Keywords

Er ist schwarz-weiß. Er heißt Feirefiz. Er, der Halbbruder Parzivals, Kind des weißhäutigen Parzivalvaters mit der dunkelhäutigen Königin Belakane, er, Recke ohne Tadel, auf seinem schwarz-weiß felligen und weiß-schwarz gekleideten Pferd, er — Feirefîz ist Ritter wie Mann, Kultur wie Natur. Niemand wundert sich über seine Schachbretthaut. Das Außen, die Welt, kommt als das immer Andere der âventiure auf uns zu. Natur, als Begriff, ist bestenfalls halbgeflügelt. Auf Latein wird über sie geschrieben. In der Volkssprache bezeichnet natûre einen großen, bunten Topf, in dem Mensch und Baum, Pflanze und Tier munter und mischungsgeneigt umeinander kriechen—veir oder vair bedeutet im Altfranzösischen bunt oder grauweiß gemustert, ursprünglich wird es bezogen auf Pelz. Natûre meint zum einen das Wesen oder den Charakter eines Lebewesens, zum anderen all das, was sich außerhalb der Burg befindet; natûre ist verbunden mit allem Wilden, Ort der Ungeheuer und Drachen, doch ebenso Ort von Bewährung, Liebe & Sex. Wer wachsen will, muss in sie hinaus.

Sie kommt vor.

Sie-er-es wird erdacht. Und gebraucht.

In der mittelalterlichen Epik wird gelitten, geweint, die Hände werden gewrungen, verliebt man sich, wird man bleich oder rot. Man tritt einen Schritt zurück, küsst oder beugt das Knie, ist Lehnsherr oder Vasall. Wie jedes Gefühl ist auch “Liebe” in all ihren Formen (Werbung, Minne, Ehe, Reproduktion, Erbe) in einen Regelkanon gefasst.Footnote 1 Man sieht die Geste—und weiß, worum es geht. Das Innenleben, gar ‘Psychologie’ wird nicht beschrieben; vor allem aber entfällt in einem derartig formalisierten Zeichensystem alle Individualität des emotionalen Ausdrucks.

Es gibt Ausnahmen. Zwei finden sich in der Epik des 13. Jahrhunderts. Die bessere steht in Wolframs von Eschenbach Parzival. Der weißhäutige Bruder des Feirefîz, ein Knabe, behängt mit Aufgaben, streift durch den Wald. An ihm wird bekanntlich noch einiges Andere hängen bleiben, allemal die Aufgabe zu sprechen (eine Frage zu stellen), um so den einen mit dem anderen Menschen zu verbinden. Mitten im Wald, auf der Jagd, hört Parzival einen Vogel singen. Es handelt sich um einen exzeptionellen Augenblick in der frühen deutschen Literatur: das Zwitschern löst etwas in keiner Weise Formalisiertes aus. Eine Körperreaktion: Parzival fühlt, wie seine Brust sich weitet.

Kennen Sie diese Empfindung? Wir werden Zeugen davon, wie ein Gefühl (in die Schrift hinüber)erfunden wird. Einwanderung von “Natur” in den Kasten “Mensch”. Parzival verspürt Empathie. Schönheit, Natur. Die Sprache des Vogels, sein Lebenslaut, geht ihn an. Parzival wird berührt von dem, was Nicht-Er ist. Die Waldnatur erscheint nicht als Gefahr, sondern als Gefäß. Sie gewährt Halt, ist Teil-Ich. Etwas, das nicht befragt werden muss, sondern sich jenseits von Menschensprache in seinem eigenen Dasein und Singen anbietet. Und etwas, das Parzival zehn Jahre lang im Hintergrund des Epos als schwarzer Ritter durchreiten wird. In das er verschmelzen muss und darf—um zu wachsen.

Damit beginnt das Schreiben von-mit-in Natur in der deutschen Literatur: Sie ist, womit und woran wir wachsen.

Im mittelalterlichen Epos haben Verwandlung und Bewährung ihren Platz in dem Schwellenraum Natur. Man weiß wenig, in unserem Sinn. Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt stellt man sich als in einer Kette des Seins miteinander verbunden vor. So weit von Darwins Evolutionsmodell ist das nicht entfernt, wenn man den theologischen Diskursrahmen des Mittelalters gegen den beobachtenden, biologischen des 19. Jahrhunderts streicht. Man geht von Mischbarkeit aus. Parzival erzählt davon, dass wir Natur brauchen, um zu fühlen. Um verantwortliche Wesen zu werden—antwortfähig. Dann fragefähig. Mitfühlend. Mit Fühlendem. Damit legt das Epos den Finger auf eine wunde Menschenstelle. Auch sie heißt wohl ‘Natur’.

1 Ausgezwitschert: Vogel Zwei (Dronte)

Da stehen sie, an Land gekrochen nach unruhiger Fahrt, die Füße im Matsch. Sie blinzeln, holen Frischwasser, schlagen Holz, füllen die Kammern der Gelderland. Was für ein Ort diese Insel, deren portugiesischer Name ‘Eiland der Schwäne’ bedeutet. Ein zweibeiniges Wesen, hoch wie eine Welle des Indischen Ozeans, dem sie soeben entronnen sind, fett an der Brust, fett am Bauch, fetter am Po, Miniaturflügel, Stummelschwänzchen, watschelt, den Höckerschnabel eifrig klappend, auf sie zu.

Braunes, graues, blaugraues, beiges Gefieder, gelber Schnabel mit schwarzem Fleck, langer schwärzlicher Schnabel mit rötlichem Punkt, grauer, grüner, blaugrauer Schnabel ohne Fleck, Augen blau oder gelb oder vogelschwarzweiß, Höcker oder Kapuze oder doch Schuppen am Kopf: Schwan, Riesenschwan, Wirklichkeit.

Es hat auch daselbst viel Vögel als Turteltauben, grawe Papagayen, Rabos forcados, Feldhühner, Rebhühner, und andere Vögel, an der grösse den Schwanen gleich, mit grossen Köpffen, haben ein Fell, gleich einer Münchskutten über dem Kopff und keine Flügel, denn an statt derselben stehen etwan 5 oder 6 gelbe Federlein. (quoted in Strickland and Melville 2015, 18)

Krallen kräftig orange oder beigegrün, Beine kurz wie ein Kaminscheit, ach was, nicht länger als ein Streichholz, aber fett, gleichbleibend fett! Ferkel, Truthahn, Doppelschwan, sie schreiben, beschreiben, was sie sehen, sie suchen Wörter auf Niederländisch und Latein, schreiben das Jahr 1598, schreiben “wir”, Matrosen und Eroberer, Männer der Gelderland, schreiben “Mauritius”, verschlagen von einem Sturm.

Gelockter Schwanz, untaugliche Flügel. Noch immer flieht der Vogel nicht davon, steht nur und starrt, wird in Gruppen zusammengetrieben, unter den Arm geklemmt, zum Feuer getragen: Gott, was schmeckt er schlecht. Sie spucken, kauen, verzeichnen, der Name ergibt sich von selbst, paradiesisch ist nichts: Walck- oder Walgvogel,Footnote 2 Übelschmecker heißt das Tier. Kocht man es länger, wird es zäher, den Magenstein, Waidkorn genannt, hebt man als Mitbringsel auf, selbst Schiffseisen frisst der Nichtschwan. Hängt er uterm Arm, schreit er beeindruckend melancholisch nach seinem gelben, nein goldenen Ei im Erdbodennest. Sie übersetzen, setzen über, sehnen sich nach Zuhause, in Amsterdam wäre Kirmes, dort wollten sie ihn vorführen, ihren Vogel, und seine Waarachtige Beschryving, heute verloren. Bevor man ausgeblinzelt hat, ist das Tier fort, ausgerottet, zwanzig Kilo schwer, inzwischen Dronte (geschwollen), Dodaars (Fett- oder Knotenarsch), kurzum Dodo genannt. Die Portugiesen hatten ihn oder es oder sie als Pinguin klassifiziert. Natûre. Alles ist möglich. Man muss es sich vorstellen, das Schwanken der Bilder im Angesicht einer vollkommen neuen Welt, sich vorstellen das Probieren, Schmecken, Einordnen, Vergleichen, das Zittern des Herzens, der Eingeweide, der gesamten eigenen, abhängigen Physis, im Fieber, vor Hunger, voller Sehnsucht nach Zuhause. Daheim.

Wie Gefieder, wie NamenFootnote 3 schwanken die Bilder, schwankt man selbst mit.

“Dodo”, flüstert Piet, die Füße im Matsch, “dooo-dooo”, imitiert den Vogellaut, den er seit Wochen hört, langgezogen, nachts, am Strand, wo er schlafen will, nur schlafen, während er doch wieder am Ufer steht und schaut und sich übergibt.

Dronten zählen unter die Tauben, sagen Genanalysen dieser Jahre, man hat ein Stück Dodobein in einer Kommode gefunden, einen getrockneten Dodokopf, so reicht “die Natur” aus dem 16. Jahrhundert zu uns herüber, ruft ‘Narr’ uns zu—‚doudo‘ auf Portugiesisch, während Piet ihn noch einmal am Spieß dreht für uns, den Phönix ArabiensFootnote 4 mit dem beeindruckend langen Schnabel, dem zu einem Lachen gebogenen, fast menschlichen Mund.

Das Außen war sichtbar—man sah es nicht. Man berichtet heiter, benennt noch, was alles man nicht sieht. Wir sehen, was wir wissen; sehen, was wir sehen wollen; sehen, was wir ersehnen. In dem Fremden, das man Natur nennt, erscheint das Imaginäre. Fressen oder gefressen werden ist handfest. Daneben entwickelt sich das Wunder. Gottgehalten, aber nicht nur. Mühelos nimmt der Mensch beides wahr, allemal wenn er schon wieder über einer Grube hockt, weil sein Darm mit der neuen “Natur” nicht umgehen kann.

Über Natur schreibt hier niemand. Man verbraucht sie, verkauft sie, rottet aus.

9400 Kilometer weiter nördlich hat man fette, langsame Beute entdeckt. In den Fjorden Spitzbergens springt man von Walbuckel zu Walbuckel, watet in Blut. So viel Blubber kann der Markt gar nicht fassen. Vierzig Jahre blüht das Geschäft, dann kollabiert der Markt. Was nichts macht. Es gibt so gut wie keine Grönlandwale mehr. Bis heute hat sich die Population nicht erholt.

Natur-Schreiben? Auch dies: man schreibt Ziffern in Spalten—Einnahmen, Ausgaben. Das große Handelsbuch. Auch Menschen sind Natur, auch sie trägt man bald ein, man nennt es Sklavenhandel. Es stimmt also von Anfang an: Wie wir mit “der Natur” umgehen, kehrt irgendwann auf uns selbst zurück. Man schreibt Natur als Ware, als Gewinn.

2 Der Vogel im Bild: “Malen nach der Natur”

Ut pictura poiesis, “wie die Malerei sei die Poesie”, schrieb der römische Dichter Horaz in seiner Ars Poetica. Im Zusammenhang ging es um die verschiedenen Haltungen der Nähe oder Ferne, die man einem Kunstwerk gegenüber einnehmen kann; verwendet wurde die Phrase in ästhetischen Diskussionen vom Mittelalter bis in die Aufklärung zu verschiedensten Zwecken. Für uns interessant wird der Satz des Horaz in der Koppelung mit einem Ausdruck aus der deutschen Bildästhetik, dem “Malen nach der Natur”.

Nach dem langen Anlauf (keine Sorge, wir brauchen ihn noch) und nach einem eleganten (nun, man hofft immer) Sprung über die Naturkonzepte der Aufklärung und der Romantik hinweg (mit denen Sie vertraut sind), auch über “Natur” als Aufregung in den Flugblättern der Frühen Neuzeit, hinweg über Natur als Andersort in der Anakreontik, hinweg über Natur als emotionalem Spiegelort psychischer Befindlichkeiten à la Werther, Lotte und dem Gewitter-Ach (auch bekannt als pathetic fallacy), hinweg über Natur als jenseitigem Außenort (Paradies) und kunstvollem Garten, komme ich zu der Frage: Gibt es deutsches Nature Writing?

Ich möchte die Frage aufspalten in verschiedene Unterfragen:

Ist es sinnvoll, diesen Begriff einzuführen—auf Englisch?

Und/oder sollte man ihn übersetzen?

Wenn ja: wie?

Wie sieht die deutsche Tradition aus (in Begriff und Tat)?

Was ergibt sich daraus?

Wenn der Maler “nach der Natur” malt und das Gedicht/die Literatur sein soll wie die Malerei, soll also auch sie “nach der Natur” verfahren. Man kann dies als Hinweis auf Mimesis, also abbildende Darstellung, verstehen, und hat damit einen ersten Schritt getan, der sogleich in eine Sackgasse führt.

Denn was bedeutet “Abbildung”?Footnote 5

Man kann den Schritt aber auch wieder lösen—und den Ausdruck “nach der Natur” für sich genießen, wozu das Wörtchen ‘nach’ nachhaltig beiträgt.

Natur ist Projektions- und Nutzentasche, einer der größten Nützlichkeitssäcke unserer Identitätsherstellung. Das unscheinbare ‘nach’ enthält ein temporales und lokales Hinter(her). Zugleich spricht es auch von einem Ziel (Aufbruch nach X). Damit handelt es auf paradoxe Art von Wegen: Sie erscheinen als bereits gegangen, und doch als noch zu gehen. ‘Nach’ ist kein fester Ort, nach ist ein Prozess. Das Wort ‘nah’ steck darin, schriftlich ist das deutlicher als nur für das Ohr. ‘Nach’ hat ein komplexes Verhältnis zur Nähe. Nach ist Fastnähe. Die Ränder sind fransig, sie vibrieren. Nach ist verfehlte Nähe. Was voraussetzt, dass Nähe möglich ist. Nach ist eine Richtung. Schreiben nach der Natur scheint mir ein Ausdruck, dessen nähere Betrachtung sich dieses Flimmerns wegen lohnt.

Die spiegelnde Zirkelbewegung bei der Herstellung von Gegensatz-Begriffen (fremd—eigen, Natur—Kultur) ist Teil unseres sprachlich gefassten Denkens. Die Bildung erfolgt reziprok rekursiv. Erzeugt wird (mindestens) ein blinder Fleck, über den der Kreislauf in Bewegung gehalten wird. Wir sehen ihn nicht, spüren aber einen Schatten, eine Unebenheit. Flecken dieser Art sind Zonen verdichteter Energie oder Sprache. Eindringungsstellen. Das Nach in Malen oder Schreiben „nach der Natur“ ist solch ein Ort.

“Schreiben nach der Natur” besagt, dass es im Schreiben in Bezug auf Natur um Fragen von Nähe und Ferne geht, die sich als auszuhandelnder Prozess darstellen. Lassen Sie uns dieses paradoxe ‘nach’ als zeitliche und lokale Schlinge (nahe, doch nicht identisch, voraus und hinterdrein) im Sinn behalten.

Der englische Ausdruck Nature Writing zeigt seinen Charme auf andere Weise. Ich benutze ihn zunächst, unübersetzt, um mich auf den angloamerikanischen Schreibraum zu beziehen. Die Geschichte des Natur-Schreibens war auch hier—und ist es bis heute—massiv ökonomisch (kolonial) bestimmt. Parallel dazu entwickelt sich seit etwa 150 Jahren das, was wir heute als “Nature Writing” kennen. Natur als (romantischer) Freiheitsraum, als Ort wilder Kreaturen (Geister, Vampire, Widergänger) und Experimente (Frankenstein), als philosophisch-ökologisches Reflexionsgefäß (Ralph Waldo Emerson). Vor allem wird Natur als Raum nationaler Neuerfindung sowie staatsbezogener Identitätskonsolidierung gefasst. Auch in den Deutschen Reichen Nummer eins bis drei war dies nicht unbekannt. Bis heute tropft ‘der Boden’ von Blut; das Wort ‘Gau’ bedeutet keine Landschaft mehr, sondern Größter anzunehmender Unfall, und ist noch immer beschönigend.

Ich schlage vor, den englischen Begriff “Nature Writing” im Deutschen weiterhin für das zu benutzen, wofür er gemacht wurde. Angloamerikanisches Schreiben zum Thema Natur. Ich schlage zum zweiten vor, ihn in Bezug auf deutschsprachige Literatur als “Natur-Schreiben” wörtlich, also bewusst grob ins Deutsche zu übersetzen. Man gewinnt damit zweierlei. Der Unterschied dieses Schreibens im Hinblick auf die Verbindung mit Fragen der nationalen Identität wird deutlich. Projekte wie Roger Deakins 1998 erschienenes Buch Waterlog: A Swimmer’s Journey Through Britain (der Autor durchschwamm alle Flüsse des Vereinigten Königreichs) zeigen unmittelbar, wie Nature Writing (auch) dazu dient, ein Stück Identität neu zu verkarten. Bestseller-Nature-Writing zeichnet sich in Großbritannien seit Jahren durch die Koppelung “Natur” mit spezifisch britischer Geschichte, britischen Traditionen und Landschaftsformationen aus. Überaus deutlich war das am Fall des unbekannten Autors James Rebanks zu beobachten, der mit seinem Bericht über das Leben eines Schäfers im Lake District (Rebanks 2015), den “Surprise Hit of the Year” (die Daily Mail) landete: exakt traf er die Retrosehnsüchte und Inselbedürfnisse seiner Landsleute.

Mühelos lässt die Liste sich verlängern. Noch Untersuchungen wie Peter Davidsons Studie zu Phänomenen der Dämmerung (2015) stützen sich im Wesentlichen auf Aspekte der englischen Landschaft. Melissa Harrisons Rain. Four walks in British Weather (2016) erforscht dank des weitweiten Phänomens ‘Regen’ nationale Eigenheiten; auch die Dichterinnen Alice Oswald (Fluss- und Regengedichte) oder Kathleen Jamie (Findings, 2005) schlagen diesen Weg ein. Der Bestseller von Kate Fox, Watching the English. The Hidden Rules of English Behaviour (2014) führte das Projekt dann konsequent von der animal watch wieder zurück in den Menschenbereich. Nature Writing bedeutet Arbeit am Nationalverständnis. Oder wenigstens doch an Kollektivität und Gemeinschaftssinn.

Der Begriff ‘Natur-Schreiben’ weist in eine andere Richtung. Er erwächst aus ästhetischen, philosophischen und ökologischen Debatten. Damit komme ich zu einem zweiten Vorteil, den die scheinbar krude Übersetzung ‘Natur-Schreiben’ bietet. Natur dient in dieser Fügung sowohl als Subjekt wie als Objekt. Diese Doppelung macht den Begriff nützlich, besagt sie doch, dass Natur geschrieben wird und dass Natur schreibt. Sie erlaubt eine Subjektivierung der Natur—ein sich von ihr führen lassen. Anders als im Englischen, in dem dieser Ringtausch zwischen Nominativ und Akkusativ grammatisch müheloser von Statten geht (wenn auch nicht ganz ohne Bruch: nature writing and writing nature müsste es korrekt heißen), holpert dieses ‘Schreiben’ durch die Natur. ‘Schreibt’ wäre korrekt. Sie (‘die Natur’) sagt es aber anders.

Ut pictura poesis zwingt Literatur, die sich auf Natur bezieht, durch eine doppelte Vergegenständlichung: Der Gegenstand Natur erscheint im Bild, auf den Gegenstand Bild bezieht sich der Text. ‘Natur-Schreiben’ hingegen bedeutet, sich im Schreiben des Kreislaufes bewusst zu sein: ‘Natur’ entsteht durch menschliche Wahrnehmung und Begriffsbildung, durch Implantation von Imaginärem in einem als anders phantasierten Außen, einem Reich der Projektionen, die im Umkehrschwung der Selbstwahrnehmung dienen. Schreiben nach der Natur ist Schreiben nach dem Bild der Natur, das der Mensch sich macht, sprich: nach einem Bild von ‘Natur’, das als blindem Fleck den Begriff ‘Natur’ und seine Monde ‘Kultur’ und ‘Mensch’ bereits enthält.

Wird Natur in “Natur-Schreiben” als Subjekt mitverstanden, spricht sie in der Entstehung des Blicks und Gedankens “mit”—hörbar durch grammatische Verschiebungen, spürbar als blinder Fleck. In diesem Kreislauf gibt es weder Anfang noch Ende, nur ein ständiges ‘nach’: das eine verweist auf das andere.

Auf den blinden Fleck dieser Anfangslosigkeit sowie der gegenseitigen Erklärung des einen stets durch das andere kommt es an. Literatur als die Kunst, die mit Sprache arbeitet, als ein Prozess, der um Lücken und Sprachgrenzen, um Nähe und Ferne verhandelt, setzt eben hier an.

3 Brauchen wir eine Vogelmaschine?

Gilbert Simondon untersucht in seinen Vorlesungen Tier und Mensch, wie von den Vorsokratikern bis zu Descartes das Verhältnis Mensch Tier in der westlichen Kultur gedacht wurde.Footnote 6 Er zeichnet eine fundamentale Zweiteilung nach, die zum einen von Sokrates und seiner Erfindung des Menschen durch die Betonung einer radikalen Differenz zu allem Natürlichen gespeist wird, zum anderen von Denkern wie Aristoteles, Franz von Assisi und Giordano Bruno, die von einer Kontinuität zwischen dem menschlichen und tierischen Psychismus ausgehen.Footnote 7 Descartes’ Auffassung vom Tier als (seelenlosem) Automaten setzte sich durch; in der Folge dieses Blickes aber wurde auch die menschliche Seele materialisiert. Im Bann dieser ‘Lösung’ starren wir heute auf Computer und Roboter, so Simondon. Wenn das Tier eine instinktgesteuerte Maschine ist, der Mensch aber nur mehr eine “Tierseele” hat, muss er sich vor Maschinen fürchten. Wie soll er sich von ihnen, sie von sich, unterscheiden?

So stehen wir unter posthumanistischem Druck in einem Zeitalter, das angeblich aus Sorge um “die Natur” Anthropozän heißt. Wir sehen, wie wir eingegriffen haben, uns dämmert, dass wir komplexe Systeme (Wetter, Klima) verändern, ohne zu verstehen wie und mit welchen Folgen. Mit dem Begriff ‘Anthropozän’ stellen wir unser schlechtes Gewissen unter Beweis und krönen uns doch ein letztes Mal: Nun gehört die Erdzeit uns, die wir den Erdball verformen. So schreibt bereits der Name die angeblich kritisierte Menschzentrierung weiter. Ein schizophrener Begriff, auf den wir uns stürzen, weil er uns erlaubt, inkonsequent zu sein.

Auch aus diesem Grund gefällt mir der übersetzte Begriff ‘Natur-Schreiben’ besser als Schreiben nach der Natur. Er ist direkter. Zerstörerischer. Der Bindestrich verkörpert den ständigen Eingriff. Wie man (Schreiben & Natur) aneinanderhängt, sich nicht entkommt. Natur-Schreiben ist ein Begriff, der eigens krude übersetzt, um die Nationalgesten des angloamerikanischen Nature Writing nicht zu importieren, das “Dienen der Natur” dynamisiert. Es wird sich nicht auflösen lassen (wie auch: wir leben von Natur), lässt sich aber ver-rücken. Ein derart verstandenes “Natur-Schreiben” bezeichnet Schreibprojekte (Texte), die aus einer Haltung der Reziprozität entstehen. Sie verstehen den Menschen als Teil von “Natur”, und diese Natur in einer Spirale als Teil des Menschen und seiner Bedürfnisse wie seiner Fiktionen, seiner Sprachen wie seiner Emotionen. Beides (Mensch und Natur, Schreiben und Geschriebenes) ist so wirklich wie gemacht. Es gibt, so die Implikationen unseres sprachlichen Denkgerüsts, eine Natur vor der menscherzeugten, konzeptionellen, benannten Natur. Mit ihr geht es ihr wie mit unserem Körper. Er/sie ist da—aber erscheint nur im Raster der Sprache. Wahrnehmung wächst körperlich. Eine Grenze wird sichtbar. An ihr spricht das “Reale” (im Sinn Lacans) durch die Texturen der Bezeichnungen.

Verse

Verse vogel am rand seines verbreitungsgebietesFootnote

Ulrike Draesner: Gedicht [2019], zum ersten Mal publiziert in: Dürbeck und Kanz (2020, 343).

(das konzept der liminalität) diesen zweig noch und diesen die lärche latsche das dämmrige blatt? wände schachtwinde flugriss der sonne zu die zieht in die singende weite der föhren fönt! tirill tier-rill dämmriger schnabel die unsichtbare wand um zu äugen rasch auf dass dort (wo?) ; ; ; moos im magnetfeld jenes den schatten voraus fliegende moos banges tirill (kleiner schnabel) tirill ; ; ; ; ; ;

Die Aaskrähe kommt in Deutschland in einer grau-schwarzen (Nebelkrähe) und einer vollständig schwarzen Variante (Rabenkrähe) vor. Die Grenze verläuft an der Elbe. Westlich davon ist man krähenschwarz, östlich davon gestreift grau-schwarz, noch einmal östlich wieder umfassend schwarz. Warum?Footnote 9 Verbreitungsgebiet‘ ist eine Metapher für Grenze. Verstanden wird sie nicht.Footnote 10 Wie wird ein Verbreitungsgebiet erweitert. Wie bewegt man (eine Population) sich über eine Grenze hinaus?

Das Konzept der Liminalität, seit seiner Entwicklung in der Anthropologie mehrfach in kulturwissenschaftliche Zusammenhänge übertragen, versteht Grenzen als Schwellen und Übergangsräume. In ihnen herrscht eine doppelte Spannung: Sie haben Bezug zu zumindest zwei heterogenen Systemen und sie sind dynamisch. Grenze ist eine unscharfe, aber konkrete Zone, innerhalb derer Positionen und Relationen stets neu ausgehandelt werden müssen. Sie ist das Ergebnis komplexer kultureller, sozialer, politischer Prozesse. Grenzen werden als eminent dynamische Größen/Artefakte (Gattungen bei Tieren, Gattungen in der Literatur) aufgefasst.

Der Entwurf des Menschen stellt einen zentralen Wirkbereich liminaler Strukturen dar. Die Gattung Homo sapiens ist, so der liminale Denkansatz, auf konstitutive, ursprüngliche Weise auf Zwischenzeiten, Schwellenphänomene und Zwischenräume bezogen. Mit Hilfe des Konzeptes der Liminalität muss man weder identitätstheoretisch (also ausgehend von einer vorab gegebenen Eigenheit des Menschen) noch alteritätstheoretisch (ausgehend von der Erfahrung radikaler Fremdheit) argumentieren. Liminale Anthropologien fokussieren diejenigen Prozesse und Phänomene anthropologischer Selbstverortung, die sich im zeitlichen, räumlichen und systematischen Dazwischen ereignen.Footnote 11

Sowohl für das Natur-Schreiben wie für Natur-Geschriebenes (Natur-Text) stellt sich damit die Frage, wie Liminalität im Text gedacht wird. Natur-Schreiben ist ein Zwischenschreiben. Als Begriff ist dieses “Zwischenschreiben” unscharf, als Haltung nützlich. Das eigene Natur-Schreiben und -Lesen werden als Prozesse in Näherungswerten (mitsamt der sprachlichen Nähe zu Nahrung und Ernährung) begriffen.

Der Natur-Schreibende ist ein Übersetzer. In Näherung. Er befindet sich in einer Grenzzone, im Parzival ‘vremede’ (fern, fremd) und ‘walt’ genannt. Dort schwanken die Begriffe, die Grenzen, die Gefühle. Gefühle entstehen—der Körper spricht mit.

Ein Schreiben in Näherung kann nur ein Schreiben in der Bewusstheit von der sprachlichen Gemachtheit dessen sein, was sich textuell Sehen-denken-sagen lässt.

In Antragung auf eine Berührtheit durch etwas Nichtsprachliches.

Tier-rill. Die Rille im Körper erzeugt—Musik.

4 Natur-Schreiben: Ergebnisse

  1. 1.

    Der nächste Vogel 

Natur-Schreiben kann nun als transgressiver Grenzraum verstanden werden. Als Ort von eigener Dicke und Dichte ist eine Grenze bewohnbar. Bevölkert mit Grenzgängern wie etwa Franz Kafkas Tieren, die gegen die metaphysische Logik des ausgeschlossenen Dritten eine Unschärfelogik des tertium datur entwerfen und den/die Leser*in in einen Bau führen, der Liminalität als Prozess ständigen Schrumpfens und Erweiterns, als Atem, Erfindung und Sprung, als Zuhause und Falle—als pulsende Zone zwischen Bewohnbarkeit und Unbewohnbarkeit entwirft.

Damit ist deutlich, dass Natur-Schreiben, ernst genommen, immer auch die Inszenierung des literarischen Diskurses selbst angehen und verschieben muss. Gattungen lösen sich auf oder werden als Grenzzonen begriffen (und verschoben). Die Verknüpfung von Text und Bild wird ebenso (neu) untersucht wie das Verhältnis zwischen Schrift und Laut. Die Einordnungen Lyrik, Essay, Prosa etc. werden hinterfragt. Natur-Schreiben ist ein zonales Gebiet, das nach formaler Innovation verlangt—und Strukturen dafür liefert. Es fordert Mittel der Darstellung, die treffend nichttreffend sind. Welche Erzähltechniken gibt es, Unschärfe darzustellen (Auflösung teleologischer Erzählmuster)? Wie sehen Übertritte (Zonen) in den wissenschaftlichen Diskurs aus?

  1. 2.

    Wer können wir sein

...Simone Grolmann, Menschenaffenforscherin, Anthropologin, eine der Ich-Erzähler*innen in meinem Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt (Draesner 2014, 123–124) sagte, sie komme zu ihrem letzten Punkt. Mit einem Ausblick wolle sie uns gehen lassen. Um mich herum wurden Skripte, iPads und Telefone in Taschen gesteckt, Mützen aus Taschen gezogen.

Grolmann klickte, das Opernhaus der Stadt erschien. Eine Menge, wirklich eine Menge nackter Menschen stand davor. Manche von oben bis unten mit roter Farbe eingestrichen, die übrigen hautfarben.

Es wurde schlagartig wieder still.

Nach all den Affen wirkten die Menschen auf dem Foto auf fast groteske Weise schutzlos, zu weiß und zu hautig, dabei extrem verletzlich, erkennbar “wie man selbst”, die eigene Spezies, fragwürdig, nah. Ich wollte lachen, lächelte längst. Angezogen hatte mich eine Stimme-Mail-Grolmann. Verliebt hatte ich mich in eine Frau, die mir mailte und erzählte. Es mochte ein Strohfeuer sein, Strohfeuer waren nicht zu verachten, wärmten vielleicht nicht sonderlich, aber knisterten und peppten den Alltag auf. Eine Stunde lang hatte ich die Frau nun erlebt, sympathisch, klug, doch auch abgehoben: den Affen zugewandt. Nun zeigte sie das Bild, und etwas Ungeschütztes von ihr zeigte sich mit. Dass sie davon wusste, wie schlau wir redeten, wie kompliziert wir nachdachten, und darunter doch nur diese stummen weißen Körper waren, stumm und ratlos wie die Menschen auf dem Opernbild. Dieses ständige Atmen, Essen, Hungern, sich Sehnen, die Falten, der schon etwas müde Po, dieses innere Klettern und ständige Fallen, den Tod vor Augen, die Sehnsucht, ihm zu entkommen, die Träume von Nähe, Liebe, Vertrautheit ein Teil davon, die Weichheit der Muskeln, der Flüssigkeiten, des weißen Blickes, die eigene Vergänglichkeit, die brutale, zarte Schönheit darin.

Die Menschen auf dem Foto schauten ernst. Welches Gesicht setzte man auf?

Mit warmer, etwas heiserer Stimme sagte Grolmann in die Stille des Saals, in unsere Stille: “Die Frage, um die es in Zukunft gehen wird, weit über die Primatenforschung hinaus, die Frage, die wir brauchen, um uns in Zukunft verantwortlich und sinnvoll auf diesem Planeten zu bewegen, um Konzepte von Zukunft überhaupt zu entwickeln, die Frage, bei deren Beantwortung uns die Affen helfen, diese Frage, meine Damen und Herren, lautet: Wo—wo sind wir zuhause?”

  1. 3.

    Der nächste Vogel

sind wir.