Mit Gerede und Gerüchten müssen viele Menschen leben, die im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen. Von manchen perlt praktisch alles ab, ohne sie zu beeinträchtigen, selbst beweisbare Vorwürfe; anderen dagegen wird der gute Ruf nachhaltig ruiniert. Zur zweiten Gruppe gehörte und gehört ohne Zweifel Henri Deterding.
Der Mitbegründer und langjährige Chef des Shell-Konzerns galt auf dem Höhepunkt seines Lebens in den 1920er-Jahren als der „Napoleon des Ölgeschäfts“, gar als der „mächtigste Mann der Welt“. Trotzdem ist er heute so gut wie vergessen, und zwar in allen drei Ländern, in denen er längere Zeit lebte – weder sein Geburtsland Niederlande noch Großbritannien und auch nicht die Schweiz wollen etwas von Deterding wissen.
„Keine Straat in Amsterdam, kein Square in London, keine Plakette an einem Chalet in St. Moritz erinnern an den ,Staatenlosen’“, schreibt der Historiker und Journalist Jochen Thies, der jetzt die erste seriöse Biografie über den Konzernlenker veröffentlicht hat („Macht und Ohnmacht. Die Lebensgeschichte des Royal Dutch/Shell-Begründers Sir Henri Deterding“. Edition Olzog / Lau-Verlag. 312 S., 28 Euro). Warum ist das so? Die Antwort hat viel mit dem Unwillen zu tun, von längst widerlegten Lügen abzulassen.
Wer in Pressearchiven nach Henri Deterding sucht, findet Beschreibungen wie „enthusiastischer Kartellkonstrukteur“ (so 1998 die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“) oder „knochenhart“ (1976 im „Spiegel“); WELT nannte ihn 1974 wenig zuvorkommend „weibstoll“ und einen „Anbeter barocker Damen“. Noch wichtiger aber ist zweifellos sein ungeklärtes Verhältnis zu Hitler und der NSDAP. Dabei lässt es sich klären, sagt Jochen Thies, der promovierter Historiker ist, für Bundeskanzler Helmut Schmidt Reden schrieb und anschließend Karriere als Journalist machte.
Nach der gängigen und heute via Wikipedia, auf zahllosen Websites im Netz sowie vielen gedruckten Publikationen verbreiteten Darstellung soll Deterding schon seit 1921 die NSDAP mit hohen Summen unterstützt haben. Das jedenfalls behauptete 1938 ein ansonsten unbekannter Autor mit Namen Glyn Roberts. Doch kann das stimmen?
Im Jahr der angeblich ersten Unterstützung war Hitler der außerhalb Oberbayerns fast unbekannte Anführer einer winzigen Splitterpartei. Deterding dagegen hatte kurz zuvor vom britischen König die Würde eines „Knight Commander of the Most Excellent Order of the British Empire“ erhalten, verbunden mit der Erhebung in den persönlichen, nicht vererbbaren Adelsstand – und zwar für seine Leistungen um die Ölversorgung der Entente-Mächte im Weltkrieg 1914 bis 1918. Die angebliche Unterstützung Hitlers von 1921 an kann man getrost als schlechte Erfindung ignorieren.
Im Sommer 1928 kamen ähnliche Gerüchte wieder auf – die SPD-Zeitung „Münchener Post“, die gern mal Spekulationen aus trüben Quellen abdruckte, veröffentlichte am 27. Juli unter der Überschrift „Nationalsozialistische Geständnisse“ einen Brief, in dem es hieß: „Hitler kriegt Geld von Deterding (Shell-Compagnie; das ist vertraulich, nur für Sie). Jedenfalls ist Hitler dadurch außenpolitisch prowestlich festgelegt, was ja auch aus seinen Äußerungen vor der Öffentlichkeit hervorgeht.“
Umgehend widersprach der NSDAP-Chef: „Ich stelle fest, dass ich niemals von Deterding, noch vom Shell-Konzern, noch von der Royal-Dutch-Gesellschaft, noch von irgendeiner Seite, durch die ich außenpolitisch oder innenpolitisch festgelegt worden wäre, Geld erhielt.“ Das musste natürlich nicht stimmen, nur weil Hitler es behauptete, Aber tatsächlich hat die historische Forschung seither dafür nicht auch nur das geringste Indiz finden können, ebenso wenig seinerzeit die Polizei.
Gleichfalls unbelegt blieben Spekulationen, Deterding habe nach dem erdrutschartigen Erfolg der NSDAP bei den vorgezogenen Reichstagswahlen im September 1930 der SA einen Millionenbetrag zur Verfügung gestellt, um sie organisatorisch unabhängig von der NSDAP zu machen. In Wirklichkeit nämlich tat Hitler gerade 1930/31 alles, um die Braunhemden enger an sich und die Partei zu binden: Er trat zunächst selbst an die Stelle des bisherigen SA-Chefs Franz Pfeffer von Salomon und gewann anschließend Ernst Röhm, seinen alten Gefährten aus Münchener Putsch-Tagen 1923, als künftigen Stabschef.
Einen (kleinen) wahren Kern jedoch hatten die Gerüchte um eine Zusammenarbeit zwischen Shell und NSDAP. Denn Hitler und Deterding gemeinsam war die totale Ablehnung des Bolschewismus – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven: Der NSDAP- „Führer“ kompensierte mit seinem pathologischen Juden- und Kommunistenhass offensichtlich seine eigene Verstrickung in die kurzlebige Münchener Räterepublik, während Deterdings Wut getrieben war von der Verstaatlichung der Ölfelder um Baku 1920, durch die seine Royal Dutch Shell nicht nur ein „Drittel der Gesamtproduktion an Öl“ verloren hatte, wie Thies zeigt, sondern zusätzlich die gewaltige Summe von mehr als acht Millionen Pfund investiertem Kapital in russischen Unternehmen.
„1932 begann Royal Dutch Shell damit, großformatige Anzeigen für Benzin und Motorenöle im ,Völkischen Beobachter’ zu platzieren“, schreibt Jochen Thies. Das war eine indirekte Unterstützung der Hitler-Partei, was allerdings andere in Deutschland aktive Öl-Konzerne gleichfalls taten. Als es Proteste gegen die Werbung für ein ausländisches Unternehmen gab, bügelte der Verlagschef der NSDAP Max Amann die Kritik ab: „Die Shell-Anzeigen nehmen wir deshalb auf, weil auch wir Nationalsozialisten nicht mit Wasser fahren können.“
Im März 1933 bat der Shell-Chef um einen Termin beim neuen Reichskanzler, was abgelehnt wurde – vielleicht auch, weil am 18. März eine eindeutige Empfehlung den Weg in die Akten der Reichskanzlei fand: „Es wird dringend davor zu warnen sein, sich mit D. allzu nah einzulassen.“ Als Gründe führte die Notiz an, dass Deterding „in Wirklichkeit keine anderen Interessen“ kenne „als die seines Geldbeutels“ und sein „geschäftlicher Umgang (...) fast ausschließlich jüdisch“ sei.
So kam es erst im Juli 1934 zu einem persönlichen Treffen des Öl-Unternehmers mit Hitler. Doch allzu viel Eindruck hinterließ der Termin beim deutschen Diktator offenbar nicht, denn noch im selben Jahr übernahm der Staat die Berliner Shell-Zentrale am Landwehrkanal als Sitz für die Marine-Leitung. Zu weiteren Treffen kam es nicht mehr.
Dafür hielt Joseph Goebbels Anfang 1937 fest, dass Deterding für das „Winterhilfswerk“, eine Art Sozialwerk der NSDAP, „40 Millionen gespendet“ habe, den mit Abstand größten Betrag in diesem Jahr. Offenbar wollte sich der zu dieser Zeit fast 71-jährige Unternehmer Sympathie erkaufen – immerhin lebte er seit seinem Abschied als Shell-Chef im Vorjahr seiner dritten Frau Charlotte Mina zuliebe vorwiegend auf dem eigens erworbenen Schloss Dobbin in Mecklenburg.
Zur Beisetzung von Henri Deterding nach seinem überraschenden Tod in St. Moritz Anfang Februar 1939 im Park von Dobbin schickte Hitler einen Kranz – zwar ein Zeichen der Anteilnahme, aber nicht gerade Beweis einer engen Beziehung. An seiner Stelle kam der Leiter des „Winterhilfswerks“: auch nicht gerade ein allzu hochrangiger Vertreter im Dritten Reich. In den lobenden Nachrufen, die in der gelenkten deutschen Presse erschienen, war von finanziellen Zuwendungen vor 1936 keine Rede.
Jochen Thies holt den „Wanderer zwischen den Welten“ Henri Deterding aus dem Nebel der Gerüchte. Das macht den langjährigen Konzernherrn zwar nicht unbedingt sympathischer. Aber es eröffnet einen realistischen Blick auf ein Leben, das allerhöchste Gipfel erreichte – und dann im Abseits endete.