Es war nur eine Frage der Zeit, bis Kerzenlicht und Bargeld in die Bars in Kiew zurückkehren und sich das laute Geräusch der Stromgeneratoren wieder unter den Straßenlärm mischen würden. Nach den gezielten russischen Angriffen auf die Energieinfrastruktur und die Wärmekraftwerke in den vergangenen Wochen ist die Versorgungsknappheit enorm – vor wenigen Tagen wurden deshalb erneut geplante Stromabschaltungen eingeführt, die bis August andauern könnten. Für manche ist das aber bloß ein sehr optimistisches Szenario, denn schon jetzt graut den Menschen beim Gedanken an die Situation im bevorstehenden Winter.

Seit einigen Wochen machen russische Angriffe auf die ukrainischen Kraftwerke nächtliche Stromabschaltungen auch in Kiew nötig.
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Als negativ beschreiben Beobachtende die Stimmung in der Ukraine nach mehr als zwei Jahren im Krieg – mit Luftangriffen, Ausgangssperren, Stromausfällen und eingeschränkten Möglichkeiten. Und während es nach Beginn der Invasion eine nie dagewesene Einigkeit gegeben hatte, werden jetzt langsam Risse in der Gesellschaft sichtbar, sagen Soziologen wie Lubomir Mysiw, stellvertretender Direktor der angesehenen Forschungsgruppe Rating.

Wenig Schlaf

An einem Mittwochvormittag im Mai öffnet Mysiw die Tür zu seinem Büro in einem schroffen Wohnblock im Zentrum von Kiew. Noch auf dem Weg ins Besprechungszimmer erklärt er, dass er wegen der erneuten nächtlichen Raketenangriffe wenig geschlafen habe. Wieder einmal habe er stundenlang im Flur gesessen, bis der Alarm vorbei war.

Jeder Ukrainer und jede Ukrainerin spürt den Krieg. Allerdings, so Mysiw, auf unterschiedliche Art. Das sei der Hauptgrund für die von ihm beobachtete zunehmende Spaltung der Gesellschaft: "Es macht einen großen Unterschied, ob Sie Binnenvertriebener sind oder in der Westukraine leben. Ob Sie bei den Streitkräften sind, freiwilliger Helfer – oder einfach in Ihrer Stadt leben. Ob Sie ins Ausland abgewandert oder in der Ukraine geblieben sind."

Überall in der ukrainischen Hauptstadt wird man an den Krieg erinnert.
EPA/SERGEY DOLZHENKO

Mysiw sagt, dass die Stimmung eigentlich schon im vergangenen Jahr gekippt ist. Nach den ausbleibenden militärischen Erfolgen, den Skandalen in der Regierung, der Absetzung von Armeechef Walerij Saluschnyj und der zögerlichen Haltung der westlichen Partnerländer, den vielen Debatten über Hilfs- und Waffenlieferungen. Trotzdem sei die Resilienz in der Gesellschaft noch immer auf einem hohen Niveau, weil die Menschen keine andere Wahl hätten. "Wenn Sie nach dem Sieg der Ukraine fragen, dann fragen Sie nach einer Hoffnung", sagt der Soziologe. "Hoffnung ist unsere Lebensgrundlage. Ohne sie werden wir alles verlieren."

Gen Z betroffen

Das Thema, das derzeit am meisten polarisiert, ist die Mobilisierung, denn die Armee braucht dringend Soldaten. Wie viele genau, ist unklar. Im Dezember sprach Präsident Selenskyj von 450.000 bis 500.000 Menschen; der neue Armeechef Oleksandr Syrskyj hat diese Zahl inzwischen nach unten korrigiert, ohne konkrete Angaben zu machen. Mit diesem Wochenende tritt ein neues Mobilisierungsgesetz in Kraft, unter anderem wird das Einberufungsalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt und betrifft nun zum ersten Mal auch direkt die Generation Z. Doch zwischen den Altersgruppen zeigen sich große Unterschiede, sagt Mysiw. Während mehr als die Hälfte der Befragten über 60 zuletzt im Rahmen einer Befragung angaben, dass noch immer zu wenig mobilisiert wird, waren es bei den 18- bis 29-Jährigen lediglich 60 Prozent.

Theo (Name von der Redaktion geändert) spricht angesichts der Lage von einer großen Frustration. Sein Leben sei im Stand-by-Modus – was er sich fast nicht zu sagen traue, denn es gebe immer jemanden, dem es noch schlechter geht: jemanden, der seine Verwandten verloren hat, sein Haus – oder im Schützengraben kämpft. "Ich schäme mich dafür, dass ich nicht an der Front bin, sondern hier Kaffee trinke. Das ist nicht richtig."

Antony Blinken rockte in Kiew für eine "freie Welt".
AP/Brendan Smialowski

Doch in einigen Wochen wird Theo 25 Jahre alt, und er könnte mobilisiert werden. "Ich habe Angst, getötet zu werden", sagt er. Allein steht er damit nicht da, doch es gibt keine Statistik dazu, wie viele Männer in der Ukraine nicht kämpfen wollen. Jene, die bereit waren, sich freiwillig zu melden, haben dies schon im ersten Kriegsjahr getan.

Rockin’ in the Free World

Im dritten Jahr nach Beginn der russischen Invasion befindet sich die Ukraine in der Defensive. Zwar stattete US-Außenminister Antony Blinken dem Land vor kurzem einen Solidaritätsbesuch ab und lieferte am Abend in einer Bar in Kiew auch noch eine musikalische Live-Performance des Songs Rockin’ in the Free World von Neil Young. Doch dafür erntete er nicht nur positive Reaktionen, schließlich führen Militärexperten die aktuellen russischen Erfolge in Charkiw auch auf die Verzögerung bei den Waffenlieferungen aus dem Westen zurück.

"In den letzten zwei Jahren und auch jetzt sehen wir einen wachsenden Pessimismus in der Gesellschaft", sagt etwa Anton Gruschetskij, der stellvertretende Direktor des Internationalen Instituts für Soziologie in Kiew (KIIS). "Aber angesichts der Probleme in den letzten Monaten, vor allem mit der westlichen Hilfe, ist dieser Pessimismus nicht so stark gewachsen, wie er hätte wachsen können." Vom anfänglichen Optimismus, oder Geplauder über einen baldigen Sommerurlaub auf der Krim, ist derweil nicht viel übrig geblieben. Das hat auch damit zu tun, dass sich mittlerweile viele Bewohner in einer schwierigen finanziellen Situation befinden.

Im ersten Jahr des Krieges habe er sich kaum Gedanken gemacht um seine eigenen Probleme, seine Finanzen, seine Zukunft, sagt Theo. "Ich dachte, dass ich mein Geld ausgeben kann, weil ich am nächsten Tag sowieso getötet werden kann." Doch langsam stelle er sich Fragen, auf die es keine richtigen Antworten gebe. Wie viel Recht jeder Einzelne auf sein eigenes Glück und seine Selbstverwirklichung hat etwa, während die russischen Angriffe weitergehen – auch im dritten Frühling im Krieg. (Daniela Prugger aus Kiew, 18.5.2024)