Vorwort zum Schwerpunkt - W.G. Sebald zum 80. Geburtstag : literaturkritik.de

Vorwort zum Schwerpunkt

W.G. Sebald zum 80. Geburtstag

Von Uwe SchütteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Uwe Schütte

Winfried Georg Sebald kam am „Christi Himmelfahrtstag / des Vierundvierzigerjahrs auf die Welt“, wie er in Nach der Natur erklärt, am 18. Mai 1944 also, weshalb er heuer seinen 80. Geburtstag erlebt hätte, wäre er nicht früh, allzu früh bereits im Dezember 2001 gestorben. In englischsprachigen Nachrufen wurde Sebald als Anwärter auf den Literaturnobelpreis gehandelt, bezeichnend dafür, dass man seine literarischen Texte in der Anglosphäre (wie weit darüber hinaus) zumeist begeistert aufnahm, während die Rezeption in Deutschland, zumal an den Universitäten, eher schleppend vor sich ging. Diese akademischen Berührungsängste hatten viel zu tun mit Sebalds querulantischem Naturell, das sich insbesondere in den polemischen Attacken zeigte, denen manch heilige Kuh der Germanistik – von Döblin bis Andersch samt der Gruppe 47 – zum Opfer fielen.

57 Jahre sind kein Alter zum Sterben, zumal sich Sebald zum Zeitpunkt seines Todes dank des immensen Erfolgs der englischen wie deutschen Fassung von Austerlitz auf der Höhe seines Weltruhms befand und auch ein privates Glück gefunden hatte. Ein kleiner Trost zumindest, dass ihm durch den frühen Tod einiges erspart geblieben ist. Sein ihm unangenehmer Aufstieg zum Kultautor etwa, dessen Anfänge er, genauso wie die einsetzende akademische Rezeption, mit gewissem Schrecken beobachtet hat. Die Art und Weise, in der die Literaturwissenschaft sich im Verlauf der letzten zwei Dekaden seines Werkes wie seiner Person bemächtigt hat, bleibt in mancherlei Hinsicht kritikwürdig, nämlich als teils zerrbildartige Zähmung eines Widerspenstigen.

Mit einem ins Tautologische führenden Eifer wurde ein begrenzter Kreis von Kernthemen (etwa Trauma, Holocaust, Melancholie, Intermedialität) anhand der immer selben Texte kommentiert. In letzter Zeit wandelte sich dies unter dem Vorzeichen des Anthropozän-Diskurses zum Besseren, der eigentliche Kern von Sebalds schriftstellerischem Projekt kam mehr und mehr zum Vorschein. Doch der große, insbesondere von der anglophonen Forschung angestoßene Sebald-Boom scheint vorerst vorüber. Dies weniger, weil langsam die Einsicht wächst, dass nach der zehnten Dissertation und dem hundertsten Aufsatz über Austerlitz nun wirklich alles darüber gesagt ist, als vielmehr weil das beständig sich drehende Karussell akademischen Interesses nunmehr insbesondere identitätspolitische und sexualidentitäre Fragestellungen in den Blick nimmt, zu denen wiederum Sebalds Literatur nichts zu sagen hat.

Im Umfeld dieses neuen Diskursparadigmas ist Sebald vielmehr zum Gegenstand einer Appropriationsdebatte geworden, die losgetreten wurde durch die Biografie, besser sollte man sagen: Hagiografie von Carole Angier, die 2021 unter dem Titel Speak, Silence: In Search of W.G. Sebald erschienen ist. Darin wartete sie mit zwei (vermeintlichen) Enthüllungen auf, zum einen der späten Liebesbeziehung Sebalds zu einer französischen Dermatologin, die er bereits als Jugendlicher kennengelernt hatte, und zum anderen dem Umstand, dass das Vorbild für die literarische Figur des Henry Selwyn aus dem Erzählungsband Die Ausgewanderten, entgegen einer Interview-Auskunft Sebalds gegenüber Angier, nicht jüdischer Migrationsherkunft war, sondern ein englischer Landarzt. Dies freilich war in der Forschung lange schon bekannt: Der belgische Germanist Jan Ceuppens hatte in seiner 2009 erschienenen Dissertation Vorbildhafte Trauer: W.G. Sebalds „Die Ausgewanderten“ und die Rhetorik der Restitution bereits den Namen des Arztes öffentlich gemacht.

Versuche, anlässlich der 2022 erfolgten Publikation der deutschen Fassung unter dem Titel W.G. Sebald. Nach der Stille. Biografie, diese Debatte auch in Deutschland anzuzetteln, blieben weitgehend erfolglos. Die eminenten Schwächen der Biografie, die ähnlich bereits in Angiers Büchern über Jean Rhys und insbesondere Primo Levi feststellbar waren – also die starke Tendenz zu Verklärung, Kitsch und Kolportage mit dem Ziel, ein vorgefertigtes Autorenbild zu bestätigen –, verfingen hierzulande weniger, während Interventionen wie die von Wolfgang Matz, der Sebald vor den Appropriationsvorwürfen in Schutz nahm, die Richtigstellung von Sachverhalten vornahmen, die inzwischen offenkundig nicht mehr selbstverständlich erscheinen.

Anlässlich des Jubiläums also möchte dieser Schwerpunkt dem Geburtstagskind, das mein Doktorvater war, einen bunten Strauß aus Beiträgen schnüren, an denen er wohl Freude empfunden hätte. Zunächst kommt er dabei selber zu Wort, nämlich in Form des letzten deutschsprachigen Interviews, das posthum im Dezember 2001 in der Süddeutschen Zeitung erschien. Das Gespräch zählt zu den wichtigsten Quellen poetologischer Selbstaussagen Sebalds. Ebenso expliziert er im Gespräch mit Uwe Pralle Kernpunkte seines geschichtsphilosophischen Denkens, wobei er etwa die Singularität des Holocausts bezweifelt oder sein deterministisches Konzept einer Naturgeschichte der Zerstörung durch ein ringförmiges Modell zu illustrieren sucht.

Präsentiert wird hier das Interview in einer durch Archivrecherchen erweiterten, mutmaßlich vollständigen Version. Das Originalband des im Sommer 2001 geführten Interviews ist verloren gegangen, eine Radioversion (in zwei unterschiedlichen Schnittfassungen) wurde vom Bayerischen Rundfunk am 18. November 2001 und am 29. Dezember 2002 ausgestrahlt und enthielt, wie auch eine anstaltsinterne Transkriptionsfassung und Audioausschnitte, die Pralle für ein im NDR ausgestrahltes Sebald-Feature verwandte, in der Druckfassung der Süddeutschen Zeitung fehlende Abschnitte, die von mir für die vorliegende Version ergänzt wurden.

Sebald besaß ein besonderes Faible für Autodidakten, Amateure, Außenseiter. Dass diese durch ihre exzentrische Perspektive mehr sehen als die approbierten Experten, gehörte zu seinen festen Überzeugungen. Bestätigt wird seine Haltung hier durch das Transkript einer Radiosendung, in der ein Außenseiter des Feuilletonbetriebs, der freie Journalist Uwe Pralle, Werk wie Person von Sebald in den Kontext eines europäischen Erinnerungsdiskurses einordnet. Die in der Reihe Kulturforum des NDR am 17. September 2002 ausgestrahlte Sendung umfasst neben Auszügen aus dem Interview mit Sebald auch Erinnerungen seines Verlegers Michael Krüger und Kommentare des Literaturkritikers Thomas Steinfeld, die in Pralles Radiosendung gerinnen zum Portrait eines europäischen Schriftstellers, der den Spuren einer Katastrophen-Geschichte nach-geht.

Eine dieser Katastrophen war der Luftkrieg der Alliierten gegen die deutschen Städte. Für den auf seinen Zürcher Vorlesungen zu Luftkrieg und Literatur beruhenden Essayband von 1999 ist Sebald viel gescholten worden, wenngleich zumeist zu Unrecht. In meinem Beitrag versuche ich gleichsam die Probe aufs Exempel zu machen, indem ich Sebalds Thesen über die defizitäre Darstellung des Alliierten Luftterrors auf die deutsche Zivilbevölkerung aus philatelistischer Perspektive auf den Prüfstand stelle. Briefmarken gelten nicht viel im akademischen Diskurs, obgleich so bedeutende Stichwortgeber wie Walter Benjamin oder Aby Warburg passionierte Philatelisten waren. Als massenhaft kursierende Bildmedien aber prägen sie (nicht viel anders als Literatur, wenngleich auf natürlich andere Weise), wie Erinnerungsdiskurse konstituiert (oder unterdrückt) werden. Das Ergebnis meiner philatelistischen Prüfung, wie kaum erstaunen dürfte, bestätigt Sebalds Thesen über die Exklusion des Luftkriegs aus der öffentlichen Wahrnehmung.

Knapp ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod, wir erwähnten es bereits, erlahmt der beträchtliche Eifer der akademischen Rezeption von Sebalds Werk allmählich. Doch selbst wenn es stiller wurde, sind in den letzten Jahren einige beachtenswerte Studien erschienen. Zu nennen wären etwa die einschlägigen Kapitel in David Anderson, Landscape and Subjectivity in the Work of Patrick Keiller, W.G. Sebald, and Iain Sinclair (Oxford University Press, 2020), mit gewissen Einschränkungen die französische Habilitation von Karine Winkelvoss, W.G. Sebald. Formen des Pathos (Fink, 2022) und ohne jeden Vorbehalt die Göttinger Dissertation von Lisa Kunze, Der Schamane mit der Feder. Ökologie und „Mitleidenschaft“ in W. G. Sebalds »Nach der Natur« (Wallstein, 2022).

Zwei umfangreiche Bände aus dem Jahr 2023 lieferten unlängst wichtige Fundamente für die weitere Beschäftigung mit Sebald. Den aktuellen Stand der Forschung zu reflektieren, um so insbesondere einem englischsprachigen Publikum den Bestand der nicht publizierten bzw. nicht übersetzten Texte Sebalds sowie der deutschsprachigen Sekundärliteratur zugänglich zu machen, hat sich mein Sammelband W.G. Sebald in Context (Cambridge University Press, 2023) vorgesetzt, in dem 38 konzise Essays aus der Feder deutscher wie internationaler Sebald-Experten neben Leben und Werk auch Themen und Einflüsse sowie Rezeption und Nachwirkung Sebalds beleuchten.

Gleichsam an Sebalds alma mater und universitärem Wirkungsort, der University of East Anglia (UEA), entstand der voluminöse, bereits länger erwartete Bildband Shadows of Reality: A Catalogue of W.G. Sebald’s Photographic Material (Boiler House Press, 2023). Herausgegeben von Clive Scott, einem Kollegen, Büronachbar und Freund von Sebald, und Nick Warr, dem Kurator der UEA Photographic Collection, versammelt der Katalog sämtliche fotografischen Bildquellen für Sebalds literarischen Werke. Das macht ihn zum unverzichtbaren Nachschlagewerk für jede kommende Beschäftigung mit der intermedialen Dimension von Sebalds Schreiben. Angus Sutherland, dessen exzellente Glasgower PhD thesis dem Stellenwert allegorischer Bilder und der Emblematik im Besonderen im Werk von Sebald auf erhellende Weise nachgeht, bespricht den Band für diesen Schwerpunkt.

Wie es weitergeht mit Sebald, bleibt abzuwarten. Zu hoffen wäre jedenfalls, dass sich die Forschung nun konsolidiert, um mit anderen, neuen, am besten neugierigen Augen auf sein Werk zu blicken. Die offenkundige Leerstelle in der Beschäftigung mit Sebald bleiben die an entlegener Stelle erschienenen bzw. unveröffentlichten Texte aller Art, die im Deutschen Literaturarchiv einer Erforschung harren. Deren Exhumierung gilt mein aktuelles Interesse. Die Ergebnisse hoffe ich demnächst vorlegen zu können.