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Berlin, 14. Mai 2024. - Die Migrations- und Integrationspolitik war in den letzten Jahren hochdynamisch. Der steigende Bedarf an ausländischen Arbeitskräften führte einerseits zu einer weiteren Öffnung des Einwanderungslandes Deutschland; auch für abgelehnte Asylbewerberinnen und -bewerber wurden Möglichkeiten des sog. Spurwechsels ausgebaut. Nach der verstärkten Fluchtzuwanderung seit 2022 wurden andererseits im asylpolitischen Bereich in Deutschland und der Europäischen Union (EU) restriktivere Maßnahmen ergriffen. Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) analysiert in seinem Jahresgutachten die Entwicklungen und zeigt auf, wo es weiteren Handlungsbedarf gibt.

„Ziehen wir eine Bilanz der Migrations- und Integrationspolitik der letzten fünf Jahre, zeigt sich insgesamt eine Mischung von Kontinuität und Wandel. Dabei wurde an verschiedenen Stellschrauben gedreht: Wir sehen in manchen Bereichen eine substanzielle Öffnung, in anderen dagegen eher Versuche, durch Restriktionen stärker zu steuern“, erläutert Prof. Dr. Hans Vorländer, Vorsitzender des SVR. Die Herausforderungen waren groß: Aufgrund der Corona-Pandemie war die Mobilität zunächst erheblich einschränkt. Seit 2022 änderte sich dies wieder. Insbesondere die Zahl ankommender Schutzsuchender stieg an. Der russische Angriff auf die Ukraine löste schließlich in Europa die größte Fluchtbewegung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus. Über vier Millionen ukrainische Flüchtlinge haben seitdem Schutz in der EU gefunden, mehr als ein Viertel von ihnen wurde in Deutschland aufgenommen.

Europäische Flüchtlings- und Asylpolitik: Auf die Umsetzung kommt es an

„Die EU hat bei der Aufnahme der ukrainischen Kriegsflüchtlinge, die einen kollektiven Schutzstatus erhalten haben, schnell und umsichtig reagiert und in einer schwierigen Situation Handlungsfähigkeit bewiesen. Doch auch im Bereich des individuellen Asyls ist die Koordination auf europäischer Ebene maßgeblich für eine nachhaltige Steuerung der Fluchtzuwanderung“, sagt Prof. Vorländer. Der SVR begrüßt deshalb grundsätzlich die Einigung auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Die anhaltend hohe Fluchtzuwanderung nach Europa, die Zunahme von Menschenrechtsverletzungen etwa durch illegale Pushbacks an der EU-Außengrenze, aber auch die fehlende Lasten- und Verantwortungsteilung im bisherigen GEAS machten eine Reform dringend nötig. Der neue Solidaritätsmechanismus ist deshalb ein Fortschritt – vorausgesetzt, die Mitgliedstaaten beteiligen sich daran wie vereinbart. „Maßgeblich für das Gelingen der Reform ist, dass bei der Umsetzung die menschen- und flüchtlingsrechtlichen Standards gewahrt bleiben. Das gilt besonders für die neu vereinbarten beschleunigten Grenzverfahren für bestimmte Gruppen: Schutzsuchende müssen dort jederzeit Zugang zu unabhängiger Rechtsberatung haben und menschenwürdig untergebracht werden. Dafür tragen die EU-Mitgliedstaaten gemeinsam Verantwortung“, mahnt der SVR-Vorsitzende.

Fluchtmigration nach Deutschland: Balance zwischen Rückkehr und Integration  

Mit der steigenden Zahl Schutzsuchender und der daraus entstandenen zunehmenden Belastung vor allem für Kommunen ist die öffentliche Debatte schärfer geworden und der politische Handlungsdruck gestiegen – auch in Deutschland. Vor diesem Hintergrund wurden Leistungen für Asylsuchende umgestellt und Maßnahmen ergriffen, um Rückführungen zu erleichtern. „Dass dadurch Fluchtzuwanderung deutlich abnimmt, sollte man nicht erwarten – und entsprechende Erwartungen nicht schüren. Zugleich gehört zu einer nachhaltigen Migrationsstrategie immer auch eine durchsetzungsfähige Rückkehrpolitik. Abschiebungen sollten dabei als Ultima Ratio gelten. Wichtiger sind wirkungsvolle Migrationsabkommen, die auch die Interessen der Herkunftsländer berücksichtigen, denn Rückführungen scheitern oft an ihrer Mitwirkung. Rücknahmeverpflichtungen würden dann etwa mit Erleichterungen für Arbeitsvisa einhergehen“, erläutert Prof. Vorländer.

Dass die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen oftmals zu Engpässen geführt hat, liegt auch an grundsätzlichen Infrastrukturproblemen. „Wir sehen es in vielen Bereichen – auf dem Wohnungsmarkt, im Bildungssektor, beim Zugang zu Verwaltungsdiensten: Zuwanderung verursacht die strukturellen Probleme in der Regel nicht, sie macht sie aber sichtbar“, sagt Prof. Dr. Birgit Leyendecker, Stellvertretende Vorsitzende des SVR. Die Regelsysteme müssen deshalb gestärkt und allgemeine Rahmenbedingungen so angepasst werden, dass auch Neuzugewanderte sich frühzeitig integrieren können. „Die Wohnsitzauflage hat Integration eher behindert. Statt die Niederlassungsfreiheit zu beschränken, wäre es sinnvoller, die Kompetenzen und Bedürfnisse von Schutzsuchenden und Aufnahmegemeinden bei der Verteilung stärker zu berücksichtigen“, erläutert Prof. Leyendecker, und hebt hervor: „Im Bildungsbereich muss die Aufmerksamkeit vor allem den neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen gelten. Ihr Abschneiden gibt uns Anlass zur Sorge.“

Einwanderungsland Deutschland: Arbeitsmarkt weiter geöffnet, Einbürgerung erleichtert

Dass Deutschland auf Zuwanderung angewiesen ist, zeigen die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt ganz deutlich. Mit dem Gesetz und einer Verordnung zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung hat sich die Bundesregierung von dem Grundsatz verabschiedet, dass im Ausland erworbene Qualifikationen zwingend gleichwertig zu deutschen Ausbildungsstandards sein müssen. Auch haben Arbeitskräfte ohne Formalqualifikation inzwischen mehr Möglichkeiten, nach Deutschland zu kommen. „Diese Öffnung ist vor dem Hintergrund des demografischen Wandels wichtig. Die neuen Regelungen dürfen aber nicht zu Lasten des Arbeitnehmerschutzes gehen – das gilt vor allem für den Niedriglohnsektor. Gleichzeitig sind sie sehr komplex. Bei chronisch überlasteten Behörden könnte das die Gewinnung ausländischer Fachkräfte erschweren“, sagt der SVR-Vorsitzende Prof. Vorländer.

Die 2024 beschlossene Reform des Staatsangehörigkeitsrechts erleichtert die Einbürgerung deutlich: „Mit der grundsätzlichen Hinnahme von Mehrstaatigkeit wird eine wesentliche Einbürgerungshürde abgebaut – die Reform hat dadurch das Potenzial, Einbürgerungszahlen nachhaltig zu erhöhen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Behörden mit der Umsetzung Schritt halten können“, so Prof. Vorländer. Weil viele der zuständigen Behörden jetzt schon überlastet sind, empfiehlt der SVR den Ländern, die Einbürgerungsbehörden personell angemessen auszustatten, eine stärkere Zentralisierung zu prüfen und Behördenvorgänge zu digitalisieren. „Dass für Staatenlose keine Regelung gefunden wurde, ist aus Sicht des SVR eine verpasste Chance. Auch empfehlen wir, weiterhin zu prüfen, wie die Nachteile einer unlimitierten Weitergabe der deutschen Staatsbürgerschaft über Generationen hinweg vermieden werden können“, so der SVR-Vorsitzende.

Praktische Umsetzung: Bürokratie abbauen, Recht verständlicher formulieren

Der Bereich Migration und Integration gehörte in den vergangenen fünf Jahren zu den dynamischsten Politikfeldern überhaupt. Hier wurden viele Veränderungen auf den Weg gebracht. „Wir sehen aber Probleme in der Umsetzung von Gesetzen. Über Jahre hinweg wurde zu wenig in die Verwaltung investiert. Die Technik ist veraltet, Arbeitsabläufe sind überreguliert, es fehlt an Personal und es gibt wenig Kooperation zwischen den Behörden. Das ist ein übergeordnetes Problem, das sich auf alle negativ auswirkt“, sagt Prof. Vorländer.

Zudem werde die Rechtslage immer unübersichtlicher. „Das deutsche Migrationsrecht ist mittlerweile so kompliziert, dass nur noch wenige es verstehen. Das ist etwa im Bereich der Anwerbung von Arbeits- und Fachkräften ein Wettbewerbsnachteil. Wenn Deutschland Migration effektiv steuern und Integration nachhaltig gestalten will, braucht es mehr Mut zur Vereinfachung“, so der SVR-Vorsitzende.

Das SVR-Jahresgutachten 2024, ein Faktenpapier sowie weitere Informationen können Sie unter diesem Link herunterladen: https://www.svr-migration.de/publikationen/jahresgutachten/2024

Über den Sachverständigenrat

Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Hans Vorländer (Vorsitzender), Prof. Dr. Birgit Leyendecker (Stellvertretende Vorsitzende), Prof. Dr. Havva Engin, Prof. Dr. Birgit Glorius, Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Winfried Kluth, Prof. Dr. Matthias Koenig, Prof. Sandra Lavenex, Ph.D., Prof. Panu Poutvaara, Ph.D.

Webseite: www.svr-migration.de