Höhere Gewalt | Kritik | Film | critic.de

Höhere Gewalt – Kritik

Und was würdest du tun? Ruben Östlund macht sich einen Spaß aus ernsten Themen.

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Die Lawine rollt, sie wächst, sie malmt. Ein Schauspiel, wie es besser nicht geeignet sein könnte, um Kants Idee des Erhabenen zu illustrieren: Die auf der Aussichtsterrasse entspannenden Skitouristen zücken die Smartphones, ergötzen sich an den aus sicherer Distanz beobachteten Naturgewalten, erfreuen sich zugleich an ihrer Gewissheit, dass alles unter Kontrolle ist. Aber die Schneemassen wachsen immer weiter an und dringen in den Himmel. Panik bricht aus, ein Vater (Johannes Kuhnke) ergreift überstürzt die Flucht, seine Frau (Lisa Loven Kongsli) umklammert die beiden Kinder (Clara und Vincent Wettergreen) fest, und dann wird alles weiß. Helligkeit verschluckt die Hilfeschreie.

Flocken im Getriebe der Familienmaschine

Höhere Gewalt (Turist) ist ein Katastrophenfilm ohne Katastrophe. Es ist ein Anti-Emmerich, weil hier der archetypische Beschützerheld radikal versagt. Die Lawine, sie war doch nur Schneestaub. Aber als der Vater zu den Seinen an den Mittagstisch zurückkehrt, sich das weiße Pulver aus der Kapuze klopft, da ist der Schnee von den Alpenhängen schon tief in den intimen Zusammenhalt der Familie gerutscht. Die Katastrophe ist eine innere geworden, am besten kann man sie als kollektives Trauma fassen.

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Was hier kaputtgeht, ist die Feinmechanik der Institution Familie. Für Ruben Östlund trägt diese Elementareinheit menschlicher Gemeinschaft alle Zeichen der Maschine, weil hier klar umrissene Rollenbilder zahnradgleich den Gesamtzusammenhalt garantieren. Wenn die Maschine läuft, dann lässt sie die instinkthaften Untiefen der Menschen vergessen. Wenn sie stottert, dann brechen die uneingestanden Planungsfehler erbarmungslos hervor. Und so erzählt Östlund vom Auseinanderbrechen familiärer Verstrebungen über vielfältig und komplex arrangierte Verweise auf die technischen Begleiterscheinungen unserer modernen Existenz. Am Abend vor der Katastrophe schauen die vier vom Pistenwedeln matten Schweden noch glücklich in den großen Badezimmerspiegel, während von den Fliesenwänden das Gebrumme von vier elektrischen Zahnbürsten echot. Am nächsten Abend putzen nur noch zwei, am übernächsten einer ganz allein lautstark die Beißer.

Demgegenüber steht das Setting „Skigebiet“, das Höhere Gewalt über ruhige Aufnahmen verlässlich arbeitender Pistenraupen, automatisch aufleuchtender Pistenpläne, ewig laufender Liftanlagen erschließt. Es ist ein Ort, an dem eine gewisse Idee unbezwingbarer, rauer Naturhaftigkeit mithilfe hochkomplexer maschineller Arrangements konsumiert werden kann. Hierher ziehen sich die im alltäglichen Erwerbsarbeit- und Schulstress aufgeriebenen Familien zurück, um ihre psychologischen Getriebe zu ölen. Aber sofort stiftet Östlund Unsicherheit, wenn ohrenbetäubend laut und in unsinnig hoher Frequenz Lawinensprengungen über die Talbecken donnern – ein beständiges Grollen inmitten der gemeistert geglaubten Natur.

Fremdschämen dürfen sich die anderen

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Höhere Gewalt hätte allzu leicht in die Haneke-Falle tappen können, so unerbittlich sind die metaphorischen Bezüge hier durchkonstruiert, so absolut unspontan wird das Schauspiel in die Kader gezwungen, so zynisch und emotional uninvolviert wird das Erodieren der schnell lächerlich erscheinenden Idee „Familie“ organisiert. Aber just in dem Moment, als alles darauf hindeutet, dass der Film nun zu einem im abgeschlossenen System vollzogenen Experiment verkommen würde – wer schon einmal in den französischen Alpen, zumal in Ferienzeiten, Skifahren war, der kann über die menschenmassenleeren Hänge nur lachen –, macht Östlund etwas, was dem überstrengen Österreicher Haneke niemals in den Sinn käme: Er fängt an zu spielen. Die fundamentale Erschütterung der Kleinfamilie, ausgelöst durch das Versagen ihres gesellschaftlich und ökonomisch vorbestimmten Beschützers, folgt keinem vorausgeplanten Script. Das Infragestellen des Selbstverständlichen befördert Ängste ebenso, wie es neue Freiräume andeutet.

So kann sich die Mutter im Gespräch mit einer eher lockeren Treuekonzepten verschriebenen Gleichaltrigen fragen, worin denn der Sinn des Ganzen besteht, wenn ihr Verzicht auf Sex mit anderen nicht mit erhöhter Schutzwirkung einhergeht. Und mit dem Auftritt eines befreundeten Paars – ein vollbärtiger Mittvierziger (Kristofer Hivju) mit seiner halb so alten Partnerin – kommen Teilnehmer in die zunehmend panisch verlaufenden Gesprächsrunden, an die der Zuschauer dankbar alle Fremdschamregungen delegieren kann. Wundersamerweise vertieft diese komödiantische Lockerung die theoretischen Reflexionen mehr, als es jedes Anziehen gescripteter Daumenschrauben vermocht hätte.

Bloß nicht identifizieren!

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Östlund hat sich einen ganz eigenen Platz in der zeitgenössischen Filmszene erkämpft, weil er nicht das Individuum, sondern Gruppen in ihrem dynamischen Innenleben als Handlungsträger ins Zentrum stellt. Diese These wird von Höhere Gewalt zugleich bestätigt und relativiert. Denn einerseits wird hier natürlich eine schon lange krisenhafte Form menschlichen Zusammenlebens (die durch romantische Energie am Laufen gehaltene Familie) weiter problematisiert. Auf der anderen Seite aber kommt die Kamera den einzelnen Figuren viel näher als noch in seinem Rassismusplanspiel Play (2011), werden die individuellen Psychen viel exakter gegeneinander kontrastiert. Der Grund für diese Entscheidung scheint augenfällig: In einem Gruppenkonzept, das sich vor allem über Intimbeziehungen definiert, kann nicht allein von außen beobachtet werden. So verlagert sich die analytische, um nicht zu sagen: wissenschaftliche Perspektive Östlunds hier in die Mitte der Gruppe, ohne aber ihre wahrscheinlich unvermeidlichen Distanzeffekte zu verlieren. Das lässt Höhere Gewalt auf verwirrende Weise emotional noch kühler erscheinen als Play oder den Zaungast-Film Incidents by a Bank (2010), weil jede Nahaufnahme hier nicht minder berechnend eingesetzt ist als die Östlund-typischen Totalen.

Also rollt die Lawine nun doch kontrolliert und prallt, wenn schon nicht an der Restaurantterrasse, so auf jeden Fall an der Leinwandoberfläche ab? Schwer zu sagen. Höhere Gewalt funktioniert dann nicht, wenn sich die Zuschauer von der scheinbaren Nähe der Figuren zum Versuch einer Identifikation mit ihnen verleiten lassen. Denn dann wird sie Östlunds zynischer Humanmaschinismus, der nur Funktionsträger kennt, zurückstoßen. Aber wenn die komödiantischen Verfremdungen genau die produktive Distanz herstellen können, die nötig ist, um die zwischenmenschlichen Dynamiken klar hervortreten zu sehen, dann kann Höhere Gewalt Großes leisten. Denn die rechte Zuschauerhaltung ist hier eine, die sich am besten als eine imaginäre Partizipation begreifen ließe, als spielerisches Teilnehmen an den Situationen und Gesprächen, um darüber schließlich bei der Herzensfrage des Filmes zu anzulangen: Und was hätte ich gemacht?

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Kommentare


cineastin

sorry, aber diese Rezension kapiere ich nicht. mir wird noch nicht einmal klar, welche geschichte der film eigentlich erzählt. der schreibstil ist auch sehr kompliziert finde ich, und dann sind da wörter drin, die mir nicht klar sind. was soll ich zum beispiel unter einem "zynischen Humanmaschinismus" verstehen, und was meint er, wenn er sagt, der Zuschauer könne "dankbar alle Fremdschamregungen" an ein befreundetes paar "delegieren"? für was soll man sich denn schämen? und was hat es überhaupt mit diesem paar auf sich? verstehe nur bahnhof


Chihiro

Hallo Cineastin, auch ich finde den Stil etwas gespreizt und verstehe Einiges nicht. Wenn's schon mit Kant losgeht... Aber soviel zum Film: Eine schwedische Familie fährt nach Frankreich in den Urlaub, bleibt fünf Tage und macht an diesen 5 Tagen im Luxusressort emotional die Hölle durch. Tatsächlich sind viele Szenen sehr witzig - oder sehr dramatisch, je nach Sichtweise. Visuell ist er atemberaubend, die Tonspur kontrastiert mit Explosionen und Vibrationen die kühle Strenge der Bilder- und ich kann ihn nur empfehlen.


cineastin

hallo chihiro, danke für die kompakte, verständliche Beschreibung. finde, dass der film interessant klingt, habe ihn mir vorgemerkt! hoffentlich auch spannend!


Maoth

irgendetwas stimmt mit diesem Film nicht. Er will das Problem der Familie Ernst nehmen und sich gleichzeitig davon distanzieren, indem er sie in die artifizielle Welt des Skirresorts versetzt. In einer Welt, in der offensichtlich das Mass für Gefahren sowieso schon lange verloren wurde, werden wir darum gebeten, eine Geschichte Ernst zu nehmen, die Gefahr und Flucht als zentrales Thema hat. Das ist kein analytischer Blick, dass ist Unentschiedenheit, die ins Ornament abdriftet, Weil diese Perspektiven nicht zu versöhnen, gibt es vieles Überflüssige, wie etwa die Spielzeugdrohne, die nur eingeführt wird, um einen Effekt zu erzeugen, einen Knall zu machen.


Roland

Hallo
Ich möchte wissen, wie der Skiort in den franz. Alpen heisst, wo der Film Turist gedreht wurde.


fifty

Danke für die Kritik! Noch jemand, der ganz treffend erkennt, dass hier ein Regisseur ähnlich wie Michael Haneke ein gesellschaftliches Problem zum Exempel macht, es aber nicht dabei belässt, sondern es überwindet, indem er Lösungen anbietet. Und die Lösungen am Ende des Films (ja es sind mehrere!) sind von entlarvender Intelligenz. Erst muss man sich fragen, wer mehr Heldentum an den Tag zu legen hat, wenn es drauf ankommt - Mann oder Frau? Und dann wird die Frage zurecht als herrlich sinnos geoutet. Denn wir sind allesamt fähig dazu, feige Affen zu sein. Es ist eher die Situation, die entscheidet, ob wir zu Feiglingen oder zu Helden werden. D.h. nicht unser Geschlecht oder Moralvorstellungen dirigieren unser Handeln, sondern unsere ganz individuellen Ängste. Und da dies so ist, müssen wir uns selbst und unseren Kindern immer wieder Muster vorspielen, damit wir etwas zum Festhalten haben und unsere Angst kaschieren können. Ich habe mir den Film angeschaut, nachdem ich vom selben Regisseur "The Square" gesehen habe und wieder die gelungene Balance von Satire und Realismus bewundert.






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