In den Jahren, die in Geschichtsbüchern vor allem mit der Aufzählung der Schlachten im Zweiten Weltkrieg oder Verweisen auf den furchtbaren Holocaust gefüllt sind und von vielen Millionen Menschen berichten, die dabei unter oftmals fürchterlichen Qualen zu Tode gekommen sind, in diesen Jahren also, in denen die amerikanische Regierung Physikern unter militärischem Oberbefehl den Auftrag gegeben hatte, die im Winter 1938 in Berlin erstmals nachgewiesene Spaltung von Atomkernen mit der dazugehörigen Freisetzung von ungeheuren Energiemengen in Form einer Nuklearwaffe militärisch nutzbar zu machen, womit man das Manhattan Project mit explosivem Ende von 1945 auf seinen historischen Weg gebracht hatte – in diesen weltbewegenden, aufrüttelnden, folgenreichen und vielfach furchtbaren Jahren konnte Max Delbrück in der zurückgezogenen und weltfernen Abgeschiedenheit einer Universitätsstadt in der amerikanischen Provinz – genauer: an der Vanderbilt Universstät in Nashville, Tennessee – in aller Ruhe die Grundlage für das legen, was bald als Bakteriengenetik die Biologie umkrempeln und den Lebenswissenschaften ein bis dahin unbekanntes quantitatives Niveau geben würde (Abb. 6.1). Kein Wunder, dass Delbrück dabei die Vorstellung entwickelte, man könne als Wissenschaftler die Welt selbst dann massiv und anhaltend – also im direkten Sinne nachhaltig – verändern, wenn man gelassen aus dem Fenster schaut und sich seinen umherschweifenden Gedanken überlässt.

Abb. 6.1
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Max Delbrück ca. 1940 während seiner Zeit an der Vanderbilt University. (Bildcredit: Jonathan Delbruck)

Geschichte beginnt im Kopf eines Menschen, der erfolgreich seinen Forschungen nachgeht, und Politik kann nur wählen, was sie mit den wissenschaftlich erfassten und aus ihren Reihen angebotenen Möglichkeiten unternehmen will. Die Wissenschaft ist die Direktorin der Abläufe in der Welt, während die Politik die Buchhaltung übernehmen darf, und es ist zum Verzweifeln und kann nur schlimme Folgen haben, wenn Sozialwissenschaften und Medien darauf nicht eingehen und an dieser Stelle ihre Ahnungslosigkeit kaschieren. Ein Staat funktioniert bekanntlich durch die Gewaltenteilung, wobei in der Geschichte drei Formen unterschieden werden – die Exekutive, die Legislative und die Judikative. Es ist in soziologischen Kreisen schick geworden, die Medien als vierte Gewalt zu bezeichnen. Dies geht aber an den wirklichen Verhältnissen vorbei. Es ist die Wissenschaft, die im Anschluss an die oben genannte Reihung als Konzeptive bezeichnet werden kann, wenn sie ihre Macht ausübt. – Dabei gilt es zu beachten, dass der Satz des Dramatikers Friedrich Dürrenmatt aus seinem Theaterstück Die Physiker, „Was alle angeht, können nur alle lösen“, erst dann der erlebten Wirklichkeit angemessen wird, wenn ein vermisstes Zwischenstück hinzugefügt wird und es heißt, „Was alle angeht, müssen alle verstehen, es lösen zu können.“

Es gilt zum Beispiel zu verstehen, worum sich Delbrück in der Stille seines eher kleinen Laboratoriums kümmerte, in dem er mit seinen Bakterien und ihren Viren nicht allein blieb. Seine Arbeiten im Schatten des großen Krieges unternahm er gemeinsam mit dem italienischen Biophysiker Salvador Luria, der wie Delbrück dank eines Rockefeller-Stipendiums seiner faschistischen Heimat den Rücken kehren und sich in die Gruppe der Wissenschaftler einreihen konnte, die man als „Hitlers Geschenk an die Welt“ bezeichnen kann. Vor allem in Deutschland wurden Menschen jüdischen Glaubens aus den physikalischen, chemischen, biologischen und anderen Laboratorien von hirnlosen Uniformträgern vertrieben, wobei die aggressiv agierenden Nationalsozialisten in ihrer brutalen Dumpfheit nicht einmal den Schaden registrierten, den sie der Nation zufügten, von deren Kulturhoheit sie angeblich so überzeugt waren. Als gegen Ende des Zweiten Weltkriegs ein NSDAP-Funktionär bei David Hilbert, dem berühmtesten Mathematiker seiner Zeit, in Göttingen nachfragte, „Na, wie geht es denn voran mit der Mathematik, nachdem die Stadt von den Juden gesäubert worden ist?“ „Mathematik?“, wunderte sich Hilbert, „Mathematik gibt es hier nicht mehr. Dieses Fach und vieles mehr haben Ihre gestiefelten Schläger gründlich kaputt gemacht und ausgerottet.“

Max Delbrück hatte während seiner Zeit in Göttingen den legendären Hilbert noch persönlich kennenlernen können und sich auch im Alter noch an ein damals populäres Gesellschaftsspiel erinnert, bei dem prominente Wissenschaftler gefragt wurden: „Angenommen, man könnte Sie einfrieren und Sie könnten sich den Zeitpunkt aussuchen, zu dem Sie wieder aufgetaut und ins Leben zurückgeholt werden wollen, welchen Tag würden Sie wählen und worauf würden Sie warten?“ Hilbert zögerte keine Sekunde und meinte, er wolle so lange im Gefrierfach ausruhen, bis die Riemann-Hypothese bewiesen sei. Gemeint ist damit eine Vermutung, die auf den ebenfalls in Göttingen tätigen Mathematiker Bernard Riemann zurückgeht, der mit ihr im 19. Jahrhundert die Verteilung von Primzahlen verstehen wollte. Wenn man eine solche primäre Zahl kennt, die sich durch keine andere teilen lässt, so wollte Riemann wissen, wo und wie findet man die nächste und gibt es ein Gesetz für die Abstände zwischen ihnen?

Bei seinen Überlegungen war Riemann einer nicht ganz einfachen Funktion mit Namen Zeta begegnet, die ab und zu den Wert Null annehmen konnte, und die dabei ermittelten Nullstellen schienen ihm die gesuchte Schrittlänge im Reich der Primzahlen zu zeigen. Einige dieser Zeros konnte Riemann – noch ohne Hilfe von Computern und daher unter großen Anstrengungen – ausrechnen, und es überraschte ihn, dass die Zahlen, die er dabei zustande brachte, sauber auf einer akkuraten Linie lagen. Riemann vermutete nun, ohne es beweisen zu können, dass alle Nullstellen seiner Funktion auf dieser Geraden liegen würden, denn in diesem Fall meinte er, die Primzahlen zu fassen zu bekommen, wobei er hoffte, auf diese Weise in der Lage zu sein, von einer gegebenen Primzahl ausgehend die nächste berechnen zu können. 110.503 ist zum Beispiel ebenso eine Primzahl wie 216.091, aber welche kommen in welchem Abstand nach ihnen? So, wie manche Alpinisten den Mount Everest bezwingen wollen – wobei viele dies einfach tun, weil der Berg da ist –, wollte Riemann das Primzahlgebirge erklimmen und unbedingt seine Gipfel sehen können, aber er starb allzu früh in jungen Jahren an Fischvergiftung bei einem Urlaub in Italien, bevor er sein Ziel erreichen konnte. Seit seinen Tagen haben sich viele andere Mathematiker mit der Aufgabe beschäftigt, sich an dem harmlosen und scheinbar unergiebigen Problem abzuarbeiten und die Riemann-Vermutung zu beweisen.

Hilbert fand das Thema faszinierend und wollte in seiner Gefriertruhe auf Klarheit warten, wobei sich zu seinen Lebzeiten eine besondere Entwicklung abzeichnete, weil erstmals am Horizont der Mathematik die Möglichkeit auftauchte, dass die gelehrte Zunft auf eine unlösbare oder unentscheidbare Aufgabe gestoßen war und Menschen allgemein nicht nur im Inneren der Natur, sondern auch in der Welt der Zahlen auf Geheimnisse trafen, deren Schleier niemand zu lüften wusste – was Hilbert aber nicht daran hinderte, für seinen Grabstein die Inschrift zu erbitten, „Wir müssen wissen. Wir werden wissen.“

Delbrück hat sich der angesprochenen Themen in seinen letzten Vorlesungen in den 1970er-Jahren angenommen, wobei er bei den Vorbereitungen zu seinem Erstaunen lernen musste, dass Riemanns Hypothese nach wie vor eine Herausforderung für die Mathematik darstellte und ihr Beweis noch ausstand, wobei hier hinzugefügt werden kann, dass die mysteriöse Lage unverändert im 21. Jahrhundert besteht, obwohl für den von Hilbert ersehnten Beweis inzwischen ein Preis von einer Million Euro ausgesetzt ist. In den letzten Jahren konnten mit Hilfe von Computern viele Milliarden Nullstellen der Riemann-Funktion berechnet werden, und sie alle liegen tatsächlich auf der von ihm gefundenen Linie, aber selbst solche Milliarden sind noch längst nicht alle, und so grübeln die Mathematiker weiter. Selbst sie können nicht überall für Aufklärung sorgen und müssen mit Widersprüchen und Paradoxien leben, was Delbrück aus der Physik kannte und woran er Wohlgefallen hatte. Er liebte es, von der Menge zu erzählen, die aus Elementen besteht, die selbst Mengen sind, zum Beispiel Mengen, die sich selbst nicht als Element enthalten. Das mag sich harmlos anhören, führt einen aber in Teufels Küche. Denn wenn man jetzt fragt, ob diese Menge von Mengen sich selbst als Element enthält, passiert ein Unglück. Falls dies der Fall ist, darf es nicht sein, doch falls dies nicht der Fall ist, muss es sein, wie der britische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russel entdeckt hatte, weshalb das geschilderte Dilemma als Russel-Antinomie bekannt ist und im frühen 20. Jahrhundert manche Mathematiker zur Verzweiflung getrieben und ihnen Selbstmordgedanken eingegeben hat.

Delbrück liebte es, im Gespräch solche Knoten in Gehirne zu knüpfen oder zu lösen, doch als ich ihn fragte, worauf er in einem Gefrierfach warten würde, wenn er die Chance dazu hätte, antwortete er amüsiert mit einem physikalischen Thema. Er würde solange schlafen wollen, wie er sagte, bis jemand eine befriedigende Auskunft über die Feinstrukturkonstante geben und begründen könnte, warum sie einen Wert von etwa 137 hat (womit genauer gesagt ihr Kehrwert gemeint ist). Die Feinstrukturkonstante geht auf eine Idee von Arnold Sommerfeld aus dem Jahren 1916 zurück und stellt eine reine Zahl ohne Dimension dar, die aus drei fundamentalen physikalischen Konstanten gebildet werden kann, der Elementarladung e, Plancks Quantum der Wirkung h und der Lichtgeschwindigkeit c. Die Feinstrukturkonstante trägt ihren eleganten Namen, weil sie die Aufspaltung (Feinstruktur) von einigen Spektrallinien zu berechnen erlaubt, und Sommerfelds kleine Zahl wurde von vielen Physikern als großes Mysterium betrachtet, weil sie zum Beispiel das Verhältnis der Geschwindigkeit des Lichts zu der von Elektronen in einem Wasserstoffatom angibt. Viele Nobelpreisträger der Physik haben sich deshalb über die Feinstrukturkonstante den Kopf so zerbrochen wie die Mathematiker über Riemanns Primzahlen, weil es die Welt, in der Menschen leben, Wissenschaft treiben und die Wahrheit suchen, gar nicht geben könnte, wenn diese Zahl auch nur geringfügig größer oder kleiner wäre. Ihr Wert wurde offenbar für diese Welt mit diesen Menschen und diesen Ideen und Wünschen gemacht. Aber wie hat das wer so schön hinbekommen und warum? Viele Möglichkeiten, das Staunen zu lernen und sich eigene Gedanken zu machen, wobei ich jahrelang die 137 auf dem Nummernschild meines Autos mit mir geführt habe.

Das Nachdenken über Sommerfelds Faktor hat inzwischen eine neue Dynamik bekommen, weil sich in der aktuellen Physik langsam der Verdacht ausbreitet, dass ihr Wert seit dem Urknall vielleicht gar nicht gleichgeblieben ist und vielmehr eine schleichende Veränderung erfahren konnte, was auch für die Gravitationskonstante der Fall sein kann, die seit Newtons Tagen die Kosmologen beschäftigt – wobei übrigens niemand zu sagen weiß, warum sie gerade den Wert hat, den Physiker seit Jahrhunderten immer präziser bestimmen konnten. Selbst die alten Konstanten bewahren ihr Geheimnis, was enorm vertieft würde, wenn sie sich tatsächlich wandeln und ihre Eigenbewegung vollziehen. Dies würde alle freuen, die den angedeuteten romantischen Charakter der aufgeklärten und aufklärenden Naturwissenschaften ernst nehmen und für solch ein Abenteuer des Denkens angemessen halten, auch wenn viele Mitspielerinnen und Mitspieler in ihren Reihen die Augen noch geschlossen halten und von stabilen Verhältnissen träumen, statt von einem Wandel mit seiner Kreativität zu schwärmen.

Als ich Max kurz vor seinem Tod in Pasadena besucht und mit ihm vereinbart habe, mich an die Beschreibung seines Lebens zu machen, da holte er kurz vor meiner Abreise ein recht umfangreiches, aber unfertiges und mit Korrekturen übersätes Manuskript aus einer Schublade, dem er den Titel Mind from Matter? mit einem dicken Fragezeichen gegeben hatte. Es war aus seinen Vorbereitungen für die letzte Vorlesungsreihe hervorgegangen, und er hat sie am Caltech gehalten, als ich dort mein letztes Jahr verbrachte und ihm zuhören konnte. Max schrieb das Vorgetragene erst unter dem Titel Truth and Reality in the Sciences auf, und er wollte daraus ein Buch mit dem eben genannten Titel machen. Er hatte vor, in ihm den ganzen Kreis der Wissenschaft abzuschreiten, der von einem wie er ganz selbstverständlich interdisziplinär vorgehenden Wissenschaftler mit vielen Interessen gezeichnet und abgesteckt werden konnte. Delbrücks Buch sollte von den Anfängen des Lebens und der ersten Wahrnehmung zur Evolution des Menschen mit seinem heranwachsenden Gehirn gehen, mit dessen Hilfe erste einfache Erkenntnisse zu natürlichen Vorgängen und nach und nach die großen wissenschaftlichen Fortschritte möglich werden, wobei der erzählende Max das Privileg hatte, diese erstaunliche Entwicklung im Laufe seines Lebens beim Werden der Quantentheorie und Aufkommen der Molekularbiologie hautnah miterlebt zu haben und in einigen Fällen sogar selbst dazu beitragen zu können.

Als Delbrück nun sterbenskrank vor mir saß, hob er das Manuskript auf und legte es mir in den Schoß. „Ich kann das nicht mehr zu Ende bringen“, meinte er. „Meinst du, ihr bekommt das fertig?“ Mit „ihr“ meinte er eine Runde von Freunden, die mit im Hörsaal gesessen hatten, als der vortragende Max mit dünner werdender Stimme und zerbrechlich wirkendem Körper seine Ansichten zu der Frage entwickelte, ob und wie die Fähigkeit von Menschen, so etwas wie Wahrheit zu erkennen, aus toter Materie entstanden sein konnte, und wie die biologische Evolution ihren Kindern zu einem Geist verholfen hat, mit dem sich Mathematik treiben, eine Quantenphysik erfinden und Musik komponieren und alles zusammen genießen lässt. Ich fühlte mich geehrt und herausgefordert, versprach, mich um das Manuskript zu kümmern, und auch wenn es etwas gedauert hat, das interdisziplinäre Projekt einer einzelnen Person auf fünf befreundete Wissenschaftler aufzuteilen und deren Beiträge zu koordinieren und harmonisieren, 1986 lag das fertige Buch vor. Wir nannten es Wahrheit und Wirklichkeit in der Wissenschaft, und auf dem Umschlag konnte man den Namen des von uns allen verehrten Urhebers lesen, Max Delbrück.

Im Jahr zuvor war meine Biografie von Max auf den Markt gekommen, die den Titel Licht und Leben trug, wie ich ihn von Anfang an ins Auge gefasst habe, wobei der zentrale Begriff, mit dem Max, von Bohrs Anregung ausgehend, Licht und Leben verbinden wollte, noch gar nicht erwähnt worden ist. Gemeint ist die Idee der Komplementarität, was als Wort eher abschreckend klingt, trotzdem aber erfreulich gut zu erläutern ist und vor allem denjenigen einleuchten wird, die sich ein Faible für die Naturphilosophie der Romantik bewahrt haben und sich an Polaritäten wie Tag und Nacht, Wachen und Träumen und Männlich und Weiblich orientieren. In dem langen und umständlichen Wort steckt das kurze „komplett“, und der Begriff Komplementarität soll andeuten, dass die Beschreibung von Licht erst dann umfassend – also komplett – ist, wenn sie aus zwei Aspekten besteht, die sich oberflächlich widersprechen, während sie zugleich in der Tiefe zusammenfinden. Welle und Teilchen sind komplementäre Beschreibungen von Licht, bewusst und unbewusst sind komplementäre Weisen des Denkens, und wer einen Menschen erfassen will, muss ihn auf komplementäre Weise sowohl als Individuum als auch als Mitglied einer Gemeinschaft betrachten. Damit sind ein paar Beispiele für den Gedanken genannt worden, den vor allem Bohr vertreten und als seine Lektion der Atome verkündet hat, den Einstein aber sein Leben lang von sich wies und als Beruhigungsphilosophie verspottete. Ihn verlangte es nach einer Einheit, wie sie im 19. Jahrhundert Maxwell zu finden vergönnt war, als er den Elektromagnetismus begründete, und wie es Einstein selbst hinbekommen hat, als er die Raumzeit in die Physik einführte und damit die Geschlossenheit seiner Wissenschaft rettete.

Einstein war nicht der Einzige, der Bedenken gegen Bohrs Vorschlag einer Komplementarität äußerte. Er gefiel vor allem denjenigen nicht, die meinten, wenn es eine These und eine Antithese gebe – Licht bewegt sich als Welle und Licht besteht aus Teilchen –, dann bestünde die Aufgabe der Wissenschaft darin, die Synthese zu finden, um mit ihr in guter aufklärerischer Tradition alles verstehen zu können. Doch was soll dieser antagonistische Vorschlag beim Licht bringen? Was soll die Synthese bei dem These-Antithese-Paar Welle-Teilchen sein – oder im Fall des Menschen die dialektische Synthese aus einer einzelnen Person und einem Gemeinschaftswesen? Bohr schlug mit der Komplementarität eine Art von qualitativer Dialektik vor, in der man These und Antithese gleichberechtigt nebeneinander stehen lassen und das menschliche Denken durch die dabei entstehende Spannung beleben konnte. Sie liefert dank ihrer Dynamik die Einheit, nach der es Einstein verlangte. Es gibt keine feststehende oder -liegende Synthese, von der traditionelle Dialektiker träumen. Es gibt nur die dramatische Offenheit, die zwischen den genannten Polen des Erkennens entsteht und Spannung erzeugt. Diese Idee propagierte Bohr, und mit der unversperrten Freiheit dieser Denkfigur zeigte er sich voll und ganz zufrieden. Die Einheit steckt in der Bewegung, in dem sich dabei vollziehenden und erfüllenden Werden der Gedanken, die auf diese bildende Weise ihr Abschließen verhindern, im Suchen die Welt offenhalten und Menschen neugierig bleiben lässt. Das Fragen geht weiter, und man darf sich auf immer neue Geheimnisse freuen. Konnte jemand, der ausgezogen war, das Staunen zu lernen, etwas Schöneres erhoffen? Die Dialektik der Aufklärung sorgt für die Verzauberung der Welt, was Menschen ohne ideologische Scheuklappen neidlos wunderbar finden.

In den 1920er-Jahren, in denen die Physiker diese Idee erstmals ausführlich erörterten und auch Max anfing, sich mit dem ihn bald faszinierenden Konzept Komplementarität anzufreunden, tauchte nie der naheliegende kulturhistorische Begriff auf, mit dessen Hilfe sich die angesprochene Polarität oder Dualität mit Vergnügen aufnehmen und umfangen ließe. Gemeint ist die Romantik, die in der Kulturgeschichte des Geistes nach der Aufklärung ihr Gesicht erhob und ihrem leistungsfähigen Vorgänger bei aller Qualität verwehrte, die Welt abschließend und vollständig erklären und verstehen zu können. Romantiker nahmen die Möglichkeit ernst, dass sich Antworten auf vernünftige Fragen widersprechen können, vor allem, wenn es um Fragen nach dem richtigen Handeln geht. Sobald Menschen als Subjekte eine Rolle übernehmen und gleichberechtigt neben die Gegenstände und damit das Objektive treten, das sie ins Auge fassen und dabei begreifen wollen, werden Alternativen möglich. Wer Licht untersucht, kann es im Experiment fragen, ob es eine Welle ist, man kann auch wissen wollen, wo es als Teilchen auftrifft und seine Energie abgibt. Licht zeigt komplementäre Qualitäten, und in der Wissenschaft kann man durch die gewählte experimentelle Anordnung entscheiden, welche seiner Möglichkeiten wirklich in Erscheinung treten soll. Diesen Gedanken kann man auf den Menschen übertragen, den man etwa durch sein Körpergewicht oder seine Pulsfrequenz individuell vermisst, während man ihn durch die Zugehörigkeit zu einer Partei oder sozialen Schicht gesellschaftlich einordnen kann. Welle und Teilchen, Masse und Meinung, Teil und Ganzes – das Wahre ist das Ganze, wie die Philosophie der Romantik erkannt hat, wobei unbedingt zu ergänzen ist, dass dieses Ganze dauernd werden muss und zu bilden ist. Es ist die außen sichtbare Wirklichkeit der Welt, die aus den inneren Möglichkeiten der Menschen entsteht – als „heilig öffentlich Geheimnis“, wie Goethe gewusst und gedichtet hat.

Wer die Idee der Komplementarität ernst nimmt – wie der Autor in diesem Buch und sein Doktorvater Max Delbrück in seinem Leben –, kann zu merkwürdigen Volten geführt werden, womit im Falle von Delbrück gemeint ist, dass er in dem Moment, in dem die von ihm ins experimentelle Leben gerufene Molekularbiologie ihren ersten großen Höhepunkt feiern konnte – gemeint ist die folgenreiche Präsentation der Doppelhelix als Struktur des Erbmaterials DNA im Jahre 1953 – sich von diesem Bereich der Forschung abwandte, um sich danach den Fragen der Wahrnehmung zuzuwenden, deren Antworten er mit Hilfe des Pilzes Phycomyces finden wollte. Mit der Kenntnis einer chemischen Struktur in den Zellkernen und damit im Innersten der belebten Welt sah Delbrück keine Möglichkeit mehr, das Geheimnis der Zellen durch komplementäre Konzepte zu erfassen. Delbrück hatte gehofft, zu den Genen sowohl einen physikalischen als auch einen biologischen Zugang zu finden, die beide gegangen werden mussten, ohne gleichzeitig durchschritten werden zu können. Doch nun sah alles nach solider Chemie aus, die sicher wichtig und hübsch anzusehen war, die viele experimentelle Ansätze erlaubte, während sie in ihrer molekularen Darbietung keinen Spielraum für komplementäre Fantasien anzubieten schien.

Als sich Delbrück von den Genen verabschiedete, rief er in Wissenschaftskreisen einige Aufmerksamkeit hervor, die der Tatsache geschuldet war, dass Erwin Schrödinger, der aus Wien stammende Nobelpreisträger für Physik, am Ende des Zweiten Weltkriegs ein zu großer Berühmtheit gelangendes Buch mit dem zugleich schlichten wie kühnen Titel Was ist Leben? vorgelegt hatte, in dem Delbrücks früher Vorschlag, ein Gen als Atomverband zu erfassen, nicht nur hoch gelobt, sondern als einzige Chance zum Verständnis der Vererbung bezeichnet wurde. Wenn Delbrück scheitert, stand da zu lesen, kann die Wissenschaft die Gene nicht verstehen, und als Delbrück 1953 seine Versuche für gescheitert erklärte, wirkte dies für die Anstrengungen der Zunft bedrohlich – aber nur auf den ersten Blick. Während mein Doktorvater in der Doppelhelix das Ende seiner komplementären Träume sah, erblickten die anderen Genetiker in dieser eleganten Struktur das Tor zum Verständnis der Prozesse, die eine Zelle bewältigen muss, um sich zu teilen. Das stürmische Jahrzehnt der Lebenswissenschaften konnte mit vollem Schwung beginnen, an dessen Ende dicke Lehrbücher über Die Molekularbiologie des Gens ihren Triumph verkündeten.

Einige der Haupttreiber dieser neuen Wissenschaft hatten sich durch die Lektüre von Schrödingers Buch Was ist Leben? inspirieren lassen, was zwei Anmerkungen erlaubt, eine wissenschaftliche und eine politische. Wissenschaftlich fällt auf, dass der Physiker Schrödinger – sein Name wird in der öffentlichen Wahrnehmung gerne mit einer Katze verknüpft, von der man nicht weiß, ob sie tot oder lebendig ist – seine Leserinnen und Leser darum bittet, ihm Stümpereien nachzusehen. Er sei kein Genetiker, finde aber, dass auch Physiker über Gene nachdenken müssten, was konkret bedeute, dass jemand wie er den Mut haben müsse, sich lächerlich zu machen. Nur so könne man das interdisziplinäre Denken auf den Weg bringen, das nötig sei, wenn man wirklich herausfinden wolle, was das ist, das Leben. Politisch gilt zu beachten, dass der Österreicher Schrödinger das Buch auf Englisch geschrieben hat. Schließlich hat er die dazugehörigen Vorlesungen im irischen Dublin gehalten, wo ihm der Präsident des Landes Schutz vor den Nachstellungen der Nationalsozialisten gewährt hatte.

Es mag zwar auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen, dass ein in Irland verfasstes Buch auf Englisch erscheint, aber mit Schrödingers Wahl der Sprache seiner Vorlesungen zeigt sich auf den zweiten Blick ein großer Wandel, der sich dank der Nationalsozialisten in der Wissenschaft vollzogen hat. Der ebenso brutalen wie blödsinnigen Bande von Braunhemden, die scheinheilig die deutsche Kultur zu bewundern vorgaben, ist es zu verdanken, dass sich Deutsch als globale Wissenschaftssprache verabschieden musste. Hitler hat der Welt das Englische als moderne Lingua franca geschenkt, und die Menschheit hat diese Gelegenheit gerne ergriffen. Dieser kulturelle Abstieg Deutschlands zeigt auch im 21. Jahrhundert noch Nachwirkungen in dem Sinne, dass seit der nationalsozialistischen Vertreibung der deutschen Sprache selbst die Biografien großer deutscher Wissenschaftler vor allem auf Englisch erscheinen – Beispiele sind die Lebensbeschreibungen von Albert Einstein und Max Born und selbst die von Hermann von Helmholtz aus dem 19. Jahrhundert. Die Nazis haben tatsächlich gründlich mit dem Deutschtum aufgeräumt, auch wenn einige ihrer Anhänger das bis heute nicht bemerken. Zwar gebe ich mir persönlich Mühe, mit deutschsprachigen Biografien ein kleines Gegengewicht zu der angelsächsischen Übermacht zu errichten. Aber als ich meinen ersten Versuch in dieser Richtung unternahm, um Max Delbrück als Hitlers Geschenk an die USA und Wegbereiter der Molekularbiologie zu beschreiben, ist das Buch zunächst auf Englisch erschienen, und für die deutsche Fassung musste lange nach einem Verlag gesucht werden. Die Biografie wurde zudem nicht hierzulande, sondern in englischen und amerikanischen Magazinen zur Kenntnis genommen und rezensiert. Der Eindruck bleibt, dass man im Land der Dichter und Denker nicht an den Naturwissenschaftlern interessiert ist, deren Beiträge in Kreisen der öffentlichen Intellektuellen aus dem Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften auch nicht zu dem gezählt werden, was dort unter Bildung versanden wird. Als dem Sozialphilosophen Jürgen Habermas 2001 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde, sagte er in einer feindseligen Rede unter dem Jubel der Feuilletons „die wissenschaftlich erforschte Natur fällt aus dem sozialen Bezugssystem von erlebenden, miteinander sprechenden und handelnden Personen heraus“. Soziologen nehmen nicht zur Kenntnis, dass Menschen sich genussvoll über das unterhalten können, was an der Natur erforscht werden kann – die Kontingenz der Quantensprünge zum Beispiel und die Verschränkung der Wirklichkeit, die dabei sichtbar wird und zeigt, dass sie ein Ganzes ist, das gar keine Teile kennt. Ist Habermas die Faszination von Schwarzen Löchern und Dunkelenergie wirklich entgangen? Wie leer kann ein sozialwissenschaftlich aufgeblasenes Weltbild werden? Habermas und seine Anhänger bilden sich ein, als Vertreter einer „Suhrkamp-Kultur“ etwas Besonderes zu sein und die Naturwissenschaften als minderwertig abzutun.

Der Begriff „Suhrkamp-Kultur“ stammt von dem Literaturwissenschaftler George Steiner, der ihn 1973 einführte, als er Werke von Theodor W. Adorno besprach. Steiner wollte loben, dass der Suhrkamp Verlag schwierige Texte einem breiten Publikum zugänglich gemacht hatte, wobei ihm besonders gefiel, dass die Naturwissenschaften dabei links liegen gelassen wurden. Als er den Erfolg seiner Wortprägung sah, nutzte Steiner die Gelegenheit, den Naturwissenschaften vorzuwerfen, auf Fragen der Moral und Politik keine Antworten zu geben, und da er gerade dabei war, sprach er ihnen jede Bildungsqualität ab, was bis zum Ende des 20. Jahrhunderts bereitwillig wiederholt wurde, als Dietrich Schwanitz in seinem Buch über Alles, was man wissen muss, erklärte, von den Naturwissenschaften müssten Dichter und Denker nichts wissen. Für den in meinen Augen geistlosen Geisteswissenschaftler Steiner stellen Physik, Chemie und Biologie nur „eine anonyme, kollektive träge Bewegung“ dar, ohne eine Spur von Kreativität erkennen zu lassen, und die genannten Disziplinen produzieren bestenfalls „minderwertige Wahrheiten“ und zweitrangige Einsichten, mit denen man einen Philosophen wie ihn und andere Intellektuelle nur langweilen könne und nicht belästigen solle.

Es wird vielen Menschen nicht aufgefallen sein, aber seit Steiners durchschlagendem Diktum werden Biografien großer deutscher Forscher entweder im Ausland oder einige wenige z. B. von mir geschrieben (Hermann von Helmholtz, Werner Heisenberg, Max Planck), wenn diese flapsige Formulierung erlaubt ist. Ich kämpfe dabei einen fast aussichtslosen Kampf, denn in Steiners Windschatten haben sich prominente Suhrkamp-Autoren wie Habermas aus ihren Verstecken gewagt, wie oben zitiert worden ist, und den Naturwissenschaften jede Bildungsqualität abgesprochen. Unverschämterweise wollen sie gleichzeitig „die Gewalt technischer Verfügung in den Konsensus handelnder und verhandelnder Bürger“ zurückholen, wie Habermas fordert, auch wenn sie so ahnungslos sind wie er. Faust würde diese Haltung mit dem Satz kommentieren, „der Kasus macht mich lachen“.

Es ging den Vertretern der ausgerufenen „Suhrkamp-Kultur“ nie um Geist, Ideen und klassische Bildung, es ging ihnen nur um Gesellschaft, Einkommen, soziale Gerechtigkeit, und sie gaben sich Mühe, eine Theorie der Gesellschaft ohne jede szientistische Vorgabe zu entwerfen, auch wenn das wissenschaftshistorisch Unfug ist. Ein ebenfalls 1973 aufgestellter „Bildungsgesamtplan“ aus der Soziologenecke enthielt keinen allgemein verbindlichen Kanon mehr. Gymnasien und Universitäten kümmerten sich von nun an um individuelle Neigungen und die Berufsvorbereitung. Der Prozess der Bildung, der das Individuum zu Selbstständigkeit und Freiheit, zur Teilhabe am Kulturganzen und zu geistigen Genüssen befähigen sollte, geriet dank der meist männlichen Propagandisten einer „Suhrkamp-Kultur“ nahezu vollkommen in Vergessenheit. Ihre Vertreter – anfangs tauchten keine Frauen auf – müssen eine enorme Angst vor der Qualität der Naturwissenschaften entwickelt und sich in der Sphäre des Geistigen minderwertig gefühlt haben.

Wer sich fragt, wie diese Entwicklung zustande gekommen ist, kann erneut 1973 fündig werden, als zum einen die sachlich und faktisch eher verunglückte, psychologisch aber wirkungsvolle und nachhaltige Warnung vor den Grenzen des Wachstums erschien und zum zweiten im gleichen Jahr die Möglichkeit geschaffen wurde, das Erbmaterial nicht nur des Menschen erst genauer in den Blick zu nehmen und dann zu ändern. Gemeint ist die Gentechnik, die Methode zur Rekombination von DNA, die den Biowissenschaftlern genau das bescherte, was technischer Fortschritt seit jeher wollte und will, nämlich Macht über die Dinge der Welt zu erlangen und sie im Wortsinne zu manipulieren. Plötzlich hielten die Genetiker und die Gentechnikerinnen in den Augen einiger Ethiker und Philosophinnen zu viel Macht in den Händen, wobei sich zum allgemeinen Ärger der Suhrkamp-Anhänger und -Autorinnen herausstellte, dass die Einsichten, die mit der neuen Methode möglich wurden, viel Kreativität von ihren keineswegs namenlos bleibenden Schöpfern erforderten und von Wissenschaftstheoretikern als hochwertig bezeichnet wurden. Mit der Gentechnik zeigte sich zum Beispiel, dass Gene in Zellen nicht am Stück vorliegen, sondern in Stücken zu finden sind, was der Natur eine neue Dimension in die Hände gibt, das Leben vielseitig zu gestalten und sich immer wieder neuen Situationen anzupassen, die man in der sich dauernd ändernden Umwelt antreffen kann, wobei derzeit der Klimawandel eine große Rolle spielt. Vielleicht kann das Leben ihm dank der Flexibilität seiner Gene begegnen, was dem menschlichen Dasein mehr den Charakter eines Werdens geben würde, mit dem man täglich zu tun hat.

Die gentechnische Analyse des Erbguts namens DNA ließ die tiefe Bedeutung des grundlegend romantischen Gedankens deutlich vor Augen treten, den man durch die einfache Formulierung ausdrücken kann, „Es gibt nur Bewegung!“. Im Leben gilt der Satz innen (bei dem Erbmaterial) wie außen (bei einer lebenden Person und in der Welt), und so bestätigte die Gentechnik, was Goethe schon wusste, als er dichtete: „Nichts ist drinnen, nichts ist draußen, denn was innen, das ist außen“. Goethe ermutigte seine Zeitgenossen, dies ohne Säumnis als „heilig öffentlich Geheimnis“ zu ergreifen, und die kreative Gentechnik hat diesen Schritt möglich gemacht. Die Vertreter der „Suhrkamp-Kultur“ wollen das bis heute nicht wissen, und sie sollten sich dafür schämen, wie Einstein 1930 gemeint hat. Damals hat er alle Menschen, die sich der Wunder von Wissenschaft und Technik bedienen und davon nicht mehr verstehen als die Kühe von der Botanik der Pflanzen, die sie fressen, angehalten, sich zu schämen. Ich befürchte nur, dass vielen Wissenschaftsverächtern dafür die intellektuellen Voraussetzungen fehlen, und ich sehe in dieser stumpfen Sturheit die Bildungskatastrophe der Gegenwart und eine Gefahr für die Zukunft. Die „Suhrkamp-Kultur“ ist gefährlicher als die Genforschung. Man sollte das dem Ethikrat klarmachen.

Hinter der Idee der „Suhrkamp-Kultur“ steckt eine alte Trennung, um die es jetzt gehen soll. Sie ist weit verbreitet, aber in meinen Augen unsinnig und gefährlich. Es geht um die Trennung der grandiosen Geistes- von der niederen Naturwissenschaft. Zu den irrigen Vorurteilen der bevorzugt philosophisch und sozialwissenschaftlich tätigen Arbeiter der Stirn, wie Akademiker im Dritten Reich hießen, gehört die Annahme, dass die Naturwissenschaften die Abläufe der Welt vielleicht erklären können. Aber verstehen können sie auf keinen Fall, was sich vor aller Augen abspielt. Verstehen – das fällt in das Einzugsgebiet genialer Geisteswissenschaftler, wie der Philosoph Wilhelm Dilthey tiefsinnig und hochnäsig zugleich verkündet hat, als er sich im späten 19. Jahrhundert daran machte, eine große Kultur in zwei kleinere zu spalten und die ungeliebten Naturwissenschaften von den hochverehrten Geisteswissenschaften zu trennen. Dilthey tat dies zu einer Zeit, als Robert Koch die Ursache der Cholera entdeckte und Heinrich Hertz sich daran machte, die elektromagnetischen Wellen zu erkunden, und beide naturwissenschaftlichen Arbeiten und ihre dazugehörenden technischen Anwendungen brachten massive Auswirkungen für das menschliche Dasein mit sich, was es nicht bloß zu erklären, sondern vor allem umfassend zu verstehen gilt, wenn man seine Kultur begreifen möchte. Die Diltheys versagen dabei kläglich. Selbst Goethes Faust muss erst klären oder zu erklären versuchen, welche Kräfte in einem Atom wirken, bevor er seinen Wunsch erfüllen, erkennen und also verstehen kann, was die Welt im Innersten zusammenhält. Dilthey und Kollegen haben solche Details noch nie bekümmert. In ihren Reihen wollte man mit Vergnügen die Naturwissenschaften mit ihren Bakterien und Batterien zweitrangig und minderwertig erscheinen lassen, und deshalb gestand man ihren Vertretern lediglich zu, die Dinge erst zu beobachten und dann zu analysieren, ohne dabei zu verstehen, wie die historischen Prozesse mit ihren kreativen Komponenten das Werden ergeben, das zu begreifen angeblich den Geisteswissenschaften vorbehalten bleibt, wie Dilthey selbstbewusst meinte.

Vielleicht hatte der Philosoph dabei die Worte des Dichters Novalis im Ohr, der einmal geschrieben hat, „Der Poët versteht die Natur besser, wie der wissenschaftliche Kopf“, wobei der romantische Dichter im Gegensatz zu Dilthey sehr wohl wusste, dass man dies erst tun kann, wenn man „selbst eine ausgebildete Welt im Kopf“ mit sich trägt. Und diese Sphäre verdankt ein Mensch seiner Lust am Wissenschaftlichen, wie Novalis sie praktiziert hat. Der junge Poet arbeitete nämlich an einer „scientifischen Bibel“, die er Allgemeines Brouillon nannte und in der er sich bereits im 18. Jahrhundert Gedanken über Halbleiter machte hatte, von denen die meisten Menschen bis heute nichts wissen, obwohl es ihre Smartphones ohne diese „nährenden Mittel“ gar nicht geben könnte, wie Novalis das wunderliche Material genannt hat. Man redet heute mehr über Halbgötter in Weiß als über Halbleiter in Handys, was ich nicht einmal als Halbbildung akzeptieren und nur als die Kulturlosigkeit und Dummheit in Diltheys Gefolge bedauern kann. Sie hält sich unerträglich zäh in den Feuilletons, breitet sich in den Medien aus und wird immer wieder von Moderatoren grinsend verkündet, die sich mit ihrem ahnungslosen Publikum einig wähnen und stolz auf ihre schlechten Schulnoten in Mathematik und Physik verweisen.

Die Verachtung der Naturwissenschaften setzt meiner Ansicht nach mit Hegels Philosophie im 19. Jahrhundert ein, und zwar, als der besonders tiefe deutsche Denker damit beschäftigt war, seine Phänomenologie des Geistes zu entwerfen. In diesem holprig formulierten Buch versucht Hegel, das Werden des Wissens und das Wachsen der Einsichten darzustellen. Wenn der Philosoph dabei so geistvoll vorgegangen ist, wie ihm seine Bewunderer unterstellen, dann konnte Hegel im frühen 19. Jahrhundert zu seinem Ärger nicht entgangen sein, dass die Zunahme des Wissens fast ausschließlich aus der Ecke der Naturwissenschaften kam, die zum Beispiel in der Chemie Wahlverwandtschaften erkunden und aus anorganischen Stoffen organische Verbindungen herstellen konnten, um nur zwei Fortschritte einer Disziplin zu nennen, die Goethe beeindruckt und beeinflusst haben, der sich zudem von den Erscheinungen des Magnetismus beeindruckt zeigte. Hegel kam da nicht mehr mit, er konnte selbst nichts zum Wissen beitragen, und so reagierte der Herr des Geistes mit der Verachtung der Naturforschung, die bis heute nachwirkt. Es ist auch allzu bequem, die Augen an diesen Stellen zu verschließen. Die Apparate funktionieren ja auch, wenn ich ihre Entwickler und Konstrukteure verachte, von ihrer wissenschaftlichen und materiellen Grundlage nichts wissen will und nicht einmal sagen kann, was da brennt, wenn Kerzen leuchten.

Übrigens – als zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Theologe Adolf von Harnack in Berlin gefragt wurde, wo denn die deutschen Philosophen in dieser Zeit geblieben seien, da lächelte der weise Mann und meinte, große Philosophen gebe es nach wie vor im Lande. Nur arbeiteten sie inzwischen in einer anderen Fakultät und hießen Max Planck und Albert Einstein. Ich würde gerne wissen, was heutige Philosophen von diesen beiden Herren gelesen haben. Ich vermute nichts, ebenso wenig andere Geisteswissenschaftler.