Nur zwei Textsammlungen Karoline von Günderrodes (1780–1806) wurden zur Lebzeit der Autorin veröffentlicht, und zwar unter dem Pseudonym ‚Tian‘.Footnote 1 1804 erschien Gedichte und Phantasien, im Folgejahr gingen die Poetischen Fragmente in den Druck. Weitere Schriften erschienen in Journalen, wie z. B. die dramatischen Texte Udohla und Magie und Schicksal von 1805.Footnote 2 Die Publikation von Melete, Günderrodes dritter Werksammlung, die – wie auch die beiden anderen Bände – mit Gedichten, Erzählungen und dramatischen Skizzen gefüllt ist und antike Stoffe, nordische Sagen und orientalisierende Imaginationen in einer Vielzahl ästhetischer Formen miteinander ins Gespräch bringt, wurde nach ihrem Tod unverzüglich eingestellt.Footnote 3 Die Texte aus dem Nachlass umfassen Gedichtentwürfe, Verserzählungen, Dramenfragmente sowie das sogenannte ‚Studienbuch‘Footnote 4 der Autorin, das Günderrodes Beschäftigung mit naturphilosophischen Theorien, außereuropäischen Religionen und Kulturen sowie anthropologischen, rhetorischen und ästhetischen Sachverhalten belegt.Footnote 5 Zwar sind mittlerweile die beiden zu Lebzeiten publizierten Bände sowie der Nachlass und einige Teile des Studienbuchs historisch-kritischFootnote 6 von Walter Morgenthaler und seinen Mitarbeitenden ediert worden, eine für die wissenschaftliche Forschung tragfähige Gesamtausgabe der Briefe bleibt allerdings weiterhin ein Desiderat.Footnote 7

Bereits anhand der beiden von Karoline von Günderrode publizierten Bände fällt neben der Bandbreite der Intertexte, dem synkretistischen Umgang mit heterogenen Topoi und Motivtraditionen vor allem die Pluralität der literarischen Gattungen auf: Günderrode spielt mit unterschiedlichen Formen des Gedichts, und sie schreibt Erzählungen, Dramolette sowie Dramentexte. Bei einem männlich gelesenen Verfasser (Tian) würden dieses Gattungsgrenzen überschreitenden Schreibverfahren nicht weiter auffallen, sobald aber von einer Autorin ausgegangen wird – und Günderrode wurde frühzeitig enttarnt –,Footnote 8 ändert sich die Situation: Während Frauen im 18. Jahrhundert immer häufiger als Verfasserinnen von Briefen, Gedichten und Prosatexten öffentlich in Erscheinung traten, war die dramatische Gattung um 1800 nach wie vor eine Männer-Domäne.Footnote 9 Dass Günderrode in der öffentlichen Wahrnehmung bis heute vornehmlich als Lyrikerin bekannt ist, hängt nicht zuletzt auch damit zusammen, dass die ästhetischen und gattungspoetischen Qualitäten ihres Œuvres, insbesondere mit Blick auf die Lesedramen, bis in die 1990er Jahre kontrovers diskutiert und beurteilt wurden.Footnote 10 Kanonisiert sind – wenn man diesen Ausdruck bemühen möchte – nur wenige Gedichte. Vor allem Der Kuß im Traume, 1804 in Gedichte und Phantasien erschienen, und Der Luftschiffer aus dem Nachlass sind Gegenstand im Deutschunterricht und kommen in Abituraufgaben vor. Philippe Wampfler hält nach der Analyse einer rezenten Auswahl von Lehrplänen und Lehrbüchern (2005–2020) fest, dass „Lyrik von Günderrode fast kanonisch“ und „immer wieder Teil von Prüfungen“Footnote 11 sei.

Viele ihrer Briefe sind der Öffentlichkeit durch die redaktionell bearbeiteten und fiktionalisierten Textversionen bekannt, die Bettina von Arnim für ihr Günderode-Buch (1840) verwendete; einzelne Briefe und Exzerpte sind auch durch Christa Wolfs Geschichte einer fiktiven Begegnung zwischen kongenialen Suizidalen, Günderrode und Kleist, in Kein Ort. Nirgends (1979) zur Kenntnis gebracht worden.Footnote 12 Und selbst Christa Wolfs 1979 herausgegebene Leseausgabe Der Schatten eines Traumes, die der feministischen Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk Günderrodes entscheidende Impulse gab,Footnote 13 verzichtet auf den Druck der Dramen. Die Wahl der Texte, schreibt Wolf, sei „subjektiv“ – „Ihre Absicht ist es, Gestalt und Lebensgeschichte einer zu Unrecht vergessenen Dichterin hervortreten zu lassen“.Footnote 14 Wolfs Anthologie, die anlässlich des 200. Todesjahres Günderrodes im Jahr 2006 neu herausgegeben wurde, popularisierte Günderrodes Namen und Leben. Gleichermaßen ungebrochen ist die Popularität der von Dagmar von Gersdorff verfassten Biographie,Footnote 15 die allerdings auch signifikant dazu beigetragen hat, Günderrode vornehmlich als Opfer ihrer Lebensumstände, weniger als ernstzunehmende und literaturgeschichtlich interessante Autorin zu erfassen.Footnote 16 Der „Mythos Günderrode“,Footnote 17 der sich unmittelbar nach ihrem Freitod bildete, ist bis heute wirksam. Nach wie vor dominiert in Überblicksdarstellung zur Romantik ein biographistischer Ansatz, sofern Günderrode in einer Gesamtschau dessen, was ‚Deutsche Romantik‘ genannt wird, überhaupt Erwähnung findet.Footnote 18 Joanna Raisbeck hält pointiert fest: „[H]äufige Themen wie Liebe, Tod und Leben bei Günderrode sind gerade deswegen verlockend, weil sie sich auf eine romantisierte Lebensgeschichte übertragen lassen.“Footnote 19 Marina Rauchenbacher wiederum hat im Rückblick auf das unerwartet große mediale Echo anlässlich des 200. Todesjahres Günderrodes ein nach wie vor eklatantes Problemfeld der Forschung benannt: „Die meisten Beiträge [der Günderrode-Forschung] bleiben signifikant hinter Erkenntnissen und Übereinkünften einer kritischen Biographieschreibung der Gender Studies und übergreifend kulturwissenschaftlicher Forschung zurück.“Footnote 20 Nach wie vor gilt ein großer Teil der Aufmerksamkeit Günderrodes außerordentlichen Lebensumständen und verstellt damit den Blick für die Eigenheiten und kulturhistorischen Zusammenhänge ihres Werks. Von solchen Lesarten möchte sich der vorliegende Band distanzieren und bewusst einer jüngeren (vornehmlich aus dem anglophonen Raum angestoßenen)Footnote 21 Forschung zuarbeiten,Footnote 22 die sowohl Einzelaspekte als auch verbindende poetologische Elemente des Günderrode’schen Werks erhellen konnte. Damit schließt der Band an grundlegende Forschungserkenntnisse zur sozialgeschichtlichen Konstellation schreibender Frauen um 1800 an.Footnote 23 Hervorzuheben sind hier unter anderem kulturhistorisch ausgerichtete Beiträge, die Günderrodes Textproduktion – und das schließt im emphatischen Sinne die Dramen der Autorin ein – aus problem- und philosophiegeschichtlicher Perspektive beleuchten,Footnote 24 hinsichtlich ihrer naturwissenschaftlichen und ökologisch ausgerichteten Fluchtpunkte befragen,Footnote 25 in Bezug auf das Spannungsfeld zwischen Mythos, Politik und Gesellschaft ausloten,Footnote 26 und Günderrodes Dichten und Denken etwa im Kontext des zeitgenössischen Indiendiskurses und der Orientfaszination um 1800 verorten.Footnote 27

Der vorliegende Band bereichert die in den vergangenen Jahren ausgeprägt aktive Günderrode-Forschung um Beiträge, die sich der (Gattungs-)Poetik, der thematischen Vielfalt und den damit verknüpften ideen-, politik- und kulturgeschichtlichen Zusammenhängen von Günderrodes Texten widmen. Im ersten Teil stehen gattungspoetologische Fragestellungen im Zentrum. Perspektiven an der Schnittstelle von Gender und Genre sowie eines gattungsspezifischen Gender Trouble (Hilmes; Schönbeck) werden hier ebenso evident gemacht wie Günderrodes Witz und Humor (Ilbrig) sowie das didaktische Potenzial der Melete-Sammlung (Villinger). Im zweiten Teil des Bandes werden kultur- und diskursgeschichtliche Perspektiven auf Günderrodes Werk entfaltet. Die Beiträge lesen Günderrodes Texte u. a. als Arbeit am Programm eines spinozistisch geprägten Panentheismus (Raisbeck) oder als politisch reflektierte Auseinandersetzung mit den Revolutionsflüchtlingen (Middelhoff) und beleuchten ihren kreativen Umgang mit literarischen Vorlagen und kulturellen Ereignissen (Bär). Abschließend steht zur Diskussion, inwiefern computergestützte Methoden Aufschluss über Günderrodes Geschlechterpolitik im Drama geben können (Flüh/Schumacher).

Der Titel des vorliegenden Bandes, „Noch Zukunft haben“, stammt aus einem Gedicht, das den Titel Wunsch trägt und 1804 in Günderrodes Gedichte und Phantasien erschien.

Wunsch

Ja Quitos Hand, hat meine Hand berühret

Und freundlich zu den Lippen sie geführet,

An meinem Busen hat sein Haupt geruht.

Da fühlt ich tief ein liebend fromm Ergeben.

Mußt ich dich überleben, schönes Leben?

Noch Zukunft haben, da du keine hast?

Im Zeitenstrome wirst du mir erbleichen,

Stürb ich mit dir, wie bei der Sonne neigen

Die Farben all’ in dunkler Nacht vergehn. (I, 40)

Morgenthaler gibt in seinem Kommentar an, dass die Datierung von Max Büsing,Footnote 28 der 1801 als Entstehungsjahr des Gedichts nennt, unsicher sei. Gleichermaßen zurückhaltend verweist er auf Büsings Mutmaßung, das Gedicht könne als „Verzicht KvGs auf Karl v. Savigny“ gelesen werden. Büsings spekulative Aussage setzt er daher auch in Klammern (vgl. III, 83). Auf Büsings biographische Lesart des Gedichts geht Morgenthaler also zwar nicht weiter ein, stellt ihr aber auch keine andere Interpretation entgegen. Die Deutung, dass „Quito“ als Chiffre Karl von Savignys und das Gedicht als Günderrodes Absage einer Liebesbeziehung zu verstehen ist, steht daher alternativlos im Raum. Aus Morgenthalers textgenetischer Darstellung der Handschriften H1 und H2 (vgl. II, 40, Abb. 1) wird deutlich, dass Günderrode vorschnellen Schlüssen und einer simplen biographischen Interpretation gewissermaßen vorzubeugen bemüht war, indem sie das einleitende und referenziell entscheidende „Ja seine Hand“ in H1 zu „Ja Quitos Hand“ in H2 veränderte. Dass „Quito“ ein Deckname für Savigny sein soll, erscheint keineswegs evident.

Abb. 1
figure 1

Wunschphantasma der biographistisch operierenden Forschung? Günderrodes Wunsch (II, 40)

Der Auffassung, dass „Quito“ als Verweis auf eine Person und die Stimme des Textes als Karoline von Günderrodes alter ego aufgefasst werden sollte, lässt sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Günderrodes experimentellem Umgang mit der Prosopopöie mit einer alternativen Perspektive auf den Text begegnen. Gedichte, in denen nichtmenschliche Akteure zum Sprechen gebracht werden, sind vor allem aus der Melete-Sammlung bekannt. So berichtet dort der Kaukasus im gleichnamigen Gedicht, wie ihm „zu Häupten“ die Wolken ziehen, wie „Wellen“ ihm „den Fuß“ umspielen und die Jahreszeiten ihm wechselweise die „Schläfe“ zieren (I, 333). Der Nil im gleichnamigen Gedicht erzählt wiederum von seinem Weg von den Bergen hinab ins Tal, wo er lebensspendend die Erde „umarm[t]“ und sich als „Sohn“ der „Gebährerin Erde“ bezeichnet (I, 330). Eine anthropomorphe Ästhetisierung der Stimme/Sprecher:innen und eine Darstellung, die sich für Prozesse des Metamorphotischen und Vergänglichen in einer geographischen entlegenen Ferne interessiert, sind demnach keine Seltenheit bei Günderrrode, wie sich beispielsweise auch mit Blick auf Ein apokaliptisches Fragment (das gemeinsam mit Wunsch erschien) zeigen lässt, in dem das Ich sich u. a. imaginativ in einen „Tropfen Thau“ (I, 53) verwandelt, sich auflöst und kosmisch verbindend „im Meer [wogte], in der Sonne [glänzte], mit den Sternen [kreiste]“ (I, 54). Dass Günderrode in Wunsch den Vulkan sprechen lässt, an dessen Fuße die Stadt Quito liegt, und somit das Spannungsfeld zwischen (Ko-)Existenz, Temporalität und Zerstörung sowie Fragen zum zeiträumlichen Verhältnis des Werdens und Vergehens, Überlebens und Todes verhandelt, ist daher nicht abwegig. Vom vulkanischen ‚Hausberg‘ Quitos, dem Pinchincha, hatte Günderrode beispielsweise in der Allgemeinen Literatur-Zeitung erfahren können, in der 1803 von Alexander von Humboldts Südamerikareise berichtet wurde, die ihn und Bonpland 1802 auch nach Quito und auf den Pinchincha geführt hatte.Footnote 29 1797 war Quito zudem aufgrund eines verheerenden Erdbebens in den ‚Schlagzeilen‘,Footnote 30 bei dem ca. 40.000 Menschen ihr Leben verloren. Auch darüber hatte Humboldt 1803 u. a. in der Berlinischen Monatsschrift und in den Annalen der Physik Mitteilung gegeben,Footnote 31 Quito war aber als Erdbebengebiet weitaus länger bekannt.Footnote 32

Es ist selbstredend nicht die ultima ratio, Günderrodes Wunsch als Rollengedicht zu lesen, in dem ein Vulkan oder eine erdbebenerfahrene Landschaft über seine bzw. ihre eigene Naturgewalt nachdenkt – eine Macht, vor der nicht nur die Stadt Quito und ihre Einwohner:innen, sondern „schönes Leben“ überhaupt „erbleichen“ und sich fragen muss, ob „Zukunft haben“ im Vulkangebiet noch im Rahmen des (Menschen-)Möglichen liegt. Betonen möchten wir mit dieser Mikro-Lektüre aber dennoch, dass Deutungen der Günderrode’schen Texte nicht bei biographischen Perspektiven stehen bleiben sollten, sondern von einer kulturgeschichtlichen Kontextualisierung und werkbezogenen Relationierung durchaus profitieren können. Für die Programmatik und Agenda dieses Bandes heißt das auch, dass hier nicht in jedem ‚Quito‘ eine Savigny-Quintessenz gesucht wird, sondern – den ‚Mythos Günderrode‘ dekonstruierend – ein Interesse an neuen Lektüren der Texte Günderrodes mit innovativen Zugängen maßgeblich ist.

Welche Zukunft hat also die Günderrode-Forschung? Wie oben erwähnt, ist die wissenschaftliche Diskussion, erstens, überaus lebendig, immer mehr Forschende interessieren sich für das Werk Karoline von Günderrodes, der Zuwachs an Aufsätzen und Monographien in den letzten zehn Jahre ist beträchtlich.Footnote 33 Dieser Trend – so unser an Günderrodes Gedicht angelehnter „Wunsch“ – soll auch in den nächsten Jahren nicht abreißen. Zweitens geht es dieser neuen Forschung zunehmend darum, Günderrode nicht länger als exzentrischen weiblichen Hölderlin, Kleist, Rückert etc. zwischen Klassik und Romantik zu profilieren, sondern ihren genuin eigenen Beitrag zur philosophischen und ästhetischen Diskussion um 1800 herauszuarbeiten und ihre Verortung im kulturellen Geschehen an der Schwelle zur Moderne zu leisten.Footnote 34 Genau diese Grundlinien wollen wir im vorliegenden Band weiterverfolgen, erproben und dadurch zur weiteren Beschäftigung mit Günderrodes Werk anregen.

Darüber hinaus knüpft der Band an das eingangs erwähnte Desiderat einer kritischen Ausgabe der Günderrode-Briefe an, indem ausgewählte, bislang größtenteils unveröffentlichte Briefe der Autorin, die sie im Gespräch mit der Familie zeigen, im Band abgedruckt werden. Joanna Raisbeck führt in die Briefnetzwerke sowie die stilistischen und motivischen Merkmale Günderrodes vor ihrem Debüt als Autorin ein und kommentiert die von ihr transkribierten Briefe. Sichtbar wird Günderrode hier nicht nur in ihrer sozialen Rolle als Angehörige einer alteingesessenen Patrizier-Familie. Vielmehr lassen sich den Briefen auch das rhetorische Geschick, der Witz, die Initiative und die empathischen Kommunikationsformen der Autorin im dialogischen Format entnehmen. Diese Brief-Facetten sind von der Forschung bislang häufig unreflektiert geblieben, weil der Blick auf Günderrode als Briefadressatin/Objekt (z. B. des sogenannten „Blutbriefs“Footnote 35 von 1802 aus der Feder Clemens Brentanos), weniger als Briefschreibende/Subjekt dominierte, oder weil die Aufmerksamkeit auf die Rezeption und Umarbeitung der Briefe Günderrodes gerichtet war (z. B. die ‚Liebesbriefe‘ an Creutzer, die bei Christa Wolf zu finden sind, oder die redaktionell bearbeiteten Briefe, die Bettina v. Arnim für ihr Günderode-Buch verwendet). In diesem Band möchten wir mithilfe der Briefe stattdessen Günderrodes Stimme und ihre Rolle der Korrespondentin in den Vordergrund rücken.

Das vorliegende Buch geht auf einen Workshop zurück, der im Januar 2021 unter dem Titel „Noch Zukunft haben. Das Werk Karoline von Günderrodes neu gelesen“ stattfand. Dieser Workshop bildete den Auftakt einer Reihe von Veranstaltungen, die seither unter dem Namen Kalathiskos durchgeführt werden und das Werk einer Autorin aus dem Umfeld der Romantik ins Zentrum stellen.Footnote 36 Unser Dank gilt den studentischen Hilfskräften Charlotte Dornauf und Vera Leisinger, die uns bei der Drucklegung des Bandes unterstützt haben.