicht doch nie ein eigenes Rätsel besessen hat?

Der Fall Braque ist überaus spannend. Aller Ruhm stammt aus dem schmalen Zeitfenster der paar Jahre zwischen 1907 und 1913. Damals streifte der Maler gleichsam die Avantgarde, ließ sich mit- und antreiben von ihrer Motorik, hat all seine Energie dran gegeben, um bald schon feststellen zu müssen, dass das Neue nicht mehr neu war, dass er, ohne es zu merken, aus dem Sog der weiter hastenden Ereignisse geraten, und das Fortschrittsidiom, auf das er sich so gut verstanden hat, längst zur Formel erstarrt war. Was wäre gewesen, verwegener Gedanke, wenn Georges Braque nicht Picasso begegnet wäre? Wenn er unter dem Schutz der französischen Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts seinen eigenen, an der malerischen Tradition ausgerichteten Stil hätte entwickeln können?

Wilhelm Uhde, der deutsche Sammler, Händler und Agent kaufte im März 1907 fünf Braque-Bilder. „Liebe auf den ersten Blick“, hat er später gesagt: „Ich bot für die Bilder die wenigen hundert Francs, die mir damals für solche Käufe zur Verfügung standen“.

Zugleich entdeckt ihn der junge Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler, der in Paris, in der Rue Vignon gerade eine Galerie eröffnet hatte. Bei ihm traf Braque den Schriftsteller und Picasso-Freund Guillaume Apollinaire, der ihn Ende November oder Anfang Dezember 1907 mit ins Picasso-Atelier „Bateau-Lavoir“ nahm, wo auf der Staffelei die legendären „Demoiselles d‘Avignon“ standen, die Inkunabel des Kubismus.

Etwas pikiert soll der fast gleichaltrige Besucher gesagt haben: „Mit Ihren Bildern wollen Sie anscheinend bei uns das Gefühl erwecken, Stricke schlucken oder Kerosin trinken zu müssen.“ Wie immer das gemeint gewesen sein mag.

Jedenfalls begann Braque unverzüglich mit zeichnerischen und malerischen Figuren-Studien, die auf fast schülerhaft peinliche Weise Picassos neuem Personal nachempfunden sind. Gertrude Stein, die Augenzeugin im kubistischen Labor, hat erzählt: „Wir saßen ahnungslos unter jenen beiden Bildern, die zum ersten Mal öffentlich dokumentierten, dass Braque und Derain Picasso-Anhänger geworden waren und nicht mehr zu Matisse gehörten.“ Picasso sei ziemlich empört über den Richtungswechsel der Kollegen gewesen.

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Und auch Kahnweiler, immer bemüht, seine besonderen Schützlinge Picasso und Braque als enge Freunde bei „gemeinsam-paralleler Geistesarbeit“ zu überliefern, hat diskret ein gewisses Gefälle in der Beziehung anklingen lassen: „Gewiss, Braques Kunst ist weiblicher als Picassos genial-starkes Werk“, der anmutige Franzose Braque erscheine wie der milde Mond zur strahlenden Sonne des herben Spaniers. Und doch: „Beide sind große, bewundernswerte Künstler, jeder nach seiner Art“.

Schon damals zahlte Kahnweiler Picasso vier Mal soviel für ein Bild wie Braque. Picasso war längst ein Markentitel, für den sich Sammler und Museumsleute interessierten. Und während Picasso zu Beginn des Kubismus im Jahr 1907 bereits „fünf verschiedene Stile gemeistert“ hat, wie William Rubin, der ehemalige Chefkurator am New Yorker Museum of Modern Art, einmal nach gezählt hat, war Braque noch ganz seinem wahren Leitstern Cézanne ergeben.

Aber spätestens vom Winter 1908 an wurde der Dialog immer enger. Braque erinnerte sich später: „Es dauerte nicht lange, und ich tauschte mich täglich mit Picasso aus; wir diskutierten und prüften die Ideen des anderen, so wie sie uns gerade kamen, und verglichen unsere jeweiligen Arbeiten.“ Bei Picasso tönt es kaum anders: „Fast jeden Abend besuchten wir uns gegenseitig im Atelier. Jeder wollte sehen, was der andere während des Tages gemacht hatte.“ Und es war viel Erstaunliches, was es beim prüfenden Austausch zu sehen gab.

Dass die Bilder der ersten kubistischen Phase mitunter zum Verwechseln ähnlich aussehen, hatte durchaus Methode. Nach dem Zeugnis beider Künstler waren sie eine Zeitlang zumindest von der Idee der Anonymität und Austauschbarkeit fasziniert: „Picasso und ich befanden uns gewissermaßen auf der Suche nach der anonymen Persönlichkeit. Wir waren bereit, unsere Persönlichkeit auszulöschen, um Originalität zu finden.“

Soweit hat es freilich nicht kommen sollen. Braque war ein gänzlich anderes, bürgerlich gefestigtes Temperament. Mit Madame Marcelle Laprè war er ein Leben lang zusammen. Eskapaden sind nicht bekannt. Er tourte mit dem Fahrrad durch die Landschaft, was man sich bei Picasso nicht so recht vorstellen kann. Den verdammten Draufgänger, allemal bereit, sein Leben der Kunst zu opfern, den hat er nicht spielen wollen.

Umso tragischer, die Rolle, zu der ihn die Zeitläufte bestimmt haben. Nach Österreichs Kriegserklärung an Serbien am 28. Juli 1914 dauerte es nur ein paar Tage, bis Georges Braque und André Derain ihren Stellungsbefehl erhielten. Am 2. August brachte Picasso, der Spanier, der vom Kriegsdienst befreit war, die Freunde zum Bahnhof. Marcelle schrieb eine rasche Postkarte: „Seit deiner gestrigen Abreise laufen wir – Picasso, Alice Derain und ihre Schwester – wie verlorene Seelen herum.“

Genau besehen hat Braque nach Krieg, Verwundung und Rekonvaleszenz nicht mehr gewusst, was er malen soll. Das kubistische Experiment hatte längst bewiesen, was es beweisen sollte. Geblieben war die kubistische Attitüde, geblieben waren eingefrorene kubistische Chiffren, die sich unendlich mischen ließen.

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Zum Erzähler wird Braque nie werden. Für die große Metapher, für Schmerz- und Lustbilder, für eine Klage-Ikone wie Picassos „Guernica“ fühlte sich der Künstler so wenig zuständig wie für die Picasso-Performance des Spielers, der in immer neuen Travestien sein Publikum verzückte oder verschreckte. Wie abgeschnitten wirken Braques Bilder, erdacht auf der weltabgewandten Seite des Bewusstseins, kultiviert im Pflegeraum des hermetisch verschlossenen Ateliers. Niemals mehr werden sie sich auf der Straße umschauen, nie im Café, kaum einmal in der Landschaft.

Es liegt etwas Lichtloses, auch Sprödes über dem Werk. „Nature morte“, selten hat das französische Wort für Stillleben so viel Berechtigung gehabt. Man kann auch „Adel“ dazu sagen. Es ist die gleiche Starre.

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