Studie: Wie ungerecht ist das deutsche Bildungssystem wirklich? - FOCUS online
SpecialExperts
  1. Nachrichten
  2. Experts
  3. Studie: Wie ungerecht ist das deutsche Bildungssystem wirklich?

Sozialforscher seziert ifo-Studie: Wie ungerecht ist das deutsche Bildungssystem wirklich?
  • Kommentare
  • E-Mail
  • Teilen
  • Mehr
  • Twitter
  • Drucken
  • Fehler melden
    Sie haben einen Fehler gefunden?
    Bitte markieren Sie die entsprechenden Wörter im Text. Mit nur zwei Klicks melden Sie den Fehler der Redaktion.
    In der Pflanze steckt keine Gentechnik
    Aber keine Sorge: Gentechnish verändert sind die
ifo-Studie offenbart: Bildungschancen in Deutschland ungleich verteilt
Getty Images/Milos Dimic ifo-Studie offenbart: Bildungschancen in Deutschland ungleich verteilt
  • FOCUS-online-Gastautor
Mittwoch, 05.06.2024, 16:12

Eine neue Studie legt nahe, dass die Bildungschancen für Kinder aus Bayern und Sachen schlechter sind als für den Nachwuchs aus Berlin und Brandenburg. Sozialforscher Andreas Herteux stellt sowohl Methodik als auch Ergebnisse vor und ordnet sie kritisch ein.

Die mit einem Symbol oder Unterstreichung gekennzeichneten Links sind Affiliate-Links. Kommt darüber ein Einkauf zustande, erhalten wir eine Provision - ohne Mehrkosten für Sie! Mehr Infos

Was sagt die neuste Studie des ifo-Instituts über die Gerechtigkeit im deutschen Bildungssystem aus?

Die Studie des ifo-Instituts „Ungleiche Bildungschancen: Ein Blick in die Bundesländer“ beschäftigt sich mit der Frage, in welchem Bundesland die Bildungsperspektiven für Kinder, am aussichtsreichsten sind. Oder, wie es die Macher selbst normativ ausdrücken: „Wie gerecht oder ungerecht sind die Bildungschancen von Kindern mit verschiedenen familiären Hintergründen in Deutschland verteilt?“

Als Datengrundlage dient der Mikrozensus der Jahre 2018 und 2019. Die Stichprobengröße beträgt ca. 100.000 Kinder zwischen 10 und 18 Jahren, die im Moment ein Gymnasium besuchen, bereits das Abitur haben oder aktuell auf eine Universität gehen.

Aus ihnen werden wiederum zwei Gruppen gebildet. In der einen besitzt mindestens ein Elternteil Abitur oder aber das Haushaltseinkommen liegt im oberen Viertel. Dann gilt der Haushalt als privilegiert. Dem gegenüber stehen jene, bei denen kein Elternteil ein Abitur erlangen konnte und der Haushalt nicht zu den einkommensstarken 25 Prozent zählt. Letzteres gilt, im Rahmen der Datenauswertung, sehr vereinfacht ausgedrückt, als ungünstige Ausgangsposition für höhere Bildung. Das entsprechende Verhältnis ist dann der  Startpunkt für die Ergebnisse.

Über den Experten Andreas Herteux

Andreas Herteux
Andreas Herteux

Andreas Herteux ist ein deutscher Wirtschafts- und Sozialforscher, Publizist und der Leiter der Erich von Werner Gesellschaft. Herteux ist zugleich Herausgeber und Co-Autor des Standardwerks über die Geschichte der Freien Wähler (FW). Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

Laut der Studie sind die relativen Bildungschancen mit einem nicht-privilegierten Elternhaus, im Verhältnis zur „höheren Herkunft“, in Berlin mit 58,8 Prozent am höchsten. Es folgt Brandenburg mit 52,8 Prozent. Schlusslichter sind Bayern (38,1 Prozent) und Sachsen (40,1 Prozent). Da die Studie die wertenden Begriffe „gerecht“ und „ungerecht“ nutzt, erscheinen die Bildungsmechanismen, gemäß den Ergebnissen, in der Hauptstadt am gerechtesten, wobei der Höchstwert natürlich 100 Prozent wäre.

Das gesamte Fazit gestaltet sich wie folgt: Hamburg (47,1 Prozent), Mecklenburg-Vorpommern (50,1 Prozent),  Baden-Württemberg (47,1 Prozent), Bremen (41,5 Prozent), Hessen (42,1 Prozent), Niedersachsen (45,7 Prozent), Nordrhein-Westfalen (44,1 Prozent), Schleswig-Holstein (43,5 Prozent), Saarland (50,8 Prozent), Rheinland-Pfalz (52,2 Prozent), Sachsen-Anhalt (42,3 Prozent) und Thüringen (44,4 Prozent).

Die Ergebnisse haben auch eine starke Außenwirkung, denn aus ihr entstanden Schlagzeilen wie  „Bayern ist Schlusslicht bei der Bildungsgerechtigkeit.“ Das deutet daraufhin, dass die Schlussfolgerungen der Studie als allgemeine Indikator für Bildungsgerechtigkeit verstanden werden.

Interessant ist in der Hinsicht auch, dass die genannten Sieger in der „Gerechtigkeitswertung“, Berlin und Brandenburg, bei leistungsorientierten Tests schwache Ergebnisse aufweisen, während die „Pisa-Könige“ Sachsen und Bayern dort in der Regel ganz vorne zu finden sind.

Gehen Leistung und Gerechtigkeit daher nicht zusammen? Ist es unfair Schüler zu fordern? Diese Fragen wurden von den wissenschaftlichen Machern zwar nicht gestellt, könnten aber ein Teil der Diskussion werden.

Bayerns Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) kritisiert, dass der Besuch eines Gymnasiums als zentrales Kriterium für Chancengleichheit herangezogen wird, es aber viele weitere Wege zur Hochschulzulassung in Bayern geben würde, die nicht berücksichtigt wurden. Ist dem so?

Die Kritik von Anna Stolz ist berechtigt, denn die Durchlässigkeit des Systems ist kein relevanter  Faktor der Studie, wohl aber einer für die reale Perspektive und Entwicklung des Einzelnen. Sie stellt sogar eine wichtige Variante des Gerechtigkeitsaspektes dar.  

Die Methodik berücksichtigt Personen, die ihre allgemeine oder eine sonstige Hochschulreife nicht über das Gymnasium erhalten, nicht in einem ausreichenden Maße, weil sie nur Kinder heranzieht, die im Moment ein Gymnasium besuchen, bereits das Abitur haben oder aktuell auf eine Universität gehen.

Das ist statistisch durchaus relevant, denn in Bayern kamen beispielsweise im betrachteten Zeitraum um 2018 ca. 28 Prozent derjenigen, die eine Studienberechtigung hatten nicht über den Weg der allgemeinen Hochschulreife über die Gymnasien, sondern über die Durchlässigkeit des mehrgliedrigen Schulsystems. Hinzu kommen weitere Elemente wie die Erwachsenenbildung oder die Studiermöglichkeiten durch die berufliche Qualifikation.

Mehr vom EXPERTS Circle

Was passiert, wenn die Abgabe der Steuererklärung vergessen wird? Steueranwalt Stefan Heine erklärt, wann welche Strafen drohen und was Sie jetzt noch unternehmen können, wenn Sie die Abgabe absehbar nicht bis zum Stichtag schaffen.

Das Teilen privater Fotos in sozialen Medien gefällt auch der politischen Elite. Doch warum entscheiden sich Personen wie Ricarda Lang dafür, obwohl sie dadurch angreifbar werden? Life Coach Chris Oeuvray analysiert dieses Verhalten und erklärt, welche Rolle Authentizität und Transparenz spielen.

Oder vereinfacht mit einem Beispiel ausgedrückt; ein Schüler, der im Mikrozensus noch die Realschule besucht oder eine Ausbildung macht, kann daher durchaus ein Jahr später eine Fach- oder Berufsoberschule besuchen und damit theoretisch in manchen Konstellationen sogar altersmäßig schneller studieren als jemand auf dem Gymnasium.

In Bayern war und ist dementsprechend beispielsweise der relative Anteil derer, welche die Fachhochschulreife erhalten – in der Regel - mehr als doppelt so hoch wie beispielsweise in Berlin.  Diese planbare Durchlässigkeit sowie die unterschiedliche Systemstruktur findet aber zu wenig Berücksichtigung.

In der bisher veröffentlichten Publikation wird darauf zwar eingegangen und man verweist auf die etwas ältere These, dass alternative Wege einen Hochschulzugang zu erreichen, primär ebenfalls eher von Personen aus privilegierten Haushalten genutzt werden würden. Wörtlich zitiert steht dort, „dass die alternativen Wege die Ungleichheit der Bildungschancen sogar noch erhöhen“.

Ein Beleg für die Behauptung findet sich, bis auf zwei Literaturhinweise, nicht; im Gegenteil wird in einer Fußnote  die Aussage faktisch mit dem Hinweis darauf negiert, dass überhaupt keine Daten für die einzelnen Bundesländer vorliegen.

Dass Kinder, die einen sogenannten alternativen Weg zur Hochschulzugangsberechtigung einschlagen, überwiegend aus einem privilegierten Elternhaus kommen, wird daher pauschal unterstellt. Ob es so ist, weiß man aber leider nicht. Diese Prämisse hat aber das Potential die kompletten Ergebnisse zu verzerren.

Daher können sowohl Methodik als auch die gezogenen Schlüsse zur Bildungsgerechtigkeit durchaus kritisch gesehen werden.

Bemängelt wird aus Bayern auch die Außenwirkung der Studie für die Attraktivität klassischer Ausbildungsberufe. Welche Signale sendet die ifo-Studie aus?

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Kombination von Hochschulzugangsberechtigung  und Studium in Deutschland längst gegen die klassische Ausbildung durchgesetzt hat und diese Akademisierungswelle für den Fachkräftemangel in vielen Bereichen - wie der Pflege und dem Handwerk - mitverantwortlich ist. Hochschulzugangsberechtigung und Uni sind die Norm, keine Ausnahme.

Die Zahlen sprechen an dieser Stelle auch eine klare Sprache:  Die Studienanfängerquote schwankt bereits seit Jahren  zwischen 55,5 Prozent und 58,6 Prozent, d.h. deutlich über die Hälfte der jeweiligen Geburtsjahrgänge studieren heute. Zieht man noch jene ab, die weder ausbildungsfähig noch willig sind, bleiben, das ist allerdings nur eine persönliche Schätzung, vielleicht noch 35 – 40 Prozent der jungen Leute, um damit die Nachfrage nach Auszubildenden zu befriedigen.

Das Studium, und dafür gibt es viele Gründe, wie beispielsweise die zunehmende Individualisierung und der Einfluss der digitalen Wirklichkeit, ist daher definitiv attraktiver als der klassische Ausbildungsweg, der das Land viele Jahre geprägt hat. Das Akademikersein wird mehr und mehr zum Standard bei Erwachsenen unter 30.

Die Suggestion, dass eine Person die jenen traditionellen Pfad als beispielsweise Handwerker einschlägt in den „Strudel der Ungerechtigkeit“ geraten oder gar versunken wäre, ist vielleicht doch etwas unglücklich. In der ifo-Studie wird Chancengerechtigkeit sogar fast nur auf den Status reduziert, ein Gymnasium besucht zu haben. Das kann durchaus als Abwertung anderer Bildungs- und Karrierewege gedeutet werden, die keineswegs weniger erfolgreich sein müssen.

Buchempfehlung (Anzeige)

"Grundlagen gesellschaftlicher Entwicklungen im 21. Jahrhundert: Neue Erklärungsansätze" von Andreas Herteux

Und keine Frage; höherer Bildung folgt in der Regel auch ein besseres Einkommen. Nur bekommt man mit bestimmten Abschlüssen heute auch noch eine solche höhere Bildung samt marktgerechte Befähigung? Die Konsequenzen der Akademisierung werden leider selten hinterfragt und es gibt an der Stelle eine regelrechte Scheu, die Situation aus dem Blickwinkel von Markt, Angebot und Nachfrage zu betrachten.

Ob daher das Versprechen auf sozialen Aufstieg durch Abitur und Studium auch weiter gehalten werden kann, wissen wir noch nicht mit absoluter Sicherheit. Die Jahrgänge der großen Zahlen sind bekanntlich tendenziell eher noch am Anfang der Karriere.

Häufig gestellte Fragen zu diesem Thema

Deutsche Schülerinnen und Schüler haben in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften signifikant schlechter abgeschnitten als in der vorherigen Pisa-Studie. Dies ist ein Alarmsignal für das deutsche Bildungssystem, das trotz ...

Avatar of Viola Herrmann

Viola Herrmann

Bildungsexpertin, Autorin, Podcasterin und selbst Mutter von vier Kindern

Lehrermangel führte zu ausgefallenen Stunden und mangelndem fachlichen Ersatz, was Lerneinbußen verursacht. Dies hat wahrscheinlich die Pisa-Ergebnisse beeinflusst und könnte ohne Gegenmaßnahmen zu ...

Avatar of Viola Herrmann

Viola Herrmann

Bildungsexpertin, Autorin, Podcasterin und selbst Mutter von vier Kindern

Bildung muss wieder Priorität sein. Investitionen ab Kita-Alter sind essenziell. Schulen benötigen modernes Equipment, flächendeckendes WLAN, IT-Unterstützung, mehr Sozialarbeiter und ...

Avatar of Viola Herrmann

Viola Herrmann

Bildungsexpertin, Autorin, Podcasterin und selbst Mutter von vier Kindern

Attraktive Arbeitsbedingungen sind für eine bessere Lehrerausbildung essenziell: moderne Schulen, zusätzliches pädagogisches Personal und Entlastung von Verwaltungsaufgaben. Lehrer sind maßgeblich für die ...

Avatar of Viola Herrmann

Viola Herrmann

Bildungsexpertin, Autorin, Podcasterin und selbst Mutter von vier Kindern

Dieser Text stammt von einem Expert aus dem FOCUS online EXPERTS Circle. Unsere Experts verfügen über hohes Fachwissen in ihrem Themenbereich und sind nicht Teil der Redaktion. Mehr erfahren.

Zum Thema
Weshalb sich Ricarda Lang mit privaten Fotos bewusst angreifbar macht

Social Media-Strategie

Weshalb sich Ricarda Lang mit privaten Fotos bewusst angreifbar macht

Anwalt warnt vor Strafen, wenn Sie Steuererklärung zu spät oder gar nicht abgeben

Verspätungszuschlag

Anwalt warnt vor Strafen, wenn Sie Steuererklärung zu spät oder gar nicht abgeben

Finanz-Profi glaubt, EU-Bargeldobergrenze ist Schritt zur Bargeldabschaffung

Noch sind 10.000 Euro erlaubt

Finanz-Profi glaubt, EU-Bargeldobergrenze ist Schritt zur Bargeldabschaffung

Kommentare
Teilen Sie Ihre Meinung
Melden Sie sich an und diskutieren Sie mit.
Teilen Sie Ihre Meinung
Sie waren einige Zeit inaktiv, Ihr zuletzt gelesener Artikel wurde hier für Sie gemerkt.
Zurück zum Artikel Zur Startseite
Lesen Sie auch
Handelsverband: Konsumstimmung bessert sich

Konsum

Handelsverband: Konsumstimmung bessert sich

Scholz fordert mehr Zusammenarbeit bei Rüstungsprojekten

Luftfahrtmesse ILA

Scholz fordert mehr Zusammenarbeit bei Rüstungsprojekten