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1 Einleitung

Internationale Beziehungen waren lange vor ihrer Institutionalisierung als separates Forschungsfeld Gegenstand des Marxismus.Footnote 1 Die Integration marxistischer Ansätze in den westlichen Kanon der Wissenschaft der Internationalen Beziehungen (IB) erfolgte hingegen verspätet, bleibt unvollständig und problematisch – und steht symptomatisch für den politischen Einfluss der das 20. Jahrhundert prägenden Blockkonfrontation auf die Sozialwissenschaften. Während der Zwischenkriegszeit und dem „ersten Kalten Krieg“ blieb marxistisches Denken in den primär im anglo-amerikanischen Raum institutionalisierten IB eine Randerscheinung. In der Bundesrepublik blieb eine spezifisch marxistisch verstandene Theorietradition der IB, mit wenigen wichtigen und nach wie vor sehr lesenswerten Ausnahmen, die für den Begriff der IB als ‚historisch-politökonomische Sozialwissenschaft‘ plädierten (Krippendorff 1985; Albrecht 1998), relativ marginal, und definierte sich primär als Friedenswissenschaft (Krippendorff 1968; Senghaas 1974) oder Internationale Politische Ökonomie (Altvater 1969; Altvater und Mahnkopf 2007).Footnote 2 Ihre internationale Renaissance als signifikante Tradition vollzog sich unter den Bedingungen des Endes des „langen Booms“, der unbestrittenen US-Hegemonie und intensivierten Nord-Süd Konflikten seit den 1970er-Jahren. Auftrieb erfuhren IB Theorien marxistischer Provenienz in den 1980er-Jahren im Rahmen der post-positivistischen und kritischen Wende innerhalb der Disziplin. Heute, nach dem Aufbrechen intellektueller Tabus, auferlegt durch bipolare Geopolitik und Parteidoktrinen, stellen marxistische IB-Ansätze eine dynamische Teildisziplin dar, in der einige der prägnantesten Herausforderungen etablierter IB Theorien und der Sozialwissenschaften formuliert werden. Vielfach bewegen sie sich als makro-soziologische Großtheorien auf einem ähnlichen Abstraktionsniveau wie ihre makro-politischen Pendants im anglo-amerikanischen mainstream – (Neo-)Realismus und (Neo-)Liberalismus. Allerdings besteht ihre gemeinsame differentia specifica in der Ablehnung transhistorischer Begrifflichkeiten, der Anthropologisierung und Biologisierung zwischenstaatlicher Beziehungen, und der aprioristischen Thesen der Autonomie von Staat und des Politischen, sowie des Primats rationalen sicherheitspolitisch-strategischen Handelns. Diese Axiomata bleiben nach wie vor dem klassischen Realismus als einem Kompendium universaler Maximen von Realpolitik und dem Neo-Realismus als einer strukturalistischen Theorie rationalen Handelns von Staaten im Kontext anarchischer geopolitischer Systeme zu eigen. Gemein ist den diversen Marxismen minimal die Historisierung und Sozialisierung von Weltordnungen und internationalen Beziehungen – und damit ihre Rekonzeptionalisierung als sozio-historische Konstruktionen und Praxen politischer Herrschaft. Dem entspricht die Absage an das traditionelle Selbstverständniss der IB als eigenständiger Teildisziplin im Spektrum der Sozialwissenschaften, für die ein eigener Theorieapparat für einen separaten, rein politischen, Forschungsgegenstand beansprucht wird.

2 Internationale Beziehungen bei Marx und Engels

Die Renaissance des Marxismus tritt sowohl in Gestalt einer Kritik des traditionellen Selbstverständnisses der IB als auch einer Problematisierung der Thematik internationaler Beziehungen im klassischen Marxismus auf – ein Umstand, der auf die grundlegenden Prämissen seiner Begründer zurückverweist. Denn Karl Marx und Friedrich Engels haben die Frage der raumzeitlich differenzierten und inter-territorialen Dimension sozialer Prozesse im geschichtlichen Verlauf nicht systematisch thematisiert, geschweige denn erfolgreich gelöst – ein fundamentales Defizit, das sich durch ihre Konzeptionen von Weltgeschichte und Kapitalismustheorie zieht (Berki 1971; Soell 1972; Kandal 1989; Halliday 1994; Harvey 2001; Anderson 2010; Teschke 2011a, 2020). Der theoriesystematische Grund liegt in Marx’ und Engels’ geschichtstheoretischer Erkenntnisprämisse, den vertikalen gesellschaftlichen Primärkonflikt zwischen Klassen innerhalb politischer Gemeinschaften, der periodisch auf Krisen, Bürgerkriege und Revolutionen zuläuft, als zentrales Agens der historischen Gesamtdynamik zu bestimmen. Dieser gesellschaftsinterne Antagonismus wird nicht hinreichend mit den horizontalen Konflikten zwischen Gemeinschaften verbunden. Zwischenstaatliche Kriege und Kooperationsformen, Aussenpolitik und internationale Diplomatie, die weder in toto von sozialen Widersprüchen abgeleitet noch unmittelbar als Sekundärkonflikte oder Epiphänomene verstanden werden können, führen ein theoretisches Schattendasein.

Zum einen unterstellt das in Marx’ und Engels’ Frühwerk entwickelte (orthodoxe) geschichtstheoretische Modell einer historischen Sequenz von Produktionsweisen prinzipiell ein „nationales“ Verlaufsmuster von Gesellschaftsformationen, in denen singuläre politische Gemeinschaften als Analyseeinheiten unter Absehung ihrer geopolitischen Umwelt fungieren – ein Modell, das sich auf alle Gesellschaftsformationen anwenden ließe. Diese Position führt direkt in die Aporien der historischen Komparatistik, die per definitionem Krieg und internationalen Beziehungen keinen systematischen Platz in der Beantwortung der Frage nach den Ursachen und Folgen zwischenstaatlicher Konkurrenz und Kooperationsformen für die raum-zeitliche Variabilität von regionalen Verlaufsformen (und vice versa) einräumt. Zum anderen steht diesem Stufenmodell die Vorstellung einer sich zum Weltmarkt ausdehnenden bürgerlichen Gesellschaft mit universalen Dimensionen gegenüber. Dieses Dilemma – methodologischer Nationalismus versus totaliter aufgespreitzter Universalismus – ergibt einen Theorietypus, der in der Essenz einen „ortlosen“ Idealtyp von sukzessiven, notwendigen, irreversiblen und aufsteigenden Produktionsweisen als periodisierendes Geschichtsmodell vorschlägt, dessen Abstraktionen (Urgemeinschaft, Sklavengesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus, Kommunismus) sich selbst raum-zeitlich unterschiedlich manifestierten, andererseits aber trotz ihrer geografischen und temporären Spezifika in ein supra-historisches Schema gepresst werden, das Zeit gegenüber Raum privilegiert.

In den Frühschriften des Vormärzes war das Verständnis internationaler Beziehungen und der Rolle des Krieges daher noch stark von einem liberalen Freihandelskosmopolitismus mit dezidiert transnationalem Ausdruck geprägt (Marx und Engels 1959, 1962, S. 13–61). Ausgehend von einer spontanen globalen Arbeitsteilung, die die regional ungleiche Entwicklung der Produktivkräfte reflektiere, avancieren die Kategorien des „Weltverkehrs“ und des „Weltmarktes“ zu einem Megasubjekt der modernen Geschichte.

„Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet […]. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander […]. Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt“ […]. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen […]. „Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde“ (Marx und Engels 1959, S. 466).

Diese primär handelskapitalistisch konzipierte Perfektionierung des Weltmarktes, dem ein zwischen Produktionsverhältnissen und Freihandel schwankender Kapitalismusbegriff zugrunde liegt, subsumiert und homogenisiert sukzessiv soziopolitische und staatlich verfasste Differenzen. Perspektivisch läuft dieser Prozess auf eine in fine welthistorische Konvergenz, das heißt auf die Konstituierung einer transnationalen bürgerlichen Gesellschaft im Weltmaßstab hinaus: die kapitalistische Weltgesellschaft. Revolutionstheoretisch schließen Marx und Engels, dass die weltmarktvermittelte geografische Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise kapitalistische Klassenverhältnisse erst global konstituiere, dann intensiviere und polarisiere und schließlich ein Weltproletariat – „die Arbeiter haben kein Vaterland“ (Marx und Engels 1959, S. 479) – als erste universale Klasse schaffe. Diese sei das kollektive Subjekt, das in einer synchronisierten Weltrevolution den Kommunismus „auf einmal und gleichzeitig“ (Marx und Engels 1962, S. 35) ermögliche. Geschichte, bis dato ein Überbegriff für national unvermittelte Partikulargeschichten, löse sich in universale Weltgeschichte auf.

Diese frühe geschichtstheoretische Perspektive verweist auf eine Reihe unreflektierter Probleme. So unterstellen Marx und Engels einen in der Tendenz verdinglichten transnationalen Automatismus in der Transformation vorkapitalistischer Klassenverhältnisse und politischer Gemeinschaften, der die nationalstaatliche Vermittlung dieses Prozesses in politischer und geopolitischer Form unterschlägt. Die in den Weltmarkt integrierten Länder werden – rein logisch-deduktiv – als passive Empfänger transnationaler Imperative konzipiert und so ex hypothesis weltmarktförmig kompatibilisiert. Weder Geopolitik (Souveränität, Außenpolitik, Krieg, Diplomatie, Handelspolitik, Währungspolitik, etc.) noch innenpolitischer Widerstand (Unabhängigkeit, Klassenkampf) werden handlungstheoretisch als relevante geschichtsmächtige Vermittlungsinstanzen problematisiert. Diese Defizite offenbaren das Fehlen einer nicht struktur-funktionalistischen Staatstheorie und a fortiori einer Theorie der Staatenwelt und des Krieges. In der direkten und unvermittelten Extrapolation von der nationalen zur universalen Analyseeinheit wird das Inter-nationale, welches das Nationale nach wie vor encadriert und das Universale nach wie vor fragmentiert und konterkariert, passiv und stumm. Die dieser Interpretation zugrunde liegende Prämisse lautet „gleichzeitige Entwicklung im Weltmaßstab“ (Soell 1972, S. 112). Die temporale Dimension der Gleichzeitigkeit wie die räumliche der Unmittelbarkeit verweisen auf die Vorstellung eines uniformen, weil entpolitisierten und de-geopolitisierten, Weltmarktes als intern undifferenzierte Totalität.Footnote 3 Die politische ‚Form‘ dieses Weltmarktes ist aber weder ein Weltstaat noch ein System formal souveräner Staaten mit – trotz aller Wendungen zum diskriminierenden Kriegsbegriff im Völkerrecht – exklusiven territorialen Hoheitsrechten. Vielmehr bedarf es einer historisierenden Betrachtung, die die jeweilige Historizität kapitalistischer Weltordnungen als variable Territorialisierungsstrategien rekonstruiert.

Die ersten geschichtstheoretischen Entwürfe im Völkerfrühling des Vormärzes wichen im Umfeld der gescheiterten 1848er Revolution und besonders des Krimkrieges (1853–1856) konkreteren tagespolitischen Fragen in der Bewertung internationaler Politik für das revolutionsstrategische Kalkül in Deutschland und Europa. „Wir hatten diesen Punkt [die auswärtige Politik] zu sehr vernachlässigt“ (Marx 1963, S. 306). Marx und Engels erwarteten im Vormärz die Positionierung eines bürgerlich-revolutionären, demokratischen und vereinigten Deutschlands gegen spätabsolutistische Staaten (Dänemark, Österreich und Russland) – und damit nicht nur das Ende der „Heiligen Allianz“ und eine Verschiebung des europäischen Machtgleichgewichts zu Gunsten der progressiven Westmächte (Großbritannien, Frankreich, Deutschland), sondern auch eine Teilung Europas in ein revolutionäres und ein konterrevolutionäres Lager. Die Idee der Internationalisierung innenpolitischer Revolutionen durch zwischenstaatliche Kriege verkehrt sich allerdings im Laufe der gescheiterten Revolution von 1848 in ihr Gegenteil. Die Formel „Revolution plus Krieg gleich universaler Fortschritt“ wird nun als „Krieg plus Revolution gleich innenpolitischer Fortschritt“ umdefiniert. Der welthistorische Marsch zum Kommunismus leitet sich nun aus den durch militärische Niederlagen verursachten Legitimationskrisen in Staaten des ancien régime ab, die revolutionäre Umwälzungen oder den Import neuer Gesellschaftsformen von außen nach sich ziehen.

Aber selbst diese realpolitisch bedingte Nachbesserung reichte nicht hin, um die Komplexität der diplomatischen Krisen und Kriege in der nach-revolutionären Phase theoretisch zu kontrollieren. Dies ist exemplarisch am komplizierten Problem der orientalischen Frage im Zuge des Krimkrieges zu sehen, welche Marx und Engels – nach eigenem theoretischen Selbstverständnis – nicht zufriedenstellend lösen konnten. So ließ sich beispielsweise aus der „objektiven“ Interessenlage der britischen Bourgeoisie nicht unmittelbar eine bestimmte britische Außenpolitik ableiten. Geopolitisch-strategische Sicherheitsinteressen (auch wenn diese selbst als wirtschaftliche zu decodieren wären) und geoökonomisches Kalkül – offene Seewege – blieben eng verknüpft und ließen sich nicht auf objektive innenpolitischen Klassenlagen reduzieren oder umstandslos als reaktionär oder revolutionär klassifizieren: „Daß übrigens in auswärtiger Politik mit solchen Phrasen wie ‚reaktionär‘ und ‚revolutionär‘ nichts gedient ist, versteht sich von selbst“ (Marx 1960, S. 547).

Und noch eine weitere Komplikation stellte sich ein. Im Gegensatz zu der vormärzlichen zuversichtlichen Annahme der Bildung einer internationalen Arbeiterklasse, die selbst bisweilen als „sechste europäische Großmacht“ (Engels 1960, S. 8) verstanden wurde, bahnte sich nun die Möglichkeit der Renationalisierung verschiedener Arbeiterbewegungen an. Der Begriff des Sozialimperialismus suchte das Phänomen der Entschärfung innenpolitischer Konflikte durch eine chauvinistisch-aggressive Außenpolitik zum Zweck der Spaltung der Solidarität der europäischen Arbeiterklassen und ihrer Ersetzung durch nationale Loyalität im Kriegsfall zu fassen. Der Sozialimperialismus fand sein außenpolitisches Korrelat in den 1870er-Jahren in der Ideologie des geopolitischen Sozialdarwinismus, der internationale Politik, besonders im Kontext der Kolonialfrage und des „neuen Imperialismus“, als machtpolitisch reduzierten survival of the fittest im Kampf um Lebensraum biologisierte.Footnote 4 Auch diesen Auseinandersetzungen lag das Grundproblem der asymmetrischen Entwicklung der gesellschaftlichen Struktur des national je spezifischen industriellen Proletariats und seiner parteipolitischen Organisationsformen und Programmatik zugrunde, die sich als pan-europäisch schwer synchronisierbar und koordinierbar erwiesen.

Im Laufe der 1850er- und 1860er-Jahre wich Marx’ und Engels’ durch wenig realhistorische Analyse getrübte Annahme der gleichzeitigen Entwicklung im Weltmaßstab der Erkenntnis der „Ungleichzeitigkeit der weltweiten Entwicklung“ (Soell 1972, S. 127). Doch folgte trotz des empirischen Befundes multilinearer Entwicklungswege – erweitert um den begrifflichen Übergang von der räumlichen Unmittelbarkeit zur zwischenräumlichen Vermittlung – keine Fundamentalrevision der unilinearen Geschichtstheorie als einer Stufenfolge von Produktionsweisen. Die wachsende Einsicht in die länderspezifischen Lösungen gesellschaftlicher und geopolitischer Konflikte, die ihr Entwicklungstempo sowohl verzögern als auch beschleunigen konnten, und auch die Einsicht in das Phänomen der Gewalt und des Krieges als integralem Bestandteil eines expandierenden kapitalistischen Weltmarktes (Indien, China, Amerika, Osmanisches Reich) generierte nur eine Reihe von taktischen Kehren, die Marx und Engels nicht ex post in eine kohärente Geschichtskonzeption reintegrieren konnten, welche das Verhältnis zwischen Weltmarktbildung, Geopolitik und Revolution bestimmt hätte.

Aber hier enden die Probleme noch nicht. Denn die Akzeptanz von Ungleichzeitigkeit (und internationaler Vermittlung) beruht auf einer nicht hinterfragten Gegebenheit: der Existenz eines antezedenten Staatensystems, das allen theoretischen Mühen vorauslag und doch die Voraussetzung für plurale und regional differenzierte Entwicklungsbahnen bildet – also die Voraussetzung für raumzeitliche Ungleichheit. Aber da die territoriale Fragmentierung des historischen Gesamtprozesses nur in seinen Ergebnissen begriffen wurde – Unterschiede zwischen separat existierenden Einheiten – kann die Analysekategorie der Ungleichheit weder eine Erklärung des inter-staatlichen Pluriversums noch eine Begründung zwischenstaatlicher geopolitischer Dynamiken liefern. An einer Stelle im Frühwerk heißt es dazu:

„Die bürgerliche Gesellschaft umfaßt den gesamten materiellen Verkehr der Individuen innerhalb einer bestimmten Entwicklungsstufe der Produktivkräfte. Sie umfaßt das gesamte kommerzielle und industrielle Leben einer Stufe und geht insoweit über den Staat und die Nation hinaus, obwohl sie andrerseits wieder nach Außen hin als Nationalität sich geltend machen, nach Innen als Staat sich gliedern muß“ (Marx und Engels 1962, S. 36).

Diese These wirft allerdings die Frage nach der theoretischen Notwendigkeit multipler Territorialisierungen politischer Macht in einer sich universalisierenden bürgerlichen Gesellschaft auf. Sie kann weder aus dem Begriff der bürgerlichen Gesellschaft noch aus der Kapitalrelation abgeleitet werden. Warum also konstituiert sich Kapitalismus innerhalb eines politisch verfassten Systems von Staaten? Wie kann das Staatenpluriversum selbst mit marxistischen Kategorien erklärt werden? Warum totalisieren sich Weltmarkt und Weltstaat nicht als kongruente Seiten ein und derselben Bewegung? Und welche begrifflichen Innovationen sind notwendig, um die sich wandelnden Vermittlungen zwischen gesellschaftlichen Beziehungen und territorialen Ordnungen im Allgemeinen sowie dem kapitalistischen Weltmarkt und seiner internationalen Ordnungen im Besonderen zu verstehen? Denn nicht der Kapitalismus oder eine transnational expandierende bürgerliche Gesellschaft schufen das Staatensystem, auch gibt es keine direkte kausale Linie vom Weltmarkt zum Weltstaat. Vielmehr entstand die kapitalistische Produktionsweise endogen zuerst in England (Brenner 1985; Dimmock 2014) innerhalb eines durch den Absolutismus und andere nicht-kapitalistische politische Gemeinschaften präkonfigurierten Staatenpluriversums, das der Kapitalismus à la longue zwar durchdringt und transformiert, ohne es bis dato – trotz aller Wandlungen kapitalistischer De- und Reterritorialisierungsstrategien – transzendiert oder aufgehoben zu haben (Teschke 2005, 2007; Lacher 2002; Teschke und Lacher 2007).

Schenkten Marx und Engels diesem „geopolitischen Defizit“ in ihren journalistischen und historischen Arbeiten zwischenzeitliche Aufmerksamkeit, so kommt seine volle Bedeutung in den theoretischen Arbeiten von Marx zum Tragen: den drei Bänden des Kapital. Das zentrale Forschungsobjekt ist hier, abstrakt, „das Kapital“ – „die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem ideellen Durchschnitt“ (Marx 1986, S. 839) – das sich durch seine inneren Widersprüche entfaltet. In seiner dialektischen Selbstbewegung relegiert es Geschichte und menschliche Praxis auf Nebenschauplätze und macht sie zu Anhängseln einer „Kapitallogik“. Obwohl das Kapital mit illustrativen Referenzen zum viktorianischen England geschmückt ist, bewegt sich die Argumentation im Wesentlichen in einem politischen und geopolitischen Vakuum – jenseits von Geschichte. Der Arbeitsplan in der Einleitung von 1857 hatte noch eine Theorie des Staates und der internationalen Beziehungen vorgesehen; letztlich blieben diese Pläne jedoch unausgeführt. Warum sich politische Macht territorial in Form eines aus multiplen souveränen Staaten bestehenden Weltsystems konstituiert, und wie die Dynamiken zwischen diesen Ländern sich zur nationalen und transnationalen Reproduktion des Kapitalismus verhalten, ist nicht als Forschungsdesiderat formuliert.

Marx’ und Engels’ Erkenntnisinteresse an internationalen Beziehungen blieb primär an den Folgen der Veränderungen internationaler Politik für die Rekalibrierung sozialistischer Strategie orientiert und deshalb begrenzt auf letztendlich situative Einsichten. Die Ausarbeitung einer systematischen Deckung dieser Phänomene durch eine reformulierte Geschichtstheorie wurde so unmöglich. Anstatt das Schema der Stufenfolge von Produktionsweisen oder das der Selbst-Universalisierung des Kapitalismus zu revidieren, um das Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Geschichte produktiv zu gestalten, haben Marx und Engels den Umfang der Problematik eher indiziert, als sie theoretisch kontrolliert aufzulösen. Die Reduktion von Geschichte auf unilineare Teleologie führt zu der Rekonstruktion eines Begriffes von Krieg und internationalen Beziehungen bei Marx und Engels, der sich ihrer verstreuten und primär publizistisch-journalistischen Schriften bedienen muss, um beide nicht nur in die historisch-materialistische Geschichtstheorie zu reintegrieren, sondern diese selbst um eine internationale und bellizistische Dimension zu erweitern und neu zu definieren. Dieses Forschungsdesiderat stellt allerdings eine Leistung dar, die weit über Marx und Engels hinausweist. Vorausgesetzt wird ein Paradigmenwechsel im marxistischen Selbstverständnis von Teleologie, Unilinearität/Universalität und Strukturdeterminismen zu einer radikal historisierenden und praxis-orientierten Sozialwissenschaft.

3 Klassische Imperialismustheorien

Die klassischen marxistischen Imperialismustheorien stellen einen systematischeren Versuch dar, die sich wandelnden geopolitischen Dynamiken, Krisen und den Zusammenbruch der Weltordnung der belle époque in einer Theorie der Transformation des Kapitalismus selbst zu verankern. Die zweite Generation von Marxisten (Hilferding 1910; Bucharin 1969; Lenin 1960) verortete den „neuen Imperialismus“, den „Wettlauf um Afrika“, das Wettrüsten und den Ausbruch des Ersten Weltkrieges – unter verschiedenen Akzentsetzungen – im Übergang von der Periode der freien Konkurrenz zu der des Monopolkapitalismus (anders bei Luxemburg 1975), die mit der Weltwirtschaftskrise von 1873–1898 begann. Sowohl die Konzentration des Kapitals, als auch dessen wachsende Abhängigkeit vom Staat wurden ursächlich in der Tendenz zu Überakkumulation und Überproduktion (bzw. Unterkonsumtion) verortet, die wiederum aus den allgemeinen, langfristigen Entwicklungen des Kapitalismus abgeleitet wurde, insbesondere im Zeitalter des Industriekapitalismus. Die Weltwirtschaftskrise war Ausdruck der reduzierten Verwertungschancen des Kapitals. Sozialistische Strategie und Taktik wurden entsprechend geändert und der neuen weltgeschichtlichen Lage angepasst (Mommsen 1977; Brewer 1990; Chilcote 2000; Kiely 2010).

Nach Lenin hatte diese Monopolisierungstendenz, die Marx im Begriff der zunehmenden Zentralisierung und Konzentration des Kapitals erfasst hatte, um die Jahrhundertwende eine Entwicklungsstufe erreicht, die das Wirtschaftsleben in zentralen Sektoren (Schwer- und Montanindustrie) der westlichen Industriestaaten monopolistisch gestaltete. Marktbeherrschende Kartelle, Syndikate und trusts führten durch die Fusion von Industriekapital und Bankkapital zu der Entstehung des „Finanzkapitals“ und einer „Finanzoligarchie“ (Personalunion zwischen Großbanken und Großindustrie). Gleichzeitig bedingte der Kapitalüberschuss in den fortgeschrittenen Ländern die Ablösung des bisher vorherrschenden Warenexports durch den Kapitalexport in Form von Investitionsgütern, verursacht durch höhere Profitmargen und bessere Akkumulationschancen (im Vergleich zu „überreifen“ Binnenmärkten) in rückständigen Ländern. Auf internationaler Ebene erforderte die Erschließung neuer Märkte, Kapitalexport und die Suche nach Rohstoffen die Annexion und politisch-militärische Kontrolle von Kolonien. Nationale Industriemonopole erweiterten sich zu internationalen Kapitalistenverbänden (weltweite Kartelle), die untereinander Absatzgebiete, Rohstoffquellen und Investitionsmöglichkeiten territorial aufteilten („Übermonopole“). Dieser Wirtschaftskolonialismus zog den politischen Schutz von Monopolstellungen nach sich und führte zum Verlust der politischen Unabhängigkeit überseeischer Gebiete durch formale Annexionen. Gleichzeitig bediente eine neo-merkantilistische Außenhandels- und Schutzzollpolitik die Interessen der jeweils nationalen, aber weltweit agierenden Kartelle, so dass freier zwischen-imperialer Handel gedrosselt und Preisbildung sich „artifiziell“ außerhalb der konkurrierenden Logik einer Weltpreisbildung vollzog. Protektionismus führte zu einer Regionalisierung des Weltmarktes. Mit dem Abschluss der bis dato nach außen relativ friedlichen Aufteilung der Kolonien in der Vorkriegsepoche radikalisierte sich imperiale Politik zu nun auch politisch-militärisch geführten Konflikten zwischen rivalisierenden Mächten um die Umverteilung und Neuaufteilung der Kontinente in einer als Nullsummenspiel verstandenen weltweiten Konflagration zwischen Staatenverbänden, die im Weltkrieg münden. Die direkte Intervention des Staates unter der nationalen Hegemonie des Finanzkapitals im Monopolstadium des Kapitalismus bedingte die Transformation privatwirtschaftlicher Konkurrenz zwischen Firmen in machtpolitische Konkurrenz zwischen Staaten, die im Begriff der inter-imperialen Rivalität ihren Ausdruck fand.

Diese Argumentation modifizierte die marxistische Revolutions- und Geschichtstheorie. Imperialistische „Extraprofite“ ermöglichten nach Lenin die „Bestechung“ eines Teils des Proletariats („Arbeiteraristokratie“) in den imperialistischen Kernstaaten, der sich durch erhöhte Löhne und wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen von der revolutionären Arbeiterbewegung abgespalten, den Internationalismus verraten und sich dem Revisionismus und Reformismus der „Sozialimperialisten“ angeschlossen habe. Gleichzeitig entstünden in den kolonialen und halb-kolonialen (Südamerika) Gebieten antiimperiale nationale Befreiungsbewegungen, die zum natürlichen Bündnispartner der europäischen Arbeiterbewegung würden. Zudem eröffne der eskalierende strategische Konflikt zwischen den imperialen Mächten die Möglichkeit, die „Kette“ des kapitalistischen Weltsystems an ihrer schwächsten Stelle „reißen“ zu lassen, weshalb die Erwartung einer proletarischen Revolution in den avanciertesten Staaten des Kapitalismus eine geografische Dislozierung zu Gunsten Russlands erfuhr. Mit dem Reißen der Kette in der Semiperipherie und der weltkriegsbedingten Verelendung und Radikalisierung der Arbeiter in den kapitalistischen Zentren ergebe sich, verstärkt durch außereuropäische antiimperialistische Befreiungsbewegungen, ein in allen Staaten parallel geführter Bürgerkrieg, der den Weltkrieg mit einer Weltrevolution beenden würde. Durch diese Reartikulierung der ursprünglichen Marx-Engels-Position des Manifestes wurde die These des transnationalen Charakters des Kapitalismus renationalisiert, die Relation zwischen Weltmarkt und zwischenstaatlichen Konflikten rekonzipiert, die relative Impotenz der Arbeiterbewegung in den westlichen Industriestaaten erklärt und die sozialistische Revolution in Russland wie die Erwartung der Internationalisierung dieser Partikularrevolution zur Weltrevolution theoretisch gerechtfertigt.

Jede Kritik der Lenin-These muss sich ihrer spezifischen Entstehungsgeschichte bewusst sein, zumal mit Rücksicht auf Lenins antizipierende Selbstzensur („die verfluchte äsopische Sprache“) (Lenin 1960, S. 191). Dennoch ergeben sich eine Reihe von theoretischen und empirischen Schwierigkeiten, die die Imperialismusthese, besonders im Licht der heutigen empirischen Materiallage, mehr als nur in Frage stellen (Bairoch 1995). So ist der Begriff Monopolkapitalismus zu schematisch und undifferenziert, um als zentrale Erklärungskategorie zu fungieren. Nur wenige preisbestimmende und marktverzerrende Industriemonopole existierten, Kartelle bestanden aus relativ losen Abmachungen zwischen Firmen, die regelmäßig unterwandert wurden. Die Analyse des Finanzkapitals beruhte primär auf dem Beispiel der deutschen und österreichischen Bankensektoren, die im Kontrast zu der fragmentierteren und wettbewerbsorientierteren Hochfinanz Englands und Frankreichs stand. Kapitalexporte in die Kolonien, obwohl vor dem Ersten Weltkrieg stark ansteigend, waren bedeutend niedriger als Kapitalexporte zwischen den imperialen Mächten. Inter-imperiale Handelsvolumina waren weitaus größer als Handelsströme zwischen den Kolonien und Europa. Koloniale Kapitalexporte waren in absoluten Zahlen niedrig relativ zu nationalen Investitionsvolumina. Profitraten von Kapitalexporten in den Kolonien waren nicht größer als die von Binneninvestitionen, unterlagen aber größeren Risiken. Zudem wurde der Kapitalüberschuss (und damit implizit der Rekurs auf die Unterkonsumtionstheorie) als explanans angeführt, gleichzeitig aber die Möglichkeit des Sozialimperialismus durch nationalstaatliche Umverteilungsmaßnahmen und höhere Löhne zugestanden. Tatsächlich stiegen letztgenannte im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts in den westlichen Industriestaaten. „Alle Fakten sprechen dafür, dass die Langzeiteffekte der Imperien auf die Entwicklung der imperialistischen Zentren gering war“ (Brewer 2000, S. 83; Kiely 2010).

Obwohl aggregierte Zahlen nicht unbedingt dahingehend interpretiert werden können, dass eine ökonomische Erklärung per se unzureichend für das Imperialismusphänomen ist, da Profiterwartungen durchaus als Anfangsmotiv für imperialistische Expansion fungiert haben könnten (auch wenn das die Frage nach der Dauer des Imperialismus aufwirft), so kann eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung kaum der Komplexität des Problems gerecht werden. Wirtschaftliche Interessengruppen können durchaus privilegierten Zugang zu Staat und Politik gewonnen haben, um Gewinne zu privatisieren und Kosten in Form beträchtlicher öffentlicher Ausgaben für die militärisch-politische Behauptung sowie infrastrukturelle Erschließung von Imperien zu sozialisieren. Dennoch bleibt der historisch-empirische Nachweis der in der Tiefenstruktur des Monopolkapitalismus angelegten Erklärungskraft für imperialistische Kriege bei Lenin fragwürdig.

Aber auch theorieimmanent ergeben sich Inkonsistenzen. Die Reichweite der klassischen Imperialismustheorien ist auf eine spezifische Periode beschränkt (ca. 1873–1917). Es wäre verfehlt aus ihnen eine Theorie der kapitalistischen internationalen Beziehungen zu entwickeln. Der Versuch, ein spezifisches Phänomen – mit bedeutenden Unterschieden in einzelnen kapitalistischen Staaten in ihren jeweiligen Beziehungen zu ihren Kolonien, in den kolonialen Entwicklungstempi, und in inter-imperialen Beziehungen – als ein notwendiges Nebenprodukt der Dynamik einer bestimmten Phase des Kapitalismus zu bestimmen, objektiviert Aufstieg, Verlauf und Niedergang des Imperialismus als historische Erscheinung. So verfolgt Lenin eine in der Tendenz strukturalistische, ökonomistische und deterministische Erklärungsstrategie. Der Titel Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (und damit auch als letztes Stadium) verdinglicht diese Phase als notwendige Stufe innerhalb der weiterhin unilinear angelegten Stadiengeschichte des Kapitalismus, anstatt ihn als ein spezifisches (und reversibles) Resultat bestimmter gesellschaftlicher und politischer Konflikte zwischen national unterschiedlich entwickelten Gesellschaften in einem offenen Geschichtsprozess zu verstehen.

Karl Kautsky (1914, S. 921) erhob einen ähnlichen Einwand, indem er argumentierte, dass „der Imperialismus […] nur eines unter verschiedenen Mitteln darstellt, die Ausdehnung des Kapitalismus zu fördern“. Sein Begriff des „Ultra-Imperialismus“ skizzierte die Möglichkeit einer internationalen Kooperation von nationalen Kapitalistengruppen – eine „Heilige Allianz der Imperialisten“ –, die sich nicht auf eine ökonomisch notwendige Logik des Monopolkapitalismus reduzierte, sondern die variable Klassen(geo-)politik von Kapitalinteressen betonte. In dieser Hinsicht erschien die Rolle des Staates bei Lenin innen- wie außenpolitisch reduktionistisch und instrumentell. Diplomatie, internationale Bündnisse, und geopolitische Krisen wurden einseitig von monopolkapitalistischen Verwertungsimperativen abgeleitet, ohne bewusst formulierte Klasseninteressen selbst in ein dialektisches Verhältnis zu staatlicher und multilateraler Politik zu setzen, wie es zum Beispiel eine Analyse des Berliner Kongresses von 1878, der Berliner Kongokonferenz von 1885 oder der „Juli-Krise“ von 1914 verlangt hätte. Warum fiel die vorkriegliche Allianzenbildung – hier Entente, da Mittelmaechte – so aus, wie sie ausfiel? Haette internationale Diplomatie waehrend der „Juli-Krise“ nicht doch den Krieg vermeiden koennen? Was war das strategisch-geopolitische Kalkuel der fuehrenden Staaten? Die Objektivierungs- und Verallgemeinerungstendenz resultiert schließlich in der Extrapolation einer systemischen Logik des Imperialismus, welche die national differenzierte Dimension von Politik und interaktive Dimension von Geopolitik vernachlässigt. Zudem werden die gesellschaftlichen Kräfte innerhalb der annektierten Regionen nicht in ihrer konstitutiven Rolle für die differenten geopolitischen Resultate analysiert, sondern eurozentrisch als passive Rezipienten porträtiert (Gallagher und Robinson 1953). Dieser entsubjektivierte Strukturfunktionalismus deutet auf das Fehlen einer Handlungstheorie bei Lenin hin.

Marx’ unmittelbarer Übergang vom „Nationalen“ zum „Globalen“ in Form des Weltmarktes – das „Inter-Nationale“ ausblendend – wird in den klassischen Imperialismustheorien nicht wiederholt. Jedoch führt die Reduktion multipler nationaler Entwicklungen auf eine systemische Logik zur Verdinglichung des „Inter-Imperialen“, die restriktiv als Sphäre von strategischer Rivalität gefasst wird. Hinter diesem Fehler, die variable und interaktive Dimension der Politik und Geopolitik (anstelle einer Logik) des „Inter-Imperialen“ offenzulegen, liegt das Fehlen einer Erklärung der Vorbedingungen für imperiale Konflikte: das inter-nationale Staatensystem. Die klassischen Imperialismustheorien akzeptieren den Nationalstaat als gesellschaftliches Verhältnis in pluraler Manifestation – das Staatensystem – schlicht als gegeben und sind daher nicht in der Lage, den Umstand, dass Nationalstaaten „relevante Einheiten“ (Brewer 1990, S. 123) der Weltwirtschaft waren, als Problem zu erfassen, geschweige denn zu theorisieren.

4 Weltsystemtheorie

Die intellektuelle Hegemonie realistischer IB Theorien anglo-amerikanischer Provenienz wurde von marxistischer Seite zuerst in den 70er-Jahren von der Weltsystemtheorie, am prominentesten vertreten von Immanuel Wallerstein, angefochten. Sie stützt sich auf die klassischen marxistischen Imperialismustheorien, die Dependenztheorie von Andre Gunder Frank sowie die Arbeiten der Annales-Schule um Fernand Braudel (Wallerstein 1974, 1979, 1983; Chase-Dunn 1991). Ihr Ziel ist nichts Geringeres als eine Theorie der gesamten Geschichte des kapitalistischen Weltsystems zu liefern. Die Weltwirtschaft als zentrale Untersuchungseinheit wird als eine integrierte Totalität verstanden, die von einer internationalen Arbeitsteilung zwischen multiplen Staaten mit verschiedenen „Methoden der Arbeitskontrolle“ strukturiert wird (Lohnarbeit, Anteilswirtschaft, Leibeigentum/Sklaverei). Die machtpolitische Stärke und geopolitische Position einzelner Staaten im Weltsystem korrespondiert in absteigender Ordnung mit den Formen der Arbeitskontrolle – zusammengefasst in der Typologie Zentrum, Semiperipherie, Peripherie. Diese systemische Ordnung ist von einer Hierarchie ungleicher Tauschverhältnisse bestimmt, in der unterschiedliche staatliche Machtpotenziale die Zentrumsstaaten in die Lage versetzen, monopolistische „terms of trade“ politisch zu erzwingen. Ungleicher Tausch ermöglicht den Staaten des Zentrums, einen überproportionalen Teil des gesellschaftlichen Surplus aus der Peripherie abzuführen, was im Umkehrschluss die weltökonomischen politischen Hierarchien und Entwicklungsdifferenzen konsolidiert.

Kontrastierend stehen Systemen integrierter Weltwirtschaften territorial singuläre Weltimperien gegenüber, die durch eine zentrale Autorität ein System von redistributiven Tributforderungen und -zahlungen kontrollieren. Entstanden sei das moderne Weltsystem in Folge der Krise des Feudalismus im „langen 16. Jahrhundert“ (1450–1640) in Europa – nach Braudel (1986) im 13. Jh. – welche im Zuge der außer-europäischen Entdeckungen eine originäre Spezialisierung und Arbeitsteilung nach sich gezogen habe. Diese wird in Form eines schwachen technischen Determinismus theorisiert (hoch qualifizierte Manufaktur in „Westeuropa“, niedrigqualifizierte Landwirtschaft in „Osteuropa“, Produktion von Rohmaterialien in Übersee). Die aus der Arbeitsteilung erwachsende ökonomische, politische und militärische Überlegenheit ermöglichte den europäischen Zentrumsstaaten die Inkorporierung der Semiperipherie/Peripherie in ein System von Handelsbeziehungen, das die Reproduktion politischer Abhängigkeiten und ökonomischer Unterentwicklung festschreibt. Über das Spektrum der verschiedenen Formen der Arbeitskontrolle hinweg wird das moderne Weltsystem invariant als kapitalistisch beschrieben, da die ökonomische Aktivität außerhalb der Zentrumsstaaten allgemein als profitorientierte Produktion für den Weltmarkt konzipiert wird. Dies deklariert nicht-kapitalistische Produktionsweisen per definitionem als kapitalistisch qua Integration in ein arbeitsteiliges Weltsystem.

Eine derartig gegliederte Organisation des internationalen Kapitalismus auf Weltebene bedingt eine deutliche Tendenz zu autopoietischer Systemreproduktion. Sie ist insbesondere immun gegen einen Rückfall in ein System von Weltimperien – denn nur eine integrierte Weltwirtschaft ermöglicht eine globale Kapitalakkumulation ohne die prohibitiven politisch-militärischen Kosten imperialer Herrschaft. Mehr noch, das Staatensystem selbst ist eine Vorbedingung für den Aufstieg und die kontinuierliche Reproduktion des Kapitalismus, da eine Pluralität souveräner Staaten für den Transfer des Surplus aus den Peripherien notwendig ist, der sich nur vermittels staatlich organisierter Konkurrenz herstellen lässt – nicht jedoch durch unmittelbare Absorption durch eine imperiale Zentralgewalt. Wiederkehrende Zyklen sich ablösender hegemonialer Staaten (Genua/Venedig, Holland, Großbritannien, USA) verschieben die Hierarchien zwischen den Zentrumsstaaten und restrukturieren oder begradigen die geo-kommerziellen Verbindungen zur (Semi-) Peripherie (Arrighi 1994). Während sich Hegemonie in den Stabilitätstheorien des Realismus allein auf militärisch-politische Macht stützt, ist sie hier in innovativen Fortentwicklungen kapitalintensiver Produktion begründet (die sich in kommerzieller Überlegenheit und schließlich im Finanzsektor übersetzt). Dieser Progress erlaubt es dem hegemonialen Staat, sich an die Spitze der internationalen Arbeitsteilung zu setzen. Die Ablösung einer im Niedergang begriffenen hegemonialen Macht entscheidet sich durch einen rekursiven Zyklus von Kriegen mit dem aufsteigenden neuen Hegemon.

Die Weltsystemtheorie ist eine sich konstant fortentwickelnde Theorietradition. Einig sind sich die verschiedenen Varianten jedoch in ihrer problematischen Konzeption des Kapitalismus als ein weltweites Handelsnetz, durch das der gesellschaftliche Surplus aus den Peripherien in die Staaten des Zentrums transferiert werde. Profite, Reichtum und Wachstum sind Resultate des Prinzips des billigen Kaufs und teuren Verkaufs, nicht von Mehrwertaneignung. Klassen und Klassenkonflikte spielen in den „Formen der Arbeitskontrolle“ nur eine untergeordnete und abgeleitete Rolle – und zwar im Moment ihrer Integration in die handelsgetriebene globale Arbeitsteilung (da Arbeitsregime und Klassenverhältnisse sich auf die Spezialisierung auf bestimmte global nachgefragte Exportprodukte reduzieren). Die Weltsystemtheorie ist daher nicht in der Lage, die verschiedenen Klassenkonflikte und die daraus folgenden variierenden Resultate dieses Integrationsprozesses zu erklären. Eine Bestimmung der Ursprünge kapitalistischer Klassenverhältnisse und der spezifischen Entwicklungsdynamik des Kapitalismus (was Marx mit dem Motiv der „ursprünglichen Akkumulation“ fasste und sich wohl frühesten im England des 17. Jh. durchgesetzt hat), sowie der unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnisse und politischen Formen der jeweiligen Ökonomien bleibt unberücksichtigt. Warum es zu einer Verschärfung bestehender Arbeitsregime (z. B. die ostelbische „zweite Leibeigenschaft“), der Einführung komplett neuer prä-kapitalistischer Formen der Arbeitskontrolle (Sklaverei in den amerikanischen Plantagen und Encomiendas) oder einer Transformation in kapitalistische Klassenverhältnisse kommen konnte, bleibt genauso im Dunkeln, wie die fundamentale Differenz zwischen dem strukturell monopolistischen Kaufmannskapital im italienischen, holländischen und spanischen Zyklus und dem Konkurrenzkapitalismus ihrer britischen und US-amerikanischen Nachfolger. Arbeitsregime entstanden nicht einfach als passive und funktionale Anpassung an die technischen Erfordernisse der Produktspezialisierung und des Weltmarktes, sondern als höchst politisierte, aktive und von Klassenkonflikten geprägte Reaktionen in spezifischen innenpolitischen wie außenpolitischen Kontexten. Regional unterschiedliche und von den jeweiligen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängige Ergebnisse werden in der Weltsystemtheorie kurzgeschlossen; die multi-linearen Pfade der ökonomischen (Nicht-) Entwicklung und die Chancen eines Aufstiegs „erfolgreich“ kapitalistisch transformierter Staaten in die Ränge des Zentrums harren einer Erklärung. Genauso unterbelichtet bleibt die strategische Variabilität ihrer internationalen Beziehungen zu anderen Zentrumsstaaten (Konkurrenz oder Kooperation), gegenüber der Peripherie und in Hinblick auf die territoriale Organisation ihres Einflussbereiches (Gowan 2006). Diese Verflachung qualitativer Unterschiede führt zu einer statischen Darstellung des modernen Weltsystems als wiederkehrende geografische Redistribution des gesellschaftlichen Surplus unter wechselnden hegemonialen Mächten.

In diesem Kontext muss auch Wallersteins problematische Staatstheorie Erwähnung finden. Staatliche Interessen werden unmittelbar auf die vom Handel abhängigen herrschenden Klassen reduziert, anstatt diverse und klassenkonfligierende Reproduktionsstrategien in einem internationalen Spannungsfeld auszudrücken (Brenner 1992), welche die Möglichkeit alternativer geostrategischer Projekte offenließen. Machtpolitische Stärke und Position eines Staates im Weltsystem werden direkt von seinem dominanten Arbeitsregime abgeleitet. Die „Stärke“ der Zentrumsstaaten setzt folglich ein hoch qualifiziertes/kapitalintensives Arbeitsregime voraus, das gleichzeitig die Ressourcen für den staatlich organisierten Surplustransfer aus der Peripherie generiert und so die inter-regionalen Hierarchien verstärkt. Die „Schwäche“ peripherer Staaten ist entsprechend Ausdruck ihrer niedrigqualifizierten/unterkapitalisierten Arbeitsregime. Über alle Zonen des Weltsystems hinweg verfehlt diese lediglich quantitative Konzeption von Machtdifferenzen den spezifisch qualitativen Charakter der Staatsformen im Verhältnis zu Klassenprozessen (Brenner 1977; Skocpol 1977).

Das Staatensystem selbst wiederum wird zum strukturellen Merkmal der kapitalistischen Weltwirtschaft hypostasiert. „Kapitalismus und Weltwirtschaft (d. h. eine einzige Arbeitsteilung, aber vielfältige Gemeinwesen und Kulturen) sind zwei Seiten ein und derselben Medaille“ (Wallerstein 1979, S. 36; Chase-Dunn 1991, S. 107). Aus dieser Perspektive ist das Staatensystem für den Kapitalismus nicht nur funktional komplementär, sondern die konstitutive Voraussetzung für kapitalistische Expansion und Surplustransfer. Wallerstein verfehlt es jedoch die Frage aufzuwerfen, geschweige denn zu beantworten, ob das Staatensystem selbst eine kausale Folge – oder schlicht eine glückliche Findung – des Kapitalismus ist. Die Formulierung „das Staatensystem ist der politische Überbau der kapitalistischen Weltwirtschaft und war eine bewusste Erfindung der modernen Welt“ (Wallerstein 1998, S. 141) bleibt assertorisch und ohne Nachweis. Eine nicht-reduktionistische Analyse der Herkunft der „anderen Seite“ der Weltwirtschaft fehlt. Da der Kapitalismus – egal ob als Handelsnetz oder Produktionsverhältnis bestimmt – in einem geopolitischen Kontext entstand, der schon von einem System souveräner Staaten vorstrukturiert war, bedürfen dieses geopolitische Pluriversum und seine dazugehörigen strategischen Praxen einer theoretischen und historischen Erklärung und nicht lediglich einer Bemerkung über ihre Funktionalität für den Kapitalismus (Teschke 2007, 2021; Lacher 2006).

Einige dieser Verkürzungen werden von Giovanni Arrighi und Beverly Silver (1999; Silver 2005) aufgenommen, indem die Zyklen zwischenstaatlicher Konfrontation, bzw. hegemonialer Stabilität um die korrespondierende Dimension verschärfter Konflikte innerhalb und zwischen den Klassen, bzw. Phasen produktiver sozialer Kohäsion erweitert werden. Der Beginn eines hegemonialen Zyklus gründe nicht allein in einer Redefinition zwischenstaatlicher Kräfteverhältnisse, sondern ebenfalls im Entwurf eines neuen „historischen Kompromisses“: Die handels- und finanzgetriebene Konzentration materiellen Reichtums während des hegemonialen „Aufstiegs“ geht mit der Entstehung, Ausdehnung und Neuzusammensetzung „ausgeschlossenener“ gesellschaftlicher Gruppen und Klassen einher – innerhalb und außerhalb des Zentrums. Das gesellschaftliche Konfliktpotenzial ist zunächst latent, verschärft sich jedoch mit wachsenden sozialen Ungleichheiten zunehmend in inneren und äußeren Krisen – bis hin zu Revolution und Krieg – und beschleunigt so den Niedergang der Hegemonialmacht. Ein Übergang vollzieht sich, wenn einem neuen Hegemon durch Kooptation und Repression die politische und ökonomische (Wieder-)Herstellung einer neuen sozialen Ordnung gelingt – mit einem stets extensiveren und schließlich globalen geografischen Charakter, wie zuletzt in der Ablösung des britischen durch den US-amerikanischen Zyklus.

Arrighi und insbesondere Silver gelingt es, den fehlenden sozialen Konflikten politisch-ökonomischer Weltordnungen durch die Polaritäten Reichtum/Exklusion und Rebellion/Repressive Integration erklärenden Wert zuzusprechen. Allerdings beseitigt dies weder die Tendenz, historische Varianz als organisch-evolutionären Ausdruck zu interpretieren, noch können so die je spezifischen Klassenkonflikte verschiedener gesellschaftlicher Eigentumsverhältnisse und damit verbundener qualitativ differenter Entwicklungsdynamiken erklärt werden. Die Tiefenstruktur von Rebellionen, Revolutionen und Kriegen ist für alle Hegemonialphasen gleich und variiert nur in quantitativer und raumzeitlicher Hinsicht. Damit bleibt selbst der dynamischste Aspekt der Weltsystemtheorie – die hegemonialen Zyklen – einer Darstellung wesenhafter Gleichheiten verhaftet, in der die Mechanismen des Surplustransfers, hegemonialer Expansion und der internationalen Ordnung (und der sozialen Konflikte) stets qualitativ identisch bleiben.

Die Verdinglichung kapitalistischer Weltgeschichte in zyklisch wiederkehrende Muster bedingt eine theoretische Starre, die nicht nur mit der Realgeschichte kollidiert, sondern ebenfalls prädeterminierte Erwartungen an dessen Zukunft stellt. Die raumzeitliche Bestimmung der Ursprünge und Fortentwicklungen des modernen Weltsystems bleibt damit problematisch (Brenner 1977; Brewer 1990, S. 161–178; Teschke 2007, S. 129–139). Dabei ist es vielmehr der genetisch-genealogische Bruch zwischen Staatensystem und Kapitalismus, der es ermöglicht die historische Varianz zwischen den Räumen der Kapitalakkumulation und politischer Souveränität zu thematisieren. Denn die weltgeschichtliche Geopolitik seit dem „langen 16. Jahrhundert“ war nicht nur von erfolgreichen (jedoch nicht universalen) imperialen Formationen kapitalistischer und nicht-kapitalistischer Gemeinwesen geprägt, sondern ebenfalls von einer immensen Diversität räumlicher Ordnungen, einschließlich des inter-zonalen Wechsels verschiedener Staaten innerhalb der tri-zonalen Raumkategorien Wallerstein’scher Prägung. Durch den verengten Fokus auf das Handeln der Hegemonialmacht wird der geopolitische Kontext, besonders die militärischen Konflikte zwischen kapitalistischen und nicht-kapitalistischen Zentrumsstaaten, aus dem Model herausgekürzt. Ähnlich quer zur Realgeschichte liegt daher die zentrale Annahme einer hegemonialen Ablösung qua Krieg. Venedig und Genua führten keine Hegemonialkriege gegen Holland; Holland nur partiell gegen England (das absolutistische Frankreich war die größere Bedrohung); und Großbritannien wurde nicht militärisch von den USA besiegt. Angesichts des seit den 1970er-Jahren prognostizierten, sich jedoch weiterhin hinausschiebenden „Niedergangs der US Hegemonie“ (und einer möglichen Ablösung durch China) unterliegt die Weltsystemtheorie daher stetigen Revisionen (Arrighi 2005a, b, 2008; Wallerstein 2006).

5 Neo-Gramscianische Internationale Politische Ökonomie

Die neo-gramscianische Internationale Politische Ökonomie (oder „transnationaler historischer Materialismus“) ist die vielleicht einflussreichste marxistische Theorie im gegenwärtigen IB Diskurs. Auf Grundlage der anti-ökonomistischen und historizistischen Arbeiten des italienischen Kommunisten Antontio Gramsci rückt hier ebenfalls die Kategorie der „Hegemonie“ in den Mittelpunkt der Analyse, um den Wandel geschichtlicher Weltordnungen, ihre relative Stabilität, und die Entwicklung alternativer, gegen-hegemonialer Entwürfe zu verstehen (Saull 2010).

Neo-gramscianische Ideen fanden primär durch die Arbeiten von Robert Cox (1987, S. 1–15, 1996, S. 124, 135) Eingang in die Theorie der IB, indem er zentrale Kategorien aus den Schriften Gramscis „ableitete“ und auf die internationalen Beziehungen „anwendete“ (ebenfalls: van der Pijl 1984, 1998; Gill und Law 1988; Gill 1990, S. 33–56, 1993; Arrighi 1994; Rupert 1995, S. 14–38; Bieler 2000; Morton 2007, 2011; Van Apeldoorn und De Graaff 2016). Grundlegend sind hier die ‚historischen Strukturen des Kapitalismus‘, in deren jeweiligen historischen Ausprägungen sich diverse Konfigurationen gegenseitig irreduzibler Ideen, materialer Kapazitäten und Institutionen manifestieren, die den Rahmen von Handlungsabläufen vorgeben. Auf nationaler, wie auf internationaler Ebene können sich diese Konfigurationen entweder zu einer stabilen Hegemonie verdichten, oder in nicht-hegemonialen Phasen konträr zueinander stehen. Hegemonialstaaten gründen Hegemonialphasen durch die Internationalisierung ihrer nationalen ‚historischen Blöcke‘. In den so entstehenden Weltordnungen werden militärische Rivalitäten hierarchisch überwunden und bisweilen transnational aufgelöst.

Zentral ist hier die begriffliche Neufassung des Staates, der weder als Klasseninstrument noch als autonome Sphäre von Regierung, Institutionen und Gewaltmitteln definiert wird, sondern vielmehr als ‚integraler Staat‘, der organisch sowohl den politischen Staatsapparat und die auf Klassen aufbauende Zivilgesellschaft umfasst. Klassenhegemonie beruht nicht allein auf der physischen Kontrolle von Staatsmacht und Zwang, sondern auch auf den Prinzipien von Konsens und Legitimität in dem Maße wie sich national dominante Klassen durch Kultur, Ideologie, politische Kompromisse und materielle Konzessionen an subalterne Klassen als hegemonisch durchsetzen. Eine derartige Konstellation umschreibt einen ‚historischen Block‘. Nationalen Hegemonien liegt eine dominante „Akkumulationsstruktur“ zugrunde, die als raumzeitliche spezifische Kombination verschiedener „Formen gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse“ bestimmt wird. Cox unterscheidet zwölf dieser Formen: Subsistenz, Bauer-(feudaler) Grundbesitzer, primitiver Arbeitsmarkt, Haushalt, Selbstständigkeit, unternehmensdominierter Arbeitsmarkt, Bipartismus, Unternehmenskorporatismus, Tripartismus, Staatskorporatismus, kommunal, zentrale Planung. Verschiedene „monadische Formen“ gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse koexistieren in den verschiedensten Gesellschaften, werden jedoch durch die hegemoniale Klasse im Staat so orchestriert und hierarchisiert, das eine „Akkumulationsstruktur“ entsteht, in der eine „monadische Form“ hegemonial ist.

Diese „Akkumulationsstruktur“ wird durch die transnationalisierende Praxis der hegemonialen Klasse und das internationale Agieren des hegemonialen Staates nach außen projiziert. Die Mechanismen der liberal-bürgerlichen hegemonialen Machtausübung kristallisieren sich international in bestimmten Organisationen (Weltbank, IWF, G8, UN), die nicht-hegemoniale ausländische Eliten kooptieren, und für einen gewissen Grad an Codetermination durch Konzessionen an subalterne Staaten sorgen. Transnational universalisiert sich eine hegemoniale Klasse durch private internationale Foren (Trilaterale Kommission, Rotary Club, Bilderberg Group, Think Tanks) und beschleunigt so die Formierung einer globalen Zivilgesellschaft, bzw. eines transnationalen historischen Blocks (van der Pijl 1984; Gill 1990). Die Transnationalisierung eines hegemonialen Projektes übt wiederum Druck auf subalterne Staaten aus, ihre jeweilige „Akkumulationsstruktur“ mit der des Hegemons in Einklang zu bringen, oft durch Prozesse „passiver Revolution“ und trasformismo (staatlich gelenkte Reformprozesse). Mit ihrer Internationalisierung übernehmen diese Staaten die Funktion eines „Transmissionsriemens“ (Cox 1992, S. 30) zwischen dem Hegemon und ihren jeweiligen gesellschaftlichen Konfigurationen im Innern, bevor sie letztlich in einen globalen hegemonialen Block integriert werden. Gesellschaftliche Akteure, Staaten und Weltordnungen vereinigen sich in einer Welthegemonie zu einem dialektischen Ganzen.

Im Gegensatz zum Realismus, für den internationale Hegemonie auf einer Konzentration materieller Überlegenheit und Machtprojektion in einem dominanten Staat basiert, gehen Neo-Gramscianer davon aus, dass liberale internationale Hegemonien auf der Universalisierung besonderer „Staat-Zivilgesellschaft-Komplexe“ beruhen, die sich weitestgehend vermittels konsensualer Prozesse und nicht allein durch Machtpolitik herstellten (obwohl das Zwangselement latent bleibe). Die Spezifizierung distinkter Staat-Zivilgesellschaft-Komplexe in verschiedenen Welthegemonien erlaubt es, diverse zwischenstaatliche Systeme und korrespondierende Formen von Konflikt und Kooperation zu unterscheiden. In der modernen Weltgeschichte wird die Abfolge zweier hegemonialer Perioden beschrieben, die Pax Britannica und die Pax Americana, die von einer Phase zwischenstaatlicher Rivalität unterbrochen war. Neo-gramscianisch beeinflusste Weltsystemtheoretiker wie Arrighi (1994), sprechen hingegen von vier Hegemonien – Genua, Holland, Großbritannien, USA.

Ein zentrales Problem des Neo-Gramscianismus ist der Ersatz des Marxschen Begriffs der „Produktionsweise“ durch das Konzept der ‚historischen Strukturen des Kapitalismus‘, untergliedert nach dominanten „Akkumulationsstrukturen“. Die meisten dieser von Cox skizzierten Strukturen beschreiben historische Varianten innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise, während jene als gegeben akzeptiert und nicht historisiert wird. Die gesellschaftlichen Konflikte kapitalistischer Transformationen und die besondere Dynamik der kapitalistischen Moderne geraten so aus dem Blickfeld (Lacher 2002, S. 150). Der überwiegende Fokus auf die Verhältnisse zwischen herrschenden Klassen – eine Fixierung auf das Handeln von Eliten und die damit verbundene Ideologieproduktion (Scherrer 1998), statt auf Prozesse von Klassenkonflikten und „ursprünglicher Akkumulation“ (Shilliam 2004) – radikalisiert sich im Fehlen einer Genealogie der geografischen Expansion des Kapitalismus in einem schon territorial präkonstituierten zwischenstaatlichen System. Stattdessen wird die Existenz des letztgenannten unhinterfragt seit dem Westfälischen Frieden angenommen (Cox 1987, S. 111). Für Cox wird das Staatensystem fortschreitend inter-, bzw. transnationalisiert. Die Entstehung regional spezifischer Ausprägungen des Verhältnisses von Staat und Zivilgesellschaft gründet jedoch in der nachfolgenden inter-nationalen Expansion des Kapitalverhältnisses in seiner Kollision mit schon territorial verfassten spezifischen Konstellationen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. In dieser Hinsicht kann die Vorstellung einer Kombination prä-konstituierter „monadischer Formen“ in diversen nationalen Kontexten nicht akzeptiert werden, da diese „sich nicht als Monaden, sondern in den ‚geo-politischen‘ und zeitlichen Verhältnissen zueinander entwickelten – und in einigen Fällen rückentwickelten – die durch die Erfordernisse der Expansion und Intensivierung kapitalistischer Vergesellschaftung auftraten“ (Shilliam 2004, S. 83).

Die fehlende politische Geografie und Geopolitik ungleicher kapitalistischer Entwicklung wird von Kees van der Pijl (1998, 2006) in Form eines dreihundertjährigen Zyklus aufgegriffen, in dem die Expansion eines „Locke’schen Kernlandes“ – eine stetig wachsende Koalition liberal-kapitalistischer Staaten – wiederholt von „Hobbes’schen Rivalen“ bedroht werde. Derartige Konfrontationen entscheiden sich nicht primär auf Grundlage militärischer Kräfteverhältnisse, sondern durch das Mobilisierungspotenzial produktiver Kapazitäten, das von den unterschiedlichen, konkurrierenden Staat-Zivilgesellschaft-Komplexen ausgeht. Der Ursprung des Kernlandes liegt in einem transnationalen Vergesellschaftungsprozess durch den Export des Locke’schen Staat-Zivilgesellschaft-Komplexes in die Siedlerkolonien. Außerhalb des Kernlandes wird eine autonome Entwicklung und Politik durch die Ausdehnung der kapitalistischen Weltwirtschaft stark beschränkt, so dass die dortigen „Staatsklassen“ einer Verdrängung in die Peripherie mit „Aufholprozessen“ staatsgelenkter Industrialisierungsprogramme begegnen, deren kapitalistische Transformationen als „passive Revolutionen“ verstanden werden. Diese autoritäre Mobilisierung gesellschaftlicher Kapazitäten produziert qualitativ anders geartete Staat-Zivilgesellschaft-Komplexe, in denen die Zivilgesellschaft vom „Hobbes’schen Staat“ konfisziert und den Interessen der Staatsklasse untergeordnet wird. Die so entstehende Konfrontation zwischen liberalen und autoritären Staaten(allianzen), werden regelmäßig in militärischen Rivalitäten um die Welthegemonie ausgefochten, d. h. letztlich in Weltkriegen (Napoleonische Kriege, 1. und 2. Weltkrieg, Kalter Krieg). Während die innere Konkurrenz um die Führung des Kernlandes bestehen bleibt, koordiniert jeder Hegemon die „internationale Vergesellschaftung von Staatsfunktionen“, indem die besiegten Rivalen in das Kernland eingehegt und die Interessen des Kapitals im Allgemeinen auf geografisch erweiterter Stufenleiter gewahrt werden. Diese Entwicklung kann schließlich zu einem Moment regierungsloser Governance fortschreiten – der Entstehung eines „immanenten Weltstaats“. Die Realpolitik des Kernlandes tritt zunehmend zurück hinter die Bedeutung transnationaler strategischer Planungskommissionen – zusammengesetzt aus den Kadern einer transnationalen Managerklasse – welche die Agenda der erfolgreichen Integration, Reproduktion und kontinuierlichen Expansion der transnationalen Gesellschaft des Kernlandes, sowie die Formulierung „globaler Herrschaftskonzepte“, artikuliert von ‚organischen Intellektuellen‘, bestimmen.

Diese Lesart hat den entschiedenen Vorteil, über Cox‘ abstrakte Typologie von Staats- und monadischen Formen hinauszugehen, indem deren Genealogie und Transformationen in raumzeitliche Verhältnisse zueinander gesetzt werden. Der kapitalistische Raum wird nicht einfach durch eine Hegemonie „von oben“ homogenisiert, sondern als eine ungleiche Expansion und Dynamik interner Querverbindungen begriffen. Eröffnet wird eine theoretisch integrierte Perspektive auf die geografischen Verläufe konflikt- und krisenhafter gesellschaftlicher und geopolitischer Transformationsprozesse, welche die Langzeitdynamik der Hegemonien in ihren internen und externen Beziehungen kennzeichnen.

Aus einem breiteren Blickwinkel betrachtet lässt sich jedoch feststellen, daß das Konzept der Welthegemonie als allgemeingültige Kategorie für ein Verständnis der (kapitalistischen) Weltgeschichte nur von bedingtem Wert ist (Ayers 2008). Mehrdeutige begriffliche und historisch-genealogische Bestimmungen des Kapitalismus haben pointierten Thesen nicht nur über den kapitalistischen Charakter und Erfolg der Transnationalisierungsprojekte spezifischer historischer Blöcke Vorschub geleistet, sondern auch verallgemeinernden Aussagen über umfassende Restrukturierungen internationaler Ordnungen durch und für einen hegemonialen Staat. Arrighis Phase einer „holländischen Hegemonie“ lässt beispielsweise außer Acht, dass das absolutistisch-merkantilistische Staatensystem in Europa einer niederländischen Hegemonie deutliche Grenzen setzte, indem es die Holländische Republik in ein bestimmtes Muster kompetitiver inter-dynastischer Beziehungen zwang – vielmehr als dass diese durch eine Hegemonie des holländischen Gesellschaftsmodels transformiert worden wären (Teschke 2007, S. 133–136). An der These einer britischen Hegemonie in Kontinentaleuropa muss stark gezweifelt werden, auch wenn die Rolle Großbritanniens in Übersee im 19. Jh. tatsächlich von zentraler Bedeutung war (allerdings eher als klassische Imperialmacht, denn als hegemonialer Akteur). Statt einer Internationalisierung eines spezifischen Staat-Zivilgesellschaft-Komplexes durch konsensuale Maßnahmen bestimmte sich das vornehmliche Ziel Großbritanniens ex negativo als eine nicht-interventionistische Politik des Machtausgleichs (Friede von Utrecht, Wiener Kongress, Europäisches Mächtekonzert), um den Aufstieg eines dominanten europäischen Rivalen zu verhindern (Lacher 2006, S. 123; Lacher und Germann 2012; Teschke 2021).

Neo-Gramscianische Ansätze sind am besten auf das Verständnis einer ganz bestimmten Weltordnung zugeschnitten – die Pax Americana. Doch auch hier bleiben zentrale Probleme virulent: in Mark Ruperts wichtiger Analyse von Massenproduktion und US-Hegemonie (1995) sind Klassenverhältnisse zwar zentral, erklärende Relevanz wird jedoch letztlich horizontalen Verhältnissen zwischen Eliten zugeschrieben (Bieler et al. 2006); die Darstellung von Staaten innerhalb des hegemonialen Blocks als „Transmissionsriemen“ zwischen dem Hegemonialen und dem Nationalen unterschätzt ihre relative Autonomie und reduziert sie auf eine passive Vermittlungsfunktion globaler Imperative (Panitch 1996); der Ansatz bleibt zu US-zentrisch und unterschlaegt die Bedeutung der Aussenwirtschaftsstrategien sekundaerer kapitalistischer Staaten (Germann 2021), der Vorrang konsensualer Mittel vor repressiven bleibt vage, sowohl vor dem Hintergrund der Verhältnisse innerhalb der liberalen Hegemonialstaaten, als auch derer zwischen dem Hegemon und nicht integrierten Staaten; und der Untersuchungsschwerpunkt auf die hegemoniale Ordnung geht zu oft über die Widersprüche, Konflikte und gegenhegemonialen Projekte innerhalb eines fragilen transnationalen historischen Blocks hinweg (Drainville 1994). Letztendlich neigt die neo-Gramscianische IPÖ zu einem „pluralistischen Empirismus“ (Burnham 1991) und sehr dehnbaren Begrifflichkeiten, die im Zweifelsfall auch widersprüchliche Phänomene subsumieren (wann ist eine Klassenkonstellation ein ‚historischer Block‘? Woran erkennen wir, daß er sich auflöst? Wo verläuft die begriffliche Grenze zwischen Konsens und Zwang?).

Die zentrale Kategorie der Hegemonie bleibt paradoxerweise zu weit und zu eng gefasst um ein umfassenderes und historisch genaueres Verständnis kapitalistischer internationaler Beziehungen zu liefern. Im Anschluss an die zwei zentralen Blindstellen in den Arbeiten der Neo-Gramscianer – dem Fehlen einer inter-nationalen Perspektive (jenseits der Idealtypen von ‚Locke’schen Kernland‘ und ‚Hobbes’schen Rivalen‘) und die analytische Reduzierung von Klassenpolitik und -verhältnissen auf konsensuale Ideologieproduktion – hat der Übergang vom National-Hegemonialen zum Transnational-Hegemonialen um ein weiteres Mal das Inter-Nationale als Terrain soziopolitischer und geopolitischer Konflikte und Transformationen unterbewertet.

6 Ungleiche und Kombinierte Entwicklung und der Politische Marxismus in den IB

Die erneute Hinwendung zum klassischen Marxismus erfolgte auf Fred Hallidays programmatische Forderung (1994) einer „notwendigen Begegnung“ von Historischem Materialismus und IB. Sie provozierte eine Neubegründung marxistischer Theorien der IB in Form einer internationalen historischen Soziologie – und eine revisionistische Lesart der Verhältnisse zwischen Kapitalismus, Staat und Staatensystem in historischer Perspektive. Justin Rosenberg (1994; ähnlich, jedoch weniger strukturalistisch: Bromley 1994, 1999) zeigte in seinen frühen Arbeiten die strukturelle Korrespondenz zwischen verschiedenen geopolitischen Systemen – der griechischen Polis, den italienischen Stadtstaaten während der Renaissance, frühneuzeitlichen Imperien und dem modernen Staatensystem – und verschiedenen Produktionsweisen/Gesellschaftsformationen auf. Obwohl nach Rosenberg die meisten geopolitischen Systeme von „Anarchie“ gekennzeichnet seien, existiere eine „strukturelle Diskontinuität“ zwischen allen vorkapitalistischen Systemen und der modernen kapitalistischen internationalen Ordnung: die Unterscheidung von personalisierter Herrschaft unter prä-kapitalistischen Produktionsverhältnissen einerseits und unpersönlicher Herrschaft und moderner Souveränität andererseits. Letztere ist in einer Trennung des Ökonomischen und Politischen im Kapitalismus begründet (Wood 2010). Diese strukturelle Diskontinuität erklärt die Ko-Konstitutivität und Kompatibilität eines Systems begrenzter (aber „poröser“) souveräner Staaten und einer transnationalen Ökonomie – das „Imperium der bürgerlichen Gesellschaft“. Aus diesem Blickwinkel ist die kapitalistische Anarchie des Marktes, die von einem subjektlosen Preismechanismus reguliert ist, nicht einfach analog zur Anarchie des internationalen Staatensystems, die von einem subjektlosen Machtgleichgewicht reguliert wird, sondern die Voraussetzung seiner Möglichkeit. Moderne Machtpolitik und ihr „realistischer“ Diskurs setzten daher eine spezifische, abstrakte Vorstellung von Staatlichkeit voraus, die sich erst aus einer verallgemeinerten Trennung des Ökonomischen und Politischen im Kapitalismus ergibt.

Rosenbergs Arbeit ist von einer Spannung zwischen einem strukturalistischen Marxismus und historischer Analyse gekennzeichnet (Lacher 2002; Teschke 2007, S. 51–54). Die europäische Geschichte wird als eine Sequenz distinkter, in sich geschlossener, geopolitischer Ordnungen rekonstruiert, ohne ihre historischen Übergänge genauer zu beleuchten. Die diesen Transformationen inhärenten gesellschaftlichen und geopolitischen Krisen – soziale Konflikte, Revolutionen, Kriege – verschwinden aus dem Blick. Klassenkonflikte und Geopolitik sind unterrepräsentiert. Damit zusammenhängend verschleiert die behauptete strukturelle Wechselseitigkeit und funktionale Kompatibilität zwischen einem territorial differenzierten Staatensystem und einem privaten, transnationalen Weltmarkt die komplexen historischen Relationen zwischen Kapitalismus, modernem Staat und Staatensystem. Letztere werden kausal aus ersterem abgeleitet, während alle drei als gleichursprüngliche Aspekte der kapitalistischen Moderne erscheinen. Diese These überzieht die Erklärungskraft des Kapitalismus-Begriffes und vernachlässigt die historische Ko-Entwicklung (nicht jedoch die Gleichursprünglichkeit) von Kapitalismus, Staat und Staatensystem. Die Periodisierung europäischer Geschichte als einer Sequenz internationaler Ordnungen, beruhend auf einer Abfolge von Produktionsweisen, führt zu einer problematischen Synchronisierung raum-zeitlich diachron verlaufender und inter-aktiver Entwicklungsprozesse zwischen qualitativ verschiedenen politischen Gemeinschaften.

Die struktur-analytischen Probleme dieses Ansatzes werden von Benno Teschke und Hannes Lacher unter Rekurs auf die frühen Arbeiten des Politischen Marxismus, die im Kontext der ‚Transition- Debate‘ vom Feudalismus zum Kapitalismus in den 80er-Jahren entstanden, aufgegriffen (Brenner 1977, 1985; Wood 2010; Dimmock 2014). Dies impliziert auch eine historistische Wende innerhalb dieser Denkrichtung (Knafo 2013; Teschke und Wenten 2016; Knafo and Teschke 2021; Pal 2020), da Kapitalismus nicht primär als eine abstrakte theoretische Mega-Kategorie verstanden wird, sondern als ein je zu historisierendes und konkretes gesellschaftliches Verhältnis. Ausgangspunkt sind die historischen Spezifika, die weder von makro-theoretischen politischen oder ökonomischen Gesetzmäßigkeiten deduziert, noch induktiv zu Makro-Modellen von Strukturtendenzen extrapoliert, sondern in sozialen und (geo-)politischen Praxen verankert werden. Teschke legt eine historische Re-Interpretation der Langzeitentwicklungen der sozio-politischen Geografie und geopolitischen Dynamiken in „Europa“ vom Ende des Karolingerreichs bis zur Entstehung und Expansion kapitalistischer Staatlichkeit im frühneuzeitlichen England vor (Teschke 2007). Ausgegangen wird, sowohl im Mittelalter als auch in der Frühneuzeit, von Transformationen politisch konstituierter und umkämpfter gesellschaftlicher Eigentumsverhältnisse, die von den unterschiedlichen Kräfteverhältnissen zwischen Klassen abhängen. Aus diesen ergeben sich unterschiedliche geopolitische Reproduktionsstrategien, welche die verschiedenen Praxen territorialer und geopolitischer Beziehungen bedingen. Im Gegensatz zum Neo-Realismus wird so der sui generis Charakter feudaler politischer Geografie und Geopolitik gezeigt (Teschke 1998), die Entstehung des spätmittelalterlichen geopolitischen Pluriversums rekonstruiert, und die divergenten, sich jedoch gegenseitig beeinflussenden Verläufe der Klassen- und Staatsformierung in Frankreich und England des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit nachgezeichnet. Da die französischen und kontinentalen „absolutistischen“ Staatengebilde in vorkapitalistischen gesellschaftlichen Eigentums- und Autoritätsverhältnisse verharrten, verlieh die entsprechend dynastische Form der Souveränität sowie die Persistenz „geopolitischer Akkumulation“ zwischen den europäischen Mächten den internationalen Beziehungen des „Westfälischen Systems“ einen spezifisch vor-modernen Charakter: dynastische politische Heiraten, Personalunionen, Erbfolgekriege, merkantilistische Handelskriege, convenance Äquilibrium und die Bildung von Großreichen (Teschke 2002). Diese Praxen konstruierten ein System multipler Territorien, das jedoch weiterhin von den sozialen Eigentumsverhältnissen und der Geopolitik dynastisch-absolutistischer Souveränität charakterisiert war.

Die IB-konstituierende Fiktion des Westfälischen Friedens als Gründungsmoment des modernen Staatensystems wird so einer theoretischen und empirischen Fundamentalrevision unterzogen. Demgegenüber wird die These aufgestellt, dass der Aufstieg des englischen Agrarkapitalismus im 16. Jh., die damit einhergehenden Klassenkonflikte und die entpersonalisierte Form kapitalistischer Souveränität im post-revolutionären Großbritannien, eine neue, einzigartig dynamische kapitalistische Wirtschaft und post-dynastische Staatsform („The King-in-Parliament“) hervorbrachten. Der ökonomische und militärische internationale Wettbewerbsvorteil, finanziert durch die kapitalistische Überwindung malthusianischer Krisen und den Aufbau zentraler Besteuerungssysteme, ermöglichte Großbritannien ab dem frühen 18. Jahrhundert durch die Erfindung der balance- of- power (zuerst kodifiziert im Frieden von Utrecht, 1713) die aktive Regulierung des Mächtegleichgewichtes der inter-dynastischen Beziehungen auf dem Kontinent. Dies bedingte unter den Kontinentalmächten nicht nur Staatsbankrotte, Steuerkrisen und die Französische Revolution, sondern ebenfalls die Entwicklung von Gegenstrategien, die durch Reformen und „Revolutionen von oben“ zur Herausbildung neuer Klassen- und Staatsformationen führten (Teschke 2005, 2021). Das Staatensystem ist damit die kumulative Konsequenz jahrhundertelanger mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Klassenkonflikte um die Herrschaftsrechte und Ausbeutungsprivilegien von „Land und Leuten“, die sich letztlich in einer Pluralität militärisch konkurrierender, dynastischer Territorialreiche kristallisierten. Es ist nicht die „andere Seite“ des Kapitalismus – es kann nicht logisch abgeleitet werden, sondern ging diesem historisch voraus. Ihr Verhältnis wird des Weiteren nicht als ein invarianter kapitalistischer Strukturfunktionalismus theorisiert, sondern bedarf der steten Historisierung der geopolitischen Gestaltung (kapitalistischer) Territorialisierungsprozesse in einem offen verstandenen Geschichtsprozess. Die Ausdehnung des Kapitalismus war kein transnationaler oder gar hegemonial oktroyierter Prozess, der „eine Welt nach seinem Bilde“ schuf, sondern brach sich vielmehr im Prisma geopolitisch umkämpfter Beziehungen zwischen verschiedenen Staats- und Gesellschaftsformationen mit unterschiedlichen Konsequenzen in verschiedenen Weltregionen. So wird eine nicht-deterministische Perspektive auf die historisch wandelbaren geopolitischen Reproduktionsstrategien und die Konstruktion differenter kapitalistischer territorialer Ordnungen durch und zwischen politischen Gemeinschaften ermöglicht.

Hannes Lacher verdeutlicht die theoretischen Implikationen des historischen Auseinanderklaffens von Kapitalismusentstehung und der Formation multipler Territorien, indem er die Artikulationen zwischen dem Nationalen und Internationalen/Globalen in Form von „Strategien der Verräumlichung“ nachzeichnet (Lacher 2006). Aus den vorkapitalistischen Ursprüngen des Staatensystems ergäbe sich eine Inkongruenz zwischen den Räumen globaler Kapitalakkumulation und den Formen territorialer Herrschaft. Individuelle Firmen konkurrieren nicht direkt auf dem Weltmarkt miteinander, sondern vermittels souveräner Staaten, die durch verschiedene Strategien der Verräumlichung eine externe Projektion nationaler Klasseninteressen organisieren. Die andauernde Zentralität des Staates rebelliert gegen einen funktionalistischen Langzeittrend einer Korrelation von Formen der Governance und globaler Kapitalakkumulation und erfordert eine genauere historische Analyse der Dialektik staatlicher De- und Re-Territorialisierung (Kooperation und Konkurrenz), die den Verlauf der kapitalistischen Moderne kennzeichnet. Anstatt der Versuchung zu erliegen, eherne strukturelle Imperative einer „kapitalistischen Geopolitik“ oder eine linear-evolutionistischen Entwicklung – wie beispielsweise der angebliche gegenwärtige Übergang vom Internationalen zum Globalen – zu identifizieren, bleibt als Resultat der Arbeiten von Teschke und Lacher festzuhalten, dass „internationale Beziehungen“ von 1648 bis heute weder einer (neo-)realistischen Machtlogik der Anarchie, noch einer singulären Logik „kapitalistischer internationaler Beziehungen“, folgen.

Das Problem des „Internationalen“ greift Rosenberg (2006, 2013) in seinen späteren Arbeiten auf, indem er einen Paradigmenwechsel von Marx’ zentraler Kategorie der „Produktionsweise“ zu Leon Trotzkis Motiv der „ungleichen und kombinierten Entwicklung“ (UKE) vollzieht. Trotzki richtete die Aufmerksamkeit auf die grundsätzliche Ungleichheit der koexistenten und multi-linearen Geschichtsverläufe der politischen Gemeinschaften seiner Zeit. In ihrer Konfrontation mit dem geografisch expandierenden Kapitalismus sah er eine Verstärkung dieser Differenzen, da es zu einer Amalgamierung des Alten und des Neuen käme: einer „kombinierten Entwicklung“. Der Begriff der UKE, so Rosenbergs These, stelle eine allgemeingültige soziologische Theorie der IB dar, die sowohl die Multilinearität diverser Entwicklungspfade formalisiere, als auch die neo-realistische analytische Trennung von Geopolitik und Soziologie überwinde. Da sowohl das „Internationale“, numerisch definiert als Vielzahl koexistenter Gemeinschaften, als auch deren relationale und inter-aktive Ungleichheit allgemeingültige Konstanten sowohl vor-kapitalistischer als auch kapitalistischer Geschichte seien, lasse sich UKE als universalgesetzliche „Generalabstraktion“ formulieren.

UKE hat sich als produktiv erwiesen (Shilliam 2009; Matin 2013), bleibt aber meta-theoretisch als „deduktiv-nomothetisches“ und kausales Allgemeingesetz eben jenem neo-realistischen positivistischen Gesetzesbegriff und szientistischen Theorieverständnis verhaftet, den die post-positivistische Wende in der Historischen Soziologie innerhalb der IB überwinden wollte (Hobden und Hobson 2002; Teschke 2011b, 2014; Rioux 2014). Dies wird besonders in der Subsumierung gesellschaftlicher und außenpolitischer Handlungen unter ein übergeordnetes Universalgesetz und in der Externalisierung des Handlungsbegriffs von UKE’s theoretischen Kategorien – das Internationale, Ungleichheit, Entwicklung, Kombination – deutlich. Dies bedeutet den Rückfall in einen Strukturfunktionalismus, da historische Phänomene als Funktionen der ungleichen Struktur zwischen sich unterschiedlich entwickelnden politischen Entitäten verstanden werden. Die Möglichkeit ihrer politischen Steuerung, Beeinflussung oder Unterbindung bleibt theoretisch ausgeschlossen, wenn auch deskriptiv ubiquitär. Theorie und Geschichte treten somit auseinander. Zudem bleibt unklar, welche Kategorien UKE selbst erklären. Denn die Theorie beschreibt Regelmäßigkeiten zwischen Gemeinschaften, die außerhalb ihrer Erklärungskompetenz liegen, da sie sich des Begriffes gesellschaftlicher und geopolitischer Praktiken entledigt hat. UKE kann nicht gleichzeitig Explanandum und Explanans sein. Die Theorie pointiert kein distinktes Prinzip, das die Dynamik von Ungleichheit und Kombination spezifizieren würde und bleibt letztlich deskriptiv und bar jeden gesellschaftlichen Inhaltes. Zudem sind – wie die Disziplin der historischen Semantik nahelegt – die verwendeten allgemeingültigen Kategorien Gesellschaft, Staat, das Internationale und Entwicklung selbst historische Begriffe, die spezifische raumzeitlich umrissene Phänomene von begrenzter geschichtlicher Dauer beschreiben. Die Ontologisierung „des Internationalen“ als „räumliche Kategorie“ (Rosenberg 2006, S. 318) verstellt ihr Verständnis als „soziohistorische Praxis“, die ständigen Veränderungen unterlag, wie eine Analyse der tausendjährigen „feudalen“ nicht-exklusiven Territorialität beispielhaft zeigt. Konkreter, die Theorie stellt keinerlei Begriffe bereit, die sich eignen würden die Inter-Staatlichkeit der kapitalistischen Moderne zu erklären – ein zentrales Explanandum einer marxistischen Theorie „des Internationalen“. Denn die Idee einer „ungleichen und kombinierten Entwicklung“ kann nur auf Grundlage der politischen Geografie eines Staatenpluriversums als ihrer Voraussetzung sinnvoll sein. Schlussendlich beißt sich das Verfahren der Generalabstraktion mit Marx’ Methode, klassisch skizziert in den Grundrissen, soziale Phänomene und historische Begriffe als Produkte menschlicher Praxis dialektisch zu historisieren (Marx 1983): denn „unbeweglich“ ist nur die Abstraktion von der Bewegung – „mors immortalis“ (Marx 1972, S. 130). Das Motiv der UKE mag eine sinnvolle Heuristik bieten, um vor der Einebnung von Differenzen unter eine (kapitalistische) Identität zu bewahren. Ihre Erhebung zu einem „allgemeinen Gesetz“ – ein Universalschlüssel und theoretisches passe- partout – sowie ihre abstrakte und inhaltsleere Formulierung hingegen erzeugen einen Bruch zwischen dem Allgemeinen und dem Partikularen: dem historisch Konkreten.

7 Globalisierung, Empire und Neoimperialismus

Die unter Marxisten und Nicht-Marxisten weitverbreitete Diagnose eines seit den späten 1970er-Jahren intensivierten Prozesses der „Globalisierung“, in Kombination mit der US-amerikanischen „unilateralen Wende“ nach dem 11. September 2001, verdeutlicht die Unzulänglichkeit auf klassischer Souveränität und dem „Westfälischen System“ basierender Erklärungsversuche für die gegenwärtige Rekonfiguration des Nationalen und Internationalen/Globalen. In der Fülle konkurrierender Ansätze für und wider das Postulat des relativen Niedergangs des politisch autonomen Nationalstaats (für eine marxistische Kritik der gängigsten Globalisierungstheorien vgl. Rosenberg 2000) ist der Rekurs auf die marxistischen Klassiker der Imperialismusdebatte bezeichnend, so dass sich Neo-Kautskyaner Neo-Leninisten gegenübersehen, denen jedoch ein drittes, ganz eigenes Genre gegenübersteht: das des amerikanischen ‚Super-Imperialismus‘.

Eine der dominanteren Strömungen nimmt einen Übergang vom Nexus des National-Internationalen zum Globalen an, der zunächst als eine „Internationalisierung des Staates“ verstanden wird (Palloix 1977). Das neo-gramscianische Argument der Herausbildung einer „transnationalen Unternehmerklasse“, auf die Nationalstaaten mit einer transnationalen Koordinierung ihrer zwischen-staatlichen Interessen reagierten (Cox 1992; van der Pijl 1998), wird von William Robinson in seinem Konzept der „globalen Staatsformierung“ weiterentwickelt (Robinson 2002, 2004). Die ökonomische Globalisierung nach dem Ende des Bretton Woods Abkommens habe den Nationalstaat internationalen Institutionen untergeordnet, während nationale Bourgeoisien auf den Status regionaler Manifestationen einer transnationalen Bourgeoisie herabsänken. Zwischenstaatliche Rivalitäten rücken in den Hintergrund. „Die ökonomische Globalisierung hat ihren Gegenpart in der transnationalen Klassenformierung und dem Entstehen eines transnationalen Staates […], der ins Leben gerufen wurde, um als kollektive Autorität einer globalen herrschenden Klasse zu fungieren“ (Robinson 2002, S. 210). Dieses Motiv wird von Michael Hardt und Antonio Negri in ihrer Idee des „Empire“ radikalisiert. „Mit dem globalen Markt und globalen Produktionsabläufen entstand eine globale Ordnung, eine neue Logik und Struktur der Herrschaft – kurz, eine neue Form der Souveränität.“ Mit Michel Foucault’s entsubjektiviertem Machtbegriff wird das Empire begriffen als „dezentriert und deterritorialisierend, ein Herrschaftsapparat“, der „eine kapitalistische Ordnung im eigentlichen Sinn ermöglich[t]“ in der nicht einmal „die Vereinigten Staaten […] das Zentrum eines imperialistischen Projekts“ bilden (Hardt und Negri 2003, S. 9, 11, 24, 12; zur Kritik vgl. Balakrishnan 2003; Bromley 2003).

Dieser starken Globalisierungsthese unterliegt ein ökonomischer Funktionalismus, der, in eine teleologische Erzählung gegossen, unterstellt, dass die vormals territorial segmentierte inter-staatliche Struktur politischer Herrschaft nun neu skaliert werde, um die inhärent universalistischen Potenziale der Kapitalentfaltung zu komplementieren. Diese instrumentalistische Reduktion staatlicher Politik auf die Interessen transnationaler Eliten oder Klassenfraktionen (anstatt auf Kräfteverhältnisse zwischen Klassen) geht über die regionalen Spezifika der Artikulation von Staat und Klassenverhältnis und den daraus folgenden – oft in Konkurrenz stehenden – außenpolitischen Projekten hinweg. Eine den liberalen Ideen nahestehende Konzeption einer zwar nicht republikanisch-demokratischen, jedoch transnational-kapitalistischen ‚Zone des Friedens‘ zeichnet sich ab. Diese Konzeption wird mitunter auch mit Hinweis auf Karl Marx’s kosmopolitische Weltmarktsidee des „Kommunistischen Manifestes“ aus den 1840er-Jahren untermauert. Tatsächlich reproduzieren Disparitäten in den kapitalistischen zwischenstaatlichen Beziehungen jedoch kontinuierlich Widersprüche und Ausgleichstendenzen, die von der Idee eines totalisierenden „Empire“ oder „globalen Staates“ vernachlässigt werden. Eine kohärente Aggregation von Klasseninteressen und politischer Herrschaft auf globaler Ebene, die den institutionellen, exekutiven und legislativen Kapazitäten des Nationalstaates vergleichbar wäre, ist realhistorisch schlicht nicht zu erkennen. Insbesondere die direktive Rolle, bzw. das überwältigende organisierend-strukturierende Handlungspotenzial der USA ist in diesen Ansätzen unterbelichtet.

Im Gegensatz zur starken Globalisierungsthese läuft das kehrseitige Argument einer Persistenz des Staatensystems allerdings Gefahr, die Pluralität der Nationalstaaten mit einer Dauerhaftigkeit auszustatten, die den tatsächlichen Wandel politischer Territorialität und Souveränität unterschätzt. Ellen Wood schlägt vor, dass Globalisierung und Staatensystem in eine sich gegenseitig verstärkende Wechselbeziehung getreten seien, da die Kapitalakkumulation auf globaler Ebene eines gesicherten Systems separater Staaten für adäquaten Schutz und Überwachung der gesellschaftlichen Eigentumsverhältnisse bedürfe. „Die politische Form der Globalisierung ist nicht die eines globalen Staates, sondern eines globalen Systems multipler Staaten“ (Wood 2003, S. 6). Das US-amerikanische inter-staatliche Imperium ist, paradoxerweise (da nach wie vor ungeklärt bleibt, wie sich denn aus dem Kapitalbegriff die Herkunft und Existenz des Staatenpluriversums herleitet), das „Imperium des Kapitals“. Imperialistische Rivalitäten sind überwunden, da Zwang nur dann vonnöten ist, wenn kapitalistische Eigentumsverhältnisse und staatliche Strukturen in vor-kapitalistischen Regionen implantiert werden – oder wenn es die Überwachung Markt-erhaltender Institutionen in Regionen mit kapitalistischer Wirtschaft und Souveränität erfordert. In diesem Sinne ist die uni-laterale Wende der USA ein gegenstandsloser „surplus imperialism“ – also ein den Imperativen der globalen Kapitalakkumulation, dem „ökonomischen Imperialismus“, äußerlicher militärischer Exzess. Wir finden in dieser Argumentation einen der Weltsystemtheorie ähnlichen Funktionalismus wieder, in dem das Staatenpluriversum als Notwendigkeit der globalen Reproduktion des Kapitalismus erscheint. Eine multi-territorial fixierte Staatenordnung ist als adäquates geopolitisches Terrain Ausdruck kapitalistischer Entwicklung. Weder wird hier eine theoretische Ableitung noch eine historische Spezifizierung der Bedingungen angeboten, unter denen sich kapitalistische Klassenverhältnisse in der politischen Form multipler und konkurrierender Staaten entwickelten.

David Harvey wiederum schlägt eine Erklärung des neoliberalen „neuen Imperialismus“ aus dem überakkumulationsbedingten Profitratenfall und den Folgeproblemen der Kapitalakkumulation seit den 1960er-Jahren vor. Vor dem Beginn des langen Niedergangs hätten die USA ein hegemoniales Projekt verfolgt, das durch die internationale Ordnung von Bretton Woods darauf angelegt war „das Wirtschaftswachstum zwischen den fortgeschrittenen kapitalistischen Mächten zu koordinieren und in der restlichen nichtkommunistischen Welt für wirtschaftliche Entwicklung kapitalistischen Stils zu sorgen“ (Harvey 2005, S. 59). Konsens hätte Vorrang vor Zwang gehabt. Nach 1973 restrukturierte sich die US-Hegemonie um ein wesentlich aggressiveres Projekt der Neoliberalisierung, das zum Ende des Millenniums seinen Verlauf genommen habe und lediglich das Zwangselement als praktikables Element übrig ließ, um die Vorherrschaft der USA zu sichern – insbesondere durch direkte territoriale Kontrolle globaler Ölreserven. Imperialistische Rivalitäten würden so wieder möglich erscheinen. Anders als bei Lenin basiert dieser Ansatz theoretisch auf zwei distinkten, konkurrierenden und separaten Logiken: einer von staatlichen Eliten verfolgten „territorialen Logik der Macht“ und einer unternehmensbasierten transnationalen „kapitalistischen Logik der Macht“, die gegenseitig irreduzibel seien, sich jedoch auf verschiedenste Weise überschneiden könnten (Harvey 2005, S. 33–37; ähnlich auch Callinicos 2009). In Harveys Arbeiten finden sich jedoch zwei konfligierende Lesarten dieser „Logiken“. In der einen, an Hannah Arendts Imperialismusdefinition anschließenden, setzt die unbegrenzte Kapitalakkumulation funktional eine geografisch koextensive Sphäre direkter politisch-territorialer Kontrolle voraus, unter der Annahme einer Kompatibilität, wenn nicht Identität, der Interessen von Staat und Kapital. Die andere Lesart sieht für „Staatsmänner“ und Kapitalisten separate Logiken am Werk, die sich im Prinzip widersprechen können. Die Implikation der ersten Interpretation ist, dass sich ein Großteil der nicht-territorialen US-amerikanischen Außenpolitik der Nachkriegsperiode – im Sinne des ‚informal empire‘ – nicht erklären lässt; erst in der zweiten Lesart treten beide Logiken auseinander, müssen dann aber jeweils situationsspezifisch in Einklang gebracht werden, um zum Beispiel die Fiasken in Afghanistan und Irak überzeugend zu erklären. In jedem Falle ist die theoretische Zuschreibung einer generischen Rationalität politisch-territorialer (imperialistischer) Akkumulation an staatliche Eliten – aus der sich strukturell-latente inter-imperiale Rivalitäten ergeben – genauso historisch ungerechtfertigt und verallgemeinernd (und von einem unnötigen Rückfall in die „Wahrheiten“ des Realismus bedroht) wie die einer generischen Rationalität transnationaler Kapitalakkumulation an Kapitalisten.

Gegenüber diesen neo-leninistischen Ansätzen argumentieren Leo Panitch und Sam Gindin, dass die Geopolitik nach dem Ende des Kalten Krieges von einem informellen, spezifisch amerikanischen Imperium charakterisiert sei. Zwar hielten die USA formal an einem System pluraler Souveränitäten fest, hätten sich jedoch tatsächlich von einer Politik des Machtausgleichs verabschiedet und organisierten die Kapitalakkumulation jenseits imperialistischer Rivalitäten auf globaler Ebene (Panitch und Gindin 2003, 2012). Ähnlich weisen Peter Gowan (1999, 2006), Perry Anderson (2002, 2013), und Simon Bromley (2008) auch das neo-kautskyanische Argument zurück, die nationalen Interessen der USA nach dem Kalten Krieg könnten einfach mit denen des transnationalen Kapitals – d. h. einer Fusion von Kapitalisten aller Länder, die Vorboten eines universalen kapitalistischen Imperiums oder, alternativ, einer gütigen US-Hegemonie seien – gleichgesetzt werden. Gowan zufolge seien die USA ein „Hegemon sui generis“ (2006, S. 216), der unvergleichlich mächtiger als seine Vorgänger sei und eine ökonomische und politisch-militärische Stärke besäße (ein unipolares Zentrum, unangefochtene Vorherrschaft in den Beziehungen innerhalb des Zentrums, überwältigende Kapazitäten neue Regime zu formieren und Steuerungsmechanismen, um die Zyklen des hegemonialen Niedergangs zu brechen), die mit dem Vokabular von Hegemonie und „universalem kapitalistischen Imperium“ nicht mehr zu fassen seien, sondern stattdessen der Bezeichnung „Amerikanisches Weltimperium“ bedürfe. Gowan und Anderson streichen die neomerkantilistische Dimension der US-geführten globalen Restrukturierung heraus, die konsensuale Forderungen nach universaler Geltung mit einer durch Zwangsmittel gesicherten ökonomischen und strategischen nationalen Interessenpolitik verbinde. In diesem Szenario sind die USA zwar kein globaler Staat, haben aber das aus der interstaatlichen Anarchie erwachsende Koordinationsproblem zwischen multiplen kapitalistischen Machtzentren effektiv gelöst – nicht durch die Herstellung von Konsens, sondern durch schlichtes geopolitisches Gewicht. Der amerikanische „Exzeptionalismus“ geht dabei über die ursprüngliche Dichotomie zwischen Lenins imperialistischen Rivalitäten und Kautskys Ultraimperialismus hinaus.

Die gegenwärtige Debatte zum amerikanischen Neo-Imperialismus und kapitalistischer Krisentendenzen (Bieler und Morton 2018) hat zu einer produktiven Ausdifferenzierung des Spektrums theoretischer Ansätze innerhalb der marxistisch-inspirierten IB gefűhrt, bleibt allerdings generell auf einem Abstraktionsniveau, das dem der Grosstheorien innerhalb des IB mainstreams entspricht. Das Phänomen amerikanischer Macht und Aussenpolitik mag in einen allgemeinen Begriff der Logik des Kapitalismus, spezifischen kapitalistischen Krisentendenzen, post-hegemonialen inter-imperialen Rivalitäten oder einer neuen US-Hegemonie (wieder-)verankert werden. Solche tendenziell strukturalistischen Erklärungsmodelle müssten sich allerdings nicht nur der Historizität, sondern auch mehr der Spezifik des Nexus von gesellschaftlich und innenpolitisch kontroverser Aussenpolitikbildung im Kontext multipler konfligierender außenpolitischer Projekte öffnen, um den Objektivierungstendenzen von Strukturfunktionalismen zu entgehen. Denn Marx’s Diktum, Geschichte werde von Menschen gemacht, wenn auch nicht unter Bedingungen ihrer eigenen Wahl, bedarf eher einer handlungstheoretischen Neubewertung.

8 Fazit

Marx und Engels haben ein problematisches Erbe für eine Theoretisierung der internationalen Beziehungen hinterlassen, da die Bedeutung inter-räumlicher Beziehungen und Veränderungen der politischen Geografie für Prozesse gesellschaftlicher Reproduktion vernachlässigt wurden. Dieses „geopolitische Defizit“ stellt nach wie vor ein umfassendes Forschungsdesiderat dar. Insofern bedeutende Anstrengungen und Fortschritte gemacht wurden diese Leerstelle adäquat zu füllen, obliegt es dieser Tradition noch immer, ein theoretisches Bezugssystem zu entwickeln, das breit und offen genug ist, den historischen Nexus von gesellschaftlicher Reproduktion, Macht und inter-räumlichen Beziehungen zu erfassen, oder sich als historisch begrenzte Theorie einer spezifischen historischen Phase zu verstehen. Die zunehmende Anerkennung regional unterschiedlicher Entwicklungsverläufe, des Einflusses von Geopolitik und transnationalen Verhältnissen auf Binnendynamiken, und der komplexen Artikulationen von inneren und äußeren Verhältnissen hat nicht nur zu einer deutlichen Absage an teleologische Geschichtsphilosophien, sondern auch zu der Problematisierung ökonomischer Reduktionismen und strukturalistischer Determinismen geführt – Altlasten, die durch eine zunehmende Beachtung historischer Spezifika als Praxen geschichtlich situierter Akteure ersetzt werden. Die Herausforderung bleibt, ein Verständnis differenzieller Typen und Muster geopolitischer Konkurrenz oder Kooperation zu entwickeln, das weder dem Strukturfunktionalismus einer a-historischen und ent-soziologisierten „Logik der Anarchie“ oder dem einer ent-(geo-)politisierten „Logik des Kapitals“ anheim fällt. Dem sollte nicht nur eine Wendung zur Historizität und Spezifik geopolitischer Ordnungen, sondern auch eine methodologisch genauere Perspektive auf kontextualisiertes staatliches Handeln und Außenpolitik Bildung folgen. Als kritischer Theorie obliegt marxistisch-inspirierten Denken die Aufgabe, zu rekonzipieren, wie die gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen den historischen Verlauf politischer Gemeinschaften in ihren inneren und äußeren Eigenschaften geprägt haben; deren wandelbare Interaktionen und gegenseitige Durchdringungen zu rekonstruieren; und die volle Bandbreite sich daraus entwickelnder räumlicher Ordnungen zu spezifizieren (innerhalb und vor der kapitalistischen Epoche), um die variablen Verhältnisse zwischen innen- wie aussenpolitischer Herrschaft, Ausbeutung und Möglichkeiten des Widerstands zu problematisieren. Es ist ein Zeichen der andauernden Vitalität und Ambition der marxistischen Tradition, dass diese monumentale Forschungsagenda wieder – nach vier Dekaden globalen neo-liberalen Kahlschlags, drei Dekaden völkerrechtsbrechender westlicher Militärinterventionen, und mehr als einer Dekade globaler kapitalistischer Krisen – ins Zentrum kritischer Reflektionen in den IB rückt.