John Swintons „Lügenpresse“ – Die wahre Geschichte eines Zitats

12.06.2016

Der Vorwurf der „Lügenpresse“ hat Teile der etablierten Medien tief getroffen. Manche gingen zum Gegenangriff über, indem sie das Wort der Sprache des Dritten Reiches zuordneten. Manche wurden nachdenklich und fragten sich, woher der massive Vertrauensverlust gegenüber gesendeten Bildern und gedruckten Sätzen nur komme. Manche reagierten, indem sie etwa aufgezeichnetes Material ungekürzt veröffentlichten, um Zensurverdächtigungen ins Leere laufen zu lassen. Ein Vorwurf – auch wenn er überzogen und überspitzt sein mag – kann also etwas bewegen. Wer falsche oder einseitige Darstellungen, Täuschungsversuche oder plumpe Meinungsmache in den Massenmedien kritisiert, sollte sich allerdings im klaren sein, daß diese Kritik auch ganz schnell zum Bumerang werden kann.

Als Kronzeuge für die Existenz einer „Lügenpresse“ geistert schon seit Jahren ein US-Journalist des 19. Jahrhunderts durch Bücher, Gazetten und das Internet: John Swinton. In verschiedenen, leicht voneinander abweichenden Fassungen wird dem guten Mann ein längeres Zitat zugeschrieben, das wir hier – auf das Wesentliche gekürzt – wiedergeben: „So etwas gibt es bis zum heutigen Tage nicht in der Weltgeschichte, auch nicht in Amerika: eine unabhängige Presse. […] Das Geschäft der Journalisten ist, die Wahrheit zu zerstören, schlankweg zu lügen, die Wahrheit zu pervertieren, sie zu morden, zu Füßen des Mammons zu legen und sein Land und sein Volk zu verkaufen zum Zweck des täglichen Broterwerbs. Sie wissen das, und ich weiß das, also was soll das verrückte Lobreden auf eine freie Presse?“

Der Frontalangriff gegen den eigenen Berufsstand steigert sich noch: „Wir sind Werkzeuge und Vasallen von reichen Männern hinter der Szene. Wir sind Marionetten. Sie ziehen die Strippen, und wir tanzen an den Strippen. Unsere Talente, unsere Möglichkeiten und unsere Leben stehen allesamt im Eigentum anderer Männer. Wir sind intellektuelle Prostituierte.“ Der das gesagt haben soll, eben John Swinton, soll aber kein x-beliebiger Vorstadt-Schreiberling gewesen sein, sondern wahlweise Verleger, Herausgeber oder Chefredakteur der damals schon renommierten New York Times. Die Worte sollen 1880 gefallen sein, auf einem Bankett, das „Branchenkollegen“ oder „die Führer der Zeitungszunft“ ausgerichtet hätten. Näheres über Datum, Ort und Teilnehmer ist nicht bekannt. Eine andere Version besagt, daß das Zitat aus der Abschiedsrede anläßlich seiner Pensionierung stammt.

Letzteres ist im Zusammenhang mit dem Jahr 1880 besonders putzig, denn da war der am 12. Dezember 1829 geborene John Swinton gerade mal 50 Jahre alt. Als Swinton im Jahr 1901 nach zehntägiger Krankheit starb, bezeichnete ihn die New York Times in einem Nachruf als „Journalisten, Volkswirt und Redner“. Hätte sie es verschwiegen, wenn er einst Herausgeber oder Chefredakteur gewesen wäre?

John Swinton war bereits in früher Jugend mit seiner Familie aus Schottland nach Nordamerika ausgewandert, er lebte teils in Kanada, teils in den Vereinigten Staaten, absolvierte eine Druckerlehre und versuchte sich an einem Medizinstudium. Als er 1860 einen Beitrag über ein medizinisches Thema an die New York Times schickte, waren die Blattmacher so begeistert, daß sie ihm eine Stelle anboten.

So kam Swinton zum Journalismus. Er wurde Hauptleitartikler (chief editorial writer) bei der New York Times – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Diesen Posten behielt er ein Jahrzehnt lang, arbeitete dann von 1870 bis 1875 als freier Journalist, bevor er bei der New York Sun anheuerte, bei der er bis 1883 ebenfalls die Leitartikel schrieb. Danach gründete er eine eigene Wochenzeitung, John Swinton’s Paper. Nach vier Jahren wurde das Blatt eingestellt, und Swinton kehrte in die journalistische Lohnarbeit zurück, arbeitete als Korrespondent für ausländische Zeitungen und noch einmal fünf Jahre lang für die Sun. Politisch stand Swinton links, er war begeisterter Anhänger der Arbeiterbewegung und glühender Gegner der Sklaverei. Insofern würde die Schimpftirade gegen den Mammon und die reichen Männer ja passen.

Mehr als ein Indiz ist das jedoch nicht. Falls die Verwender des „Zitats“ ausnahmsweise mal eine Fundstelle angeben, dann handelt es sich um Sekundärliteratur, die sehr viel später erschienen ist. Darunter ist zum Beispiel The Brass Check: A Study of American Journalism (1920) von Upton Sinclair oder Labor’s Untold Story (1955) von Richard O. Boyer und Herbert M. Morais. Diese bringen zwar das Zitat in englischer Sprache, nennen aber auch nicht die Herkunftsquelle, sind als Belege also komplett untauglich. Für die deutschsprachige Übersetzung ist erst recht keine Quelle ersichtlich, daher sind die angeblichen Swinton-Worte in der deutschsprachigen Zitatensammlung Wikiquote im November 2011 auch gelöscht worden.

Im englischsprachigen Raum gab es jedoch pfiffige Spürhunde, die auf eine Art „Urfassung“ des Zitats stießen. Sie findet sich in dem Buch The New Republic (1883) von E.J. Schellhouse, eingebettet in einen Beitrag, den der Autor aus einer „Zeitung aus dem Osten“ kopiert haben will. Das ist nun alles andere als eine genaue Angabe, auch in dem Artikel selbst findet sich weder ein Datum noch der Ort des Geschehens. Und vor allem gibt es keinen Hinweis auf John Swinton. Lediglich „ein prominenter New Yorker Journalist“ wird als Urheber der Worte genannt, die bei einem Presse-Dinner als Entgegnung auf einen Trinkspruch zugunsten der „unabhängigen Presse“ gefallen sein sollen. Als er geendet hatte, soll tiefe Stille den Raum beherrscht haben, so die „Zeitung aus dem Osten“.

Vergleicht man übrigens den Text mit den heute kursierenden deutschen Übersetzungen, so können diese als recht ordentlich bezeichnet werden. Eine Ausnahme ist allerdings auffällig: Heißt es in der deutschen Fassung, es sei das Geschäft der Journalisten, die Wahrheit zu zerstören, zu lügen usw., ist im Original die Rede davon, dies sei das Geschäft eines New Yorker Journalisten. Bereits anfangs hatte der Redner gesagt, es gebe in Amerika keine unabhängige Presse, außer in Städten auf dem Land („unless it is out in country towns“). Auch diese Einschränkung fällt in deutschen Übersetzungen unter den Tisch. Dabei ist es nicht gerade unerheblich, ob eine Kritik pauschal geübt wird oder einen konkreten Adressaten im Auge hat.

Im Jahre 1894 veröffentlichte Gordon Clark sein Buch Shylock, und auch er verwendete das obskure Zitat. Doch Clark schildert in einer Fußnote, daß er dem Urheber der Worte nachgespürt habe und dabei auf eine Rede von John Swinton gestoßen sei – allerdings aus dem Jahr 1883, nicht 1880. Clark schreibt, Swinton bestehe darauf, seine Aussagen seien „unbeholfen berichtet“ worden, und sie enthielten keine „infamen persönlichen Bekenntnisse“. Swinton habe außerdem den Unterschied verdeutlichen wollen zwischen Schreiberlingen, die Werkzeug anderer sind, und Journalisten, die ihre Überzeugungen frei äußern. Gordon Clark nimmt an, die „journalistische Bruderschaft“ habe die Äußerungen des Kollegen so amüsant gefunden, daß sie sie „verbessert“ und in ihre gegenwärtige Form gebracht habe. Hat Swinton mit dem, was er gar nicht gesagt hat, also am Ende recht?

Steve Lerod, zuerst.de (11.6.2016)

http://zuerst.de/2016/06/11/john-swintons-luegenpresse-die-wahre-geschichte-eines-denkwuerdigen-zitats-und-seine-hintergruende/