Die Präsenz des Vergangenen | Evangelische Zeitung

Die Präsenz des Vergangenen

Tagelang wanderte Dirk Reinartz mit seinem Kollegen Wolfram Runkel von Stockwerk zu Stockwerk die Treppen eines Hochhauses hinauf. Wie „Wohngebirge-Bergsteiger“ waren die beiden Reporter unterwegs, um hinter die Fassade einer Hochhaussiedlung in Hamburg zu blicken. Das Leben der Menschen, die auf engstem Raum zusammenleben und sich dennoch fremd bleiben, hält Reinartz in einer Fotoserie fest: Trostlose Treppenhäuser oder Türen, die offenbar gerade vor der Nase des Besuchers zugeschlagen werden.

Deutschland und die Deutschen waren zentrales Thema im Werk von Dirk Reinartz (1947-2004), der unter anderem für Zeitschriften wie „Stern“, „Der Spiegel“ und „art“ sowie für „Die Zeit“ und die „Süddeutsche Zeitung“ arbeitete. Außerdem veröffentlichte er zahlreiche Fotobücher. Das LVR-Landesmuseum widmet dem in Aachen geborenen Fotografen nun erstmals eine breit angelegte Retrospektive. Aus Sicht von Museumsdirektor Thorsten Valk war das überfällig. Obwohl Reinartz zu den prägenden Reportagefotografen der Bundesrepublik gehört habe, sei er doch von der breiten Öffentlichkeit nicht so wahrgenommen worden. „Das möchten wir mit dieser Retrospektive ändern“, kündigt Valk an.

Die Ausstellung „Dirk Reinartz. Fotografieren, was ist“ präsentiert bis zum 15. September rund 350 Arbeiten von den Anfängen des Fotografen bis zu seinem frühen Tod. Es handelt sich um eine Auswahl aus einer Fülle von insgesamt etwa 370.000 Negativen, rund 100.000 Dias sowie mehr als 10.000 Abzügen. Das umfangreiche Werk des Fotografen konnte erstmals zu einer Überblicksschau zusammengestellt werden, weil sein Nachlass vor drei Jahren an die Deutsche Fotothek Dresden und die Stiftung F.C. Gundlach in Hamburg ging. Dort wird er nun wissenschaftlich aufgearbeitet.

Dabei stießen die Experten auch auf ein unvollendetes Buch-Projekt mit frühen Fotografien aus den USA. Die Bilder im Stil der New Color Photography zeigten, dass Reinartz in den 1970er Jahren am Puls der Zeit gewesen sei, beobachtet der Leiter der Deutschen Fotothek, Jens Bove. Die farbigen Fotografien der Serie „Action Theatre“, die skurrile Situationen in der Weite US-amerikanischer Landschaften und Städte zeigen, sind in der Ausstellung als hell erleuchtete, großformatige Dias zu sehen.

Die Schau empfängt das Publikum aber zunächst mit einer Vorstellung des Fotografen. Sein Lebenslauf in Fotos und Dias bedeckt eine gesamte Wand. Dazu seine deutlich abgegriffene Nikon-Spiegelreflexkamera. Zu sehen ist auch ein von Reinartz selbst gestalteter Diavortrag über sein Werk, mit dem er sich an der Muthesius Kunsthochschule Kiel bewarb, wo er ab 1998 lehrte.

Reinartz sei ein Fotograf mit Haltung gewesen, der auch immer wieder berufliche Risiken einging, sagt Franziska Mecklenburg, Kuratorin der Stiftung F.C. Gundlach. Nach einer Fotografen-Ausbildung in Aachen studierte er an der Folkwangschule in Essen, beendete das Studium jedoch nicht, um als Fotograf bei der Zeitschrift „Stern“ einsteigen zu können.

Die Arbeit für das Magazin führte ihn auf verschiedene Kontinente. Er fotografierte in Japan, den USA oder dokumentierte den Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland. Doch schon 1974 habe er begonnen, an der Arbeit als Magazin-Fotograf zu zweifeln, sagt Mecklenburg. Bei einer Reportage über die Überbevölkerung in Indonesien sei ihm deutlich geworden, dass er die Problematik in einer ihm fremden Kultur nicht in wenigen Tagen durchdringen könne. „Er wollte die Dinge von Grund auf verstehen“, sagt Mecklenburg. 1977 kündigte er deshalb seine feste Stelle beim „Stern“ und schloss sich der selbstverwalteten Fotografen-Agentur Visum an.

Reinartz widmete sich fortan vor allem der „Ethnografie des Eigenen“, der deutschen Identität, Gegenwart und Geschichte. International bekannt wurde er durch seinen Band „totenstill“ (1994), der die architektonischen Relikte früherer Konzentrationslager in den Blick nimmt. Die Schwarz-Weiß-Fotos zeigen verlassene Baracken, die Stacheldrahtzäune und Gitter um die früheren Lager sowie die Brachen, die die Gelände bis heute umgeben. Der Fotoband erschien auch in englischer und japanischer Übersetzung in hoher Auflage.

„Reinartz hat sich immer wieder mit der Präsenz des Vergangenen im Gegenwärtigen beschäftigt“, erklärt Valk. So etwa auch in seinem Fotobuch „Bismarck. Vom Verrat der Denkmäler“ (1991), in dem er den vergangenen Kult um den früheren Reichskanzler hinterfragt, der durch Denkmäler in zahlreichen westdeutschen Städten fortlebt. Zu sehen sind Bismarck-Denkmäler, die sich oftmals nicht mehr richtig in die Gegenwart einzufügen scheinen. Sie stehen an trostlosen Straßenecken oder werden von Stromleitungen und Schnellstraßen eingerahmt.

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands beschäftigte sich Reinartz mit dem Vergleich Ost-West. So untersuchte er etwa Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Abiturjahrgangs 1992 in Wittenberge und Hagen. 1996 fotografierte er in der Stasi-Unterlagen-Behörde Regalkilometer von Akten oder in Einmachgläsern aufbewahrte Reste von Aktendeckeln.

Ein Abschnitt der Ausstellung widmet sich Reinartz‘ Freundschaft mit Richard Serra. Reinartz fotografierte für das Magazin „art“ zahlreiche Künstler und lernte den US-Bildhauer bei dieser Arbeit kennen. Seit 1983 begleitete er den Ende März gestorbenen Künstler bei seiner Arbeit und dokumentierte dessen raumgreifende Skulpturen. Die Ausstellung zeigt eine Dia-Serie der 252 Meter langen Skulptur „Te Tuhirangi Contour“, die auf dem Gelände einer neuseeländischen Privatsammlung steht.