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Bettina König
Von Katzen-Mumien, leckerem Gianduiotto
und erhängten Pferden
Ein Ausflug in die Königsstadt Turin

Mumifizierte Menschen, Katzen und Hunde im Museo Egizio. Ein einbalsamiertes Pferd, das im Museum für zeitgenössische Kunst im Castello di Rivoli von der Decke hängt. Etliche blutrünstige Varianten des geköpften Johannes des Täufers in der Galleria Sabauda. Wer sich in Turin aufmacht, Kultur zu genießen, braucht starke Nerven und einen guten Magen.

Aber natürlich gibt es dort auch: Wunderschöne Architektur im Pariser Stil und prächtige Laubenstraßen mit unzähligen Geschäften renommierter Marken, die man trockenen Fußes erreichen kann. Jede Menge reizender, kleiner Bars für ein leckeres Frühstück oder einen entspannten Aperitif. Überdachte Passagen mit großartigen Restaurants, in denen man vorzüglich und gar nicht teuer isst.

Die Herkunftsstadt der italienischen Königsdynastie Savoyen und ehemalige italienische Hauptstadt hat wirklich viel zu bieten, obwohl die meisten Italienreisenden Turin wahrscheinlich gar nicht auf dem Schirm haben. Naja, auf der Achse Innsbruck – Jesolo liegt diese Metropole ja nicht gerade, man muss sie schon gezielt ansteuern; am besten mit einem der Hochgeschwindigkeitszüge, den überraschend gut funktionierenden, bequemen und schnellen Frecce über Bozen und Mailand.

Beim ersten Stadtrundgang mit zaghafter Sonne (das einzige Mal, dass wir sie zu sehen bekamen) und bei klirrender Kälte (obwohl Ende April) fallen uns zunächst vor allem drei Dinge ins Auge: Die wunderbare Jugendstilarchitektur, die stilistische Nähe des Städtebaus zu Frankreich, vor allem zu Paris, und die Tatsache, dass man sich in Turin eigentlich gar nicht verirren kann. Die Straßen der Stadt basieren nämlich auf dem rechtwinkligen Raster der römischen Stadtstruktur, und die wichtigsten Achsen, die Via Roma, die Via Giuseppe Luigi Lagrange, die Via Giuseppe Garibaldi und die Via Po steuern kerzengerade das absolute Zentrum und die gute Stube von Turin an: die Piazza del Castello.

 

Stilmix zwischen Barock und Hochhaus

Natürlich tun wir es diesen Straßenzügen gleich und landen alsbald auf dem großzügigst angelegten Platz um das ehemalige Königsschloss derer von Savoyen. Unser erster Eindruck dieses Mittelpunkts der Stadt, der rein den Fußgängern vorbehalten bleibt, ist zum einen die immense Weite – eine ostentative Demonstration der Macht dieser Königsfamilie, die seit dem Hochmittelalter über Savoyen und Piemont herrschte und von 1861 bis 1946 die Könige Italiens stellte -, und zum zweiten das charmante Sammelsurium an Stilen, das sich an seinen Rändern versammelt hat.

Nicht einmal der Palazzo Madama am Südende des Platzes kann mit einem einheitlichen Stil aufwarten. Seine dem Platz zugewandte Seite protzt mit einer der schönsten Barockfassaden des Piemont, deren Ausbau auf Maria Cristina von Frankreich, der Witwe von Vittorio Amedeo I. von Savoyen, zurückgeht, nach der das Schloss benannt ist. Sein Hinterteil besteht hingegen aus einer frugalen Zwingburg im Backsteinlook. Und dann versammeln sich an dieser Piazza noch: die barocke Real Chiesa di San Lorenzo, imposante Stadthäuser im Parisian Style und ein – ziemlich unmotiviert in die Landschaft gebautes – Hochhaus, zugegeben eines von der niedrigeren Sorte.

Obwohl der Platz wegen des herrschenden Feiertags (es ist der 25. April, Tag der Befreiung Italiens von Faschismus und Nationalsozialismus) sehr belebt ist, scheint sich doch alles irgendwie angenehm zu verlaufen; trotz Ponte mit entsprechendem inneritalienischen Urlauberaufkommen haben wir nie das Gefühl, in die Overtourism-Falle getappt zu sein. Unterwegs sind: Familien mit kleinen Kindern, Familien mit großen Kindern, Familien mit Nonna und Nonno, sehr viele Jugendliche und Studenten, Menschen mit Migrationshintergrund, von denen einige heftig auf afrikanisch anmutende Trommeln einschlagen, schick gekleidete Herren in ebenso schick gekleideter weiblicher Begleitung – und wir, zwei Touristinnen aus dem kalten Norden.

Kalt ist es hier allerdings auch, kälter als daheim; ich muss nach einer durchfrorenen Nacht an der Hotelrezeption eine Stufetta einfordern – einen kleinen Ofen für mein Zimmer. Der kommt auch und wärmt, wie solche Stufettas eben wärmen: im Umkreis von 50 Zentimetern. Naja, besser als nichts. Zumindest meine kalten Zehen taut er auf. Der unerwartete Wiedereinbruch des Winters mit Kälte und Dauerregen ab dem zweiten Tag unserer Ankunft lässt sich aber ansonsten dank interessanter und vielfältiger Museumslandschaft, einladender Gastronomie, tollem Shoppingangebot und der bereits erwähnten überdachten Laubengänge gut ertragen. Außerdem hilft’s eh nix. Das Wetter kann man nicht beeinflussen, nur die eigene Laune.

Ein Schloss für moderne Kunst

Und um diese zu heben, besteigen wir ein Taxi und deponieren bei unserem Fahrer Marco, er möge uns doch nach Rivoli bringen. Über dieser kleinen Stadt 15 Kilometer westlich vor den Toren Turins thront das Castello di Rivoli, eine der Königsresidenzen der Savoyer. Über die Jahrhunderte verfiel das Gebäude, zuletzt wurde es während des Zweiten Weltkriegs als Evakuierungsort genutzt. 1986 begann man mit der Restaurierung, die bis 2000 dauerte, und wandelte das abgewrackte Schloss in einen modernen, absolut außergewöhnlichen Ausstellungsort für moderne Kunst um. Als Marco die letzten Kurven auf den Hügel des Museo d’Arte Contemporanea kurvt, sind wir sofort entzückt von dieser Mischung aus altem Mauerwerk und modernen Metallelementen mit ganz viel Glas, die dem Ganzen eine wunderbare Leichtigkeit geben.

Beeindruckend ist auch der Inhalt, denn die großen, leeren und zum Teil unfertig wirkenden Räume bieten einen sehr einnehmenden Rahmen für Exponate zeitgenössischer Künstler, darunter Rebecca Horn, Sol LeWitt und Mario sowie Marisa Merz in der ständigen Ausstellung. 

Sehr ansprechend finde ich gleich die witzige Venus der Fetzen von Michelangelo Pistoletto aus dem Jahre 1967 oder auch die riesengroße Dropped Flower von Claes Oldenburg und Cossje van Bruggen von 2006. Auch die Schwarz-Weiß-Fotografien von Paolo Pellion di Persano sprechen mich sehr an, darunter ist auch ein Selbstportrait, in den Spiegel fotografiert. Grenzwertig, aber doch irgendwie auf eine morbide Art faszinierend ist das einbalsamierte Pferd, das dank Zugseilen an der Decke eines mit Stuck prächtig ausgestatteten Prunksaales hängt – Werk des Künstlers Maurizio Cattelan. Zugegeben etwas ratlos hinterlässt mich hingegen die temporäre Exposition von Rossella Biscotti, deren Kunstwerke sich mir nur durch den erklärenden Text daneben erschließen, wie etwa fingierte Ölpipelines neben Bottichen von klebrigem Altöl.

Auf der Rückfahrt in die Stadt erklärt uns Marco, wie sehr sich Turin in den letzten Jahrzehnten geändert habe. Die Stadt sei nun nicht mehr nur eine Città degli operai, also eine Stadt der Arbeiter, in der sich alles um Mamma FIAT dreht, die gut für sie sorgt. Der Firma ginge es nun wohl nicht mehr so gut, das mit dem Kümmern und Sorgen funktioniere nun nicht mehr. Dafür sei Turin jünger und dynamischer geworden, voll von Studenten, die ausgehen, genießen und leben wollen. In seinen Nachtdiensten habe er früher nur Carabinieri und Taxifahrer getroffen, nun sei die Stadt auch nachts voller Leben, die Lokale voll bis in die Morgenstunden. Gut getan habe Turin auch die Austragung der Olympischen Winterspiele 2006, für die die Stadt infrastrukturmäßig sehr aufgewertet worden sei. Sagt Marco.

 

Bicerin, Champagner und Tonno

Nach so viel Stadtgeschichte und Kunst ist eine Stärkung angesagt, und wir gönnen sie uns in Form eines Glases Bicerin im Caffè Lumière, wo die Barista behauptet, dieses Getränk sei dort auch erfunden worden. In unserem Führer steht etwas anderes, nämlich dass die Geburtsstunde dieser Mischung aus heißer Schokolade, Kaffee und Schlagobers obendrauf im gleichnamigen Kaffeehaus im Quadrilatero Romano, der Altstadt von Turin, geschlagen habe. Uns ist das einerlei, wir finden die Mischung auf jeden Fall sehr belebend und halten uns strikt an die Anweisungen der Barista, das Getränk ja nicht zu mischen, sondern systematisch von oben nach unten zu genießen. 

Solchermaßen gestärkt, ergeben wir uns den Verlockungen des Shopping und parken unsere prallen Einkaufstüten anschließend noch für ein Glas Champagner in der Bar Maison San Federico Cafè & Wine in der Galleria San Federico. Dabei wohnen wir ungewollt einem Discoabend zu früher Stunde bei:  DJane, die mitten in der Galleria bei vollster Lautstärke ihre Künste präsentiert, hält offensichtlich nichts von vornehmer Zurückhaltung. Von diesen überdachten Passagen hat Turin übrigens mehrere, beim Bauen dieser wunderbaren Gebilde war die Stadt im späten 19. Jahrhundert in ständigem Wettstreit mit Mailand, wo die erste dieser Sorte entstand. Besonders entzückend: die Galleria Subalpina mit absolut französischem Flair und einem italienisch-japanischen Restaurant (Arcadia) in eindrucksvollem Ambiente.

Am nächsten Tag steht das Museo Egizio auf dem Programm. Ein ägyptisches Museum in Turin? Und dann noch eine der bedeutendsten Sammlungen altägyptischer Kunst und Kultur außerhalb von Kairo? Diese Tatsache ist wohl ursprünglich auf die Sammelwut von Bernardino Drovetti, des französischen Konsuls in Ägypten, zurückzuführen. 

Seine Sammlung von mehr als 8.000 Stücken wurde 1824 von König Carlo Felice erworben, der damit den Grundstein für die Gründung des Museums legte. Mehr als 30.000 Exponate umfasst das Museum heute, von denen 6.500 ausgestellt sind. Viel zu viele, befinden meine Reisebegleiterin und ich, als wir irgendwann im zweiten Stockwerk ersten Ermüdungserscheinungen und einer gewissen Lethargie anheimfallen. 

Die Ausstellungsstücke sind natürlich wunderbar, es gibt Statuen von Pharaonen und Prinzessinnen, darunter von Rames II. und Prinzessin Resis, es gibt üppig ausgestattete Sarkophage, geheimnisvolle Sphingen und on top eine umfangreiche Papyrussammlung. Selbstverständlich gibt es auch mumifizierte Lebewesen, und jene, die es meiner Freundin am meisten angetan haben, sind die Mumien von Katzen, Hunden, Kälbchen oder auch Vögeln – eine Leidenschaft, die ich zu ihrem großen Bedauern absolut nicht teilen kann.

Ich konzentriere mich lieber auf zeitgenössische und nicht einbalsamierte Tiere und genieße im Anschluss an den Museumsbesuch einen Tonno con crosta di sesamo an wunderbarem Grillgemüse mit einem Schluck vollmundigen und granatroten Barolos. Während der Wein typisch ist für das Piemont, ist es der Tonno natürlich nicht. Da hätte ich mich eher auf ein würziges Vitello tonnato, auf knusprige Grissini oder ein gut belegtes Tramezzino stürzen müssen – dieses mittlerweile weltbekannte Sandwich wurde übrigens der Legende nach im historischen Caffè Mulassano in der Nähe der Piazza Castello kreiert. 

Berühmt ist Turin aber vor allem für seine Schokolade-Kreationen, vor allem für den Gianduiotto. Erfunden wurde die Köstlichkeit eigentlich aus purer Not: Weil man während der Napoleonischen Blockade weniger Kakao geliefert bekam, ersetzte man diesen mit Haselnüssen – und schon war ein neues Konfekt geboren. Klar, dass wir uns einige Schachteln davon mitnehmen müssen, bevor es wieder ins Hotel geht.

 

Prunk und Kunst, traut vereint

Höhepunkt des letzten Tages in Turin sind die Musei Reali, also das Königsschloss samt Gärten und angeschlossener Gemäldesammlung Sabauda. Getrieben von einer Meute amerikanischer Touristen, die uns im Nacken sitzen, hetzen wir durch güldenen Prunk und sind perplex: Die nüchterne Fassade des Palastes lässt nicht im Mindesten erahnen, wieviel überbordender Barock- und Rokoko-Überschwang sich in seinem Inneren befindet und den Glanz widerspiegelt, in dem das Königshaus der Savoyer lebte. Von all dem Gold ist uns schon schwindlig, und meine Reisebegleitung freut sich darüber, in einem Nebenraum auf einige Exemplare moderner Kunst zu stoßen, die – wie sie sagt – ihr Herz nun wieder kurzfristig erheitern nach all der übertriebenen Schwere savoyischer Lebensart. Dieses Mal muss ich ihr recht geben.

Von den ehemaligen Wohnräumen der Könige geht es nahtlos weiter in die Galleria Sabauda, wo sich gar manches an Mittelmäßigem mit wenigem Wunderbarem vereint. Die Bandbreite der Entstehungsjahre der wichtigsten Gemälde der Sammlung, die Carlo Alberto von Savoyen 1832 gegründet hat, reicht vom 13. bis zum 20. Jahrhundert. Nun schon etwas museumsgesättigt und weiterhin verfolgt von den Amerikanern durchreisen wir im Eilschritt Jahrhunderte, als wären es Minuten. 

Dennoch können wir nicht umhin, uns voller Bewunderung vor einer Madonna col Bambino von Beato Angelico, einer Venus von Sandro Botticelli und einem Selbstbildnis von Rembrandt van Rijn sowie etlichen weiteren Kunstwerken länger aufzuhalten. Nachhaltigen Eindruck macht auf uns aber ein unerwarteter Schlenker in die Cappella della Sacra Sindone, in der gerade Priester und Ministranten zur Feier der heiligen Messe einziehen. Die feierliche Orgelmusik und der Gesang der Gläubigen legen eine sehr eigenartige Stimmung über diese Kapelle, in der das angebliche Leichentuch Christi (= Sacra Sindone) aufbewahrt wird. Einen Blick darauf können wir keinen werfen, aber das verdirbt uns nicht den Tag – schließlich ist das Tuch ja nur eines von 40 aus dem Mittelalter überlieferten Grabtüchern Christi und um die Frage seiner Echtheit ist ein eigener Wissenszweig entstanden: die Sindologie. Na, dann hoffen wir mal, dass nie eine eindeutige Antwort gefunden wird, ansonsten erübrigt sich auch dieser Wissenszweig und die 1936 eigens dafür gegründete Vereinigung Centro Internazionale della Sindonologia müsste sich auflösen…

Auf dem Weg Richtung Bahnhof versuchen wir noch, ein brauchbares Foto von der Mole Antonelliana zu knipsen, dem Wahrzeichen der Stadt, das 1863 als Synagoge begonnen wurde und dann von der jüdischen Gemeinde an die Stadt verkauft werden musste, weil ihr das Geld ausgegangen war. Heute beherbergt der Turm das Museo Nazionale del Cinema und einen gläsernen Aufzug, der zu einer Panoramaplattform führt. Mangels Reservierung für ein Ticket müssen wir es beim Zugangsversuch belassen. 

Egal, die Zeit ist ohnehin etwas knapp, denn bald geht unser Zug. Da setzen wir uns lieber noch in eines der netten Cafès in der Via Lagrange und nehmen noch one for the road. Dabei lassen wir im Schnelllauf das Abenteuer Turin vor unserem geistigen Auge vorüberziehen, das nun beendet ist. Also ich für meinen Teil komme sicher zurück – aber lieber, wenn es wärmer ist und ich keine Stufetta und keinen Regenschirm mehr brauche!

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Bettina Maria König

Bettina König wuchs als Tochter eines tüchtigen Apothekers im sehr fernen Außerfern auf, wo es ihr aber bald zu kalt und provinziell wurde. Sie flüchtete nach Innsbruck und mutierte via Studium zum Dr. phil., um postwendend in die Riege der „Tirol Werber“ aufgenommen zu werden. Als das Bedürfnis nach Wärme noch größer wurde, nahm sie eine Stelle als Presseverantwortliche in Bozen an – nicht ahnend, dass es dort mit der Provinzialität noch schlimmer bestellt ist als im heimatlichen Reutte. Dem Berufsbild des professionellen Schreiberlings treu bleibend, durchlief sie in Südtirol mehrere Positionen und war zwischendurch auch freiberuflich als PR-Fachkraft, Journalistin und Texterin tätig. Das Bedürfnis nach kreativem Schreiben befriedigte sie unter anderem durch die Herausgabe eines Kinderbuchs („Die Euro-Detektive“) für eine Südtiroler Bank. Derzeit zeichnet sie für die Unternehmens-Pressearbeit von IDM Südtirol verantwortlich, hat die kreative Schreiblust aber immer noch nicht gebändigt. Zwei erwachsene Kinder.

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