Kleinfamilie mit zwei Vätern
Ist eine Kleinfamilie heute noch das passendste Modell für den Menschen?
IMAGO/Cristina Villar Martin

Die Kleinfamilie ist nicht artgerecht

Was, wenn die Mutter das Kind bekommt und es gar nicht so wichtig ist, wer der Vater ist?

Vater Mutter Kind. Dass der Vater an erster Stelle steht, hinterfragen wir nicht, denn dass ohne Vater im Patriarchat gar nix geht, ist für uns ganz normal. Dass "Mater semper certa est", ist uns zwar klar; dass das nicht mit gesellschaftlicher Macht über das Leben verbunden ist, sondern mit Ohnmacht, ist uns noch klarer. Es ist zwar so, dass "Pater semper incertus est". Aber: Pater est, quem nuptiae demonstrant. Vater ist, wer durch die Heirat als solcher erwiesen ist, oder anders gesagt: ohne Ehe und ohne sexuelle Kontrolle über das Weib hat Pater keine Ahnung, ob er wirklich Pater ist.

Das Patriarchat braucht diese Gewissheit über die biologische Vaterschaft, und die wiederum ist seit 5000 Jahren der Kontrolle der weiblichen Lust geschuldet. Das ist also nicht nur eine lateinische Floskel oder eine feministische Verschwörungstheorie, sondern eine Tatsache. Aber wer weiß das schon? Wen kümmert es? Dass der wissenschaftlich valide Vaterschaftstest de facto erst seit den 1980er-Jahren möglich ist? Dass trotzdem die biologische Vaterschaft der Angelpunkt von Vererbung von Macht, Geld und Status ist, bis heute?

Gertraud Klemm, geb. 1971, war 2015 Stadtschreiberin in Klagenfurt. Zuletzt erschien 2023
Heribert Corn

Viel Macht auf dünner Beweislage

Es hat uns noch nie gewundert, dass so viel Macht auf so einer dünnen Beweislage fußen kann – über Jahrtausende. Es fiel uns gar nicht ein, uns zu wundern. Denn so gut wie alle Narrative, alle Geschichten, all die Unterhaltung, all die Kinderfilme und Literaturklassiker und sozialen und juristischen Manifeste haben uns das Wundern ausgetrieben. Wir wurden nie etwas anderes als heteronormative Allgemeingültigkeit gefüttert. Im König der Löwen, in Schneewittchen, in Vom Winde verweht, in Krieg und Frieden, in Herr der Ringe, in Avatar, im Familienrecht, in der philosophischen Theorie, in der Bibel. Wir wissen, wer wessen Sohn war, wer welches Reich von wann bis wann regiert hat und verteidigen musste. Wir wissen, wessen Wille geschehen wird, wie im Himmel so auf Erden.

Was, wenn wir einander immer nur jene Teile der Geschichte erzählen, in denen das patriarchale Manifest funktioniert hat, als wäre es ein Naturgesetz:

Also: Mensch unterwirft Natur, Mann unterwirft Frau, ein Volk unterwirft das andere.

Was, wenn man uns die Möglichkeit einer Geschichte gestohlen hat und die einer Zukunft?

Was, wenn die Mutter das Kind bekommt und es gar nicht so wichtig ist, wer der Vater ist?

Wenn Frauen ihre Sexualität einfach so hätten leben können? Wenn die Spezies Mensch als hohes soziales Wesen im Rudel organisiert wäre, also: Männer und Frauen halten zusammen, Frauen und Frauen halten zusammen, und alle halten zu den Kinder und der Alten, im Sinne der Arterhaltung? Wenn da kein Gott wäre, der Grausamkeiten verzeiht und im Tod Belohnung verspricht, sondern wenn das Leben verehrt würde?

Was, wenn das so herablassend zitierte afrikanische Dorf, das wir brauchen, um Kinder großzuziehen, und das wir uns stückchenweise dazukaufen müssen, um über die Runden zu kommen, alltagstauglicher ist als unsere heteronormative, christliche, der ganzen Welt aufgezwungene Missionarsstellung, die wir als Weltordnung feiern? (Gertraud Klemm, 11.5.2024)

Eine ganz normale Familie

Im Alter von zwölf Jahren hielt ich es für normal, dass mein Vater zum dritten Mal verheiratet war.

Ich habe immer geglaubt, meine Familie sei normal. Also normal im Sinne von: wie alle anderen Familien auch, ganz nach Leo Tolstois "Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich". Dass meine Familie eine glückliche war, daran habe ich als Kind nie gezweifelt.

Im Alter von zwölf Jahren hielt ich es für normal, dass mein Vater zum dritten Mal verheiratet war. Seine erste Frau nannte ich Mama, die zweite Mutti, und die dritte sollte ich bei ihrem Vornamen rufen. Wohnungs- und Schulwechsel waren für mich damals beinahe zur Routine geworden – da hatte ich bereits in drei sehr verschiedenen Ländern gelebt, sieben Umzüge mitgemacht (davon zwei in Kinderheime), und genauso oft hatte ich, manchmal mitten im Schuljahr, in eine neue Klasse wechseln müssen.

Ljuba Arnautovic
Ljuba Arnautović, geb. 1954 in Kursk, ist Übersetzerin und Schriftstellerin. 2021 erschien ihr zweiter Roman "Junischnee" (Zsolnay).
Keine

Keine gängige Normalität

In diesem Alter bekam ich zum ersten Mal Einblick in die Familien von Freundinnen, und da dämmerte mir, dass meine Normalität nicht die gängige war. Dort gab es Mütter mit der Berufsbezeichnung "Hausfrau", die täglich warme Mahlzeiten zubereiteten für ihre Kinder, und einen Ehemann, mit dem sie seit der einzigen Heirat an der immer gleichen Adresse wohnten. Ich beneidete meine Freundinnen um die Regelmäßigkeit, die Verlässlichkeit und um das Mittagessen, das nach der Schule für sie bereitstand. Sie wiederum beneideten mich um meine vermeintliche Freiheit.

In den Ehen meines Vaters wurden weitere Kinder geboren. Ich zweifelte nie daran, dass meine jüngere Schwester und ich als seine Erstgeborenen aus der einzig wahren Familie stammten. Er und unsere Mutter hatten sich unter widrigen Umständen in einer – wie man gerne sagt – "schweren Zeit" kennengelernt und sich heftig ineinander verliebt. Gemeinsam erlebten sie zum ersten Mal das Abenteuer, Eltern zu werden und zu sein. Unsere Familie war das Original. Was später folgte, konnten nur Remakes, Kopien, Coverversionen sein.

Die Kinder aus seiner nachfolgenden Ehe wiederum haben die Gemeinschaft, in der sie gezeugt worden sind, als die zentrale und endgültige im Leben ihres Vaters erfahren, ganz einfach, weil es die zentrale und endgültige in deren eigenem Leben ist. Alles davor und danach ist nicht von Bedeutung. Er hatte sich schließlich in ihre Mutter verliebt, sich für sie und gegen die anderen Frauen entschieden und alles Vergangene zurückgelassen.

Später würde er sich noch eine vierte Frau nehmen, und der Sohn aus dieser letzten Ehe ist überzeugt davon, dass sein Vater endlich – wenn auch schon ziemlich spät im Leben – bei der richtigen Partnerin, bei seiner wahren Liebe angekommen ist. Alles Vorherige kann nur Versuch und Irrtum gewesen sein. (Ljuba Arnautović, 11.5.2024)

Laura Freudenthaler, geb. 1984 in Salzburg, veröffentlichte zuletzt 2023 das Clima-Fiction-Buch "Arson" (Jung und Jung).
Gianmaria Gava

Familie ist überall

Ein Schreiben über Familie, über familiäre und andere Beziehungen ist höchst politisch.

Man bittet mich um ein Statement zum Thema Familie. Das englische Wort "statement" ist seit 1750 belegt und bezog sich ursprünglich auf die Berichte der East India Company. Es ging um Rechnungen und Umsätze, Frachten und Zölle. Statement: ein Dokument, das Soll und Haben ausweist. Das finde ich treffend und anregend für das Nachdenken über Familie: das koloniale Ausbeutungs- und Unterwerfungsunternehmen der damaligen Weltmacht Großbritannien, Vorläufer heutiger Konzerne und Wegbereiter der Globalisierung, ebenso wie die Aufstellung von Schulden und Guthaben.

Mittlerweile steht Statement als Fremdwort im Duden: "Verlautbarung" beziehungsweise "öffentliche [politische] Erklärung oder Behauptung". Dass Familie politisch ist, grundpolitisch, dem, was wir üblicherweise als Politik bezeichnen – die Organisation von Gesellschaft und Gesellschaften beziehungsweise Staaten auf nationaler und internationaler Ebene –, vorgelagert und zugrunde liegend, als Keimzelle, als Brutstätte, als Material für die Politik auf höherer Ebene, wobei höher hier den größeren Zusammenhang in einem quantitativen Sinne meint. Weshalb ich seit jeher darauf beharre, dass ein Schreiben über Familie, über familiäre und andere Beziehungen und Zusammenhänge politisch ist, höchst politisch.

Unausgesprochene Frage

Was mich zum Anlass für mein Konsultieren diverser Wörterbücher bringt. Ich reagiere höchst verwundert auf die Einladung zu den Innsbrucker Wochenendgesprächen: Warum lädt man mich zum Thema Familie ein? Der noch ungedachte Gedanke, den ich hinter dieser unausgesprochenen Frage aufspüre, lautet: Ich habe keine Familie. Das soll wohl heißen, keine Kinder, keine standesamtliche, kirchliche oder eingetragene Partnerschaft (im Zeitalter der Projekte ist das die richtige Bezeichnung für das Team zur Bewältigung der Challenges, die das Leben sind).

Mit noch mehr Verwunderung konstatiere ich, dass ich, erstens, Familie mit Kleinfamilie und mit eigenen Kindern gleichgesetzt, und dass ich, zweitens, einen Moment lang, das Diktum der sogenannten Authentizität als einzige Legitimation, sich zu einem Thema zu äußern, akzeptiert habe. Ist Authentizität die Erfahrung am eigenen Leibe?

Ich betrachte meine bisherigen Texte. Meine Arbeit ist ein Beziehungsgeflecht. Familie ist überall. Statement: "a formal written or oral account of facts, theories, opinions, events etc., (now) especially as requested by authority, or issued to the media." Ich bin Schriftstellerin. Ich erzähle, ich beschreibe, ich suche nach sprachlicher Form. "Document setting out the items of debit and credit between two parties." Ein Schriftstück zur Offenlegung von Soll und Haben. Debit bedeutet auch: Schuldposten, Belastung. Credit bedeutet auch: Glaube, Vertrauen, Zutrauen. (Laura Freudenthaler, 11.5.2024)

Rolf Lappert
Rolf Lappert, geb. 1958 in Zürich. Jüngste Buchveröffentlichung: "Leben ist ein unregelmäßiges Verb" (Hanser).
Arne Dedert / dpa / picturedesk.

Wo die Familie fehlt

Wenn sie fehlt, entwickelt sich oft eine diffuse Sehnsucht nach ihr.

Eigentlich geht es in all meinen Romanen um Familie. Vorausgesetzt, man weitet den Begriff "Familie" ein wenig aus und ist bereit, darunter auch Schicksalsgemeinschaften zu verstehen. Und zudem vorausgesetzt, man geht so weit, der Abwesenheit von Familie ähnlich viel Gewicht beizumessen wie der tatsächlichen Existenz derselben. Denn wo die Familie fehlt, entwickelt sich oft eine diffuse Sehnsucht nach ihr; es wird etwas vermisst, das gemeinhin Geborgenheit genannt wird, ungeachtet der Tatsache, dass familiäre Strukturen längst nicht immer Schutz und Sicherheit garantieren.

In meinem Roman Der Himmel der perfekten Poeten aus dem Jahr 1994 ist es eine Handvoll italienischer Autoren, die in einem ehemaligen Motel in der Wüste Arizonas – also weit weg von ihren realen Familien in der Heimat – das genaue Gegenteil einer intakten Gemeinschaft bilden: hadernde, launische, streitende Kinder, behütet vom greisen, gütigen Stiftungsgründer und Ersatzvater. Im Roman Die Gesänge der Verlierer von 1995 werden durch einen Hurrikan obdachlos gewordene arme Schlucker zu unfreiwilligen Bewohnern einer Stadt in Florida und sollen nach dem Willen ihres unsichtbaren Gönners zu einem Chor – also zu einer Art harmonisch funktionierender und singender Familie – zusammenwachsen, obwohl sie einander völlig fremd sind.

Wilbur aus dem Roman Nach Hause schwimmen von 2008 hat allen Grund, sich nach Geborgenheit zu sehnen, denn nachdem seine Mutter bei seiner Geburt stirbt und der Vater verschwindet, wandert er von Pflegefamilie zu Pflegefamilie, bevor er am Ende sein Glück in einer menschlichen Patchwork-Konstellation findet. Im 2010 erschienenen Roman Auf den Inseln des letzten Lichts verlässt die Mutter Mann und Kinder und zerstört damit das Idyll, mit dem das Konstrukt Familie zu Unrecht gleichgesetzt wird.

Geschichte einer beschädigten Familie

Auch der Jugendroman Pampa Blues erzählt die Geschichte einer beschädigten Familie: Der Vater ist tot, die Mutter als Jazzsängerin unterwegs, der Sohn mit dem Großvater alleine in der öden Provinz. Explizit um eine Familie geht es im Roman Über den Winter von 2015, aber natürlich liegt auch da vieles im Argen, was letztendlich den Reiz des Genres "Familienroman" ausmacht, denn nichts stelle ich mir langweiliger vor, als eine heile Welt zu beschreiben, in der sich alle einig sind und lieben.

In meinem letzten Roman Leben ist ein unregelmäßiges Verb aus dem Jahr 2020 kann man ebenfalls viel Familie herauslesen, wenn man gewillt ist, denn da geht es um vier Kinder, die in einer Landkommune aufwachsen und mit zwölf, als die Behörden der illegalen Gemeinschaft ein Ende bereiten, entweder zu Verwandten oder in Pflegefamilien kommen. Es scheint so, als käme ich in meinen Büchern nicht um das Thema herum, dem die diesjährigen Innsbrucker Wochenendgespräche gewidmet sind. Das wird auch in meinem nächsten in Arbeit befindlichen Roman nicht anders sein. Und das ist gut so. (Rolf Lappert, 10.5.2024)