Von Günter Müchler

Günter Müchler

Balance halten ist das, was Konservative auszeichnet. Vor hundert Jahren hat Thomas Mann diese Fähigkeit, die im Intuitiven wurzelt und das Vernünftige nicht aus dem Blick verliert, klassisch formuliert: „Ich bin ein Mensch des Gleichgewichts. Wenn das Boot nach links zu kentern droht, lehne ich mich automatisch nach rechts. Und umgekehrt“. Auf dem Weg nach Maß und Mitte ist die Merz-CDU auf ihrem jüngsten Parteitag ein gutes Stück vorangekommen. Das neue Grundsatzprogramm setzt die Freiheit wieder an die Spitze der Grundwerte und re-orientiert die Politik auf den Menschen, der für sich selbst einsteht. Oder besser: einzustehen hat. Damit hat die Partei, die 2021 am Tiefpunkt war, Teil eins der Reifeprüfung bestanden.

Dies ist vor allem Friedrich Merz‘ Verdienst. Der Sauerländer, der erst im dritten Anlauf Parteichef wurde, hat in den letzten Monaten deutlich an Statur gewonnen. Dabei ist er keiner, dem die Herzen automatisch zufliegen. Aber Publikumslieblinge waren weder Konrad Adenauer noch Helmut Kohl. Man traute ihnen jedoch zu, das Boot zu steuern, auch bei Gegen- und Seitenwind. Deshalb wurden sie gewählt.

Merz muss allerdings noch beweisen, dass er Wahlen gewinnen kann. Dazu gibt es bei den Europawahlen im Juni und dann im Spätsommer dreimal in Ostdeutschland ausreichend Gelegenheit. Beim Bundesparteitag in Berlin stärkten ihm die Delegierten erwartungsgemäß den Rücken. Die Riege der CDU-Ministerpräsidenten schwor Eintracht, obwohl es bei ihnen mindestens zwei gibt, die sich für die besseren Anführer halten. Aber Schlechtreden kommt nicht gut an in der aktuellen Kampflage. Im Herbst sieht man weiter.

Die Wahlaussichten für die Union sind durchaus widersprüchlich. Einerseits, weil es wohl noch nie eine Bundesregierung gegeben hat, die so rasch und so radikal ihren Kredit verspielte. Folgt man Umfragen, kommen die Drei von der Ampel zusammen auf rund ein Drittel Zustimmung. Das bedeutet Minusrekord, weshalb die Christdemokraten eigentlich frohlocken müssten. Der Haken ist, dass sie selbst erschreckend wenig aus der Schwäche der Ampel gemacht haben. Aus dem Jammertal von 2021 kommend, haben sie gerade mal sechs Prozent zugelegt. Das ist nicht überwältigend.

Die Union macht die Erfahrung, die auch andere schon machen mussten.  Bergauf geht langsamer als bergrunter. Man muss in die Zahlen schauen, um zu ermessen, was 2021 passierte. Die 24,1 Prozent, die mit dem Kanzlerkandidaten Armin Laschet eingefahren wurden, waren das schlechteste Wahlergebnis seit 70 Jahren, seit Bestehen der Bundesrepublik. Selbst 1949, bei ihrem ersten Auftritt, holten CDU und CSU sieben Prozent mehr.

Die Schuldfrage wurde auf dem Parteitag konsequent ausgeklammert. Dass Laschet hauptverantwortlich für das Desaster war, glauben wohl die wenigsten Parteimitglieder. Großer dürfte die Zahl derer sein, denen in diesem Zusammenhang der Name Söder einfällt. Oder der Name Merkel. Aber Namen wurden jetzt in Berlin nicht genannt. Merz erwähnte Angela Merkel in seiner Rede kein einziges Mal. Eine Pflichtübung wäre die Begrüßung gewesen. Normalerweise füllen auf Parteitagen die verdienstvollen Ahnen die erste Sitzreihe. Aber die Ex-Kanzlerin war nicht da. Überhaupt war sie nach ihrem Eintritt in die Rente bei keiner Veranstaltung der Partei, der sie doch so lange selber vorstand. Man hat den Eindruck, KI – also die Künstliche Intelligenz – habe Merkel aus allen christdemokratischen Familienfotos wegretuschiert.

Dabei verfügt Angela Merkel noch immer über eine nennenswerte Anhängerschaft. Diese besteht keineswegs nur aus der von Daniel Günther und Hendrik Wüst gebildeten Erbengemeinschaft.  Auch zahlreiche CDU-Normalos haben den Respekt vor der Lebensleistung der Ostdeutschen, die so lange skandalfrei regierte und im Ausland hoch angesehen war, bewahrt. Und dass die erste Frau im Kanzleramt aus ihrem Verein kam – auch darauf sind sie unverändert stolz.

Aber auch die Treuesten der Treuen müssen einsehen, dass die CDU in summa mit Merkel nicht gut gefahren ist. Das liegt an schweren Fehlern und falschen Weichenstellungen, die in ihrer Tragweite erst mit Verzögerung offenkundig wurden. Auch war Merkel keineswegs die Bringerin bei Wahlen, wie man sich lange einredete. Tatsächlich schaffte sie in ihren 16 Kanzlerjahren nur ein einziges Mal ein Vierziger-Wahlergebnis, etwas das bis dahin für die Union eine Selbstverständlichkeit war. Angela Merkel habe aufgrund ihres Profils Hunderttausende Grün-Wähler gekapert, behauptete kürzlich Daniel Günther, der in Treue feste Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Mag sein, dass das stimmt. Aber gleichzeitig gingen Millionen Stammwähler von der Fahne. Und am Ende der Reise lag die CDU am Boden.    

Die Stammwähler zurückzuholen und das Ruderboot CDU, das nach links zu kentern drohte, wieder in die Balance zu bringen, ist das Ziel, das Merz und sein Generalsekretär Carsten Linnemann anstreben. Der Parteitag hat es durch die Billigung des Grundsatzprogramms notariell beglaubigt. Wer die Neuausrichtung als Rechtsruck bezeichnet, macht es sich zu leicht. Ist etwa die Forderung nach Aktivierung der Wehrpflicht „rechts“? Sie wird auch vom sozialdemokratischen Verteidigungsminister erhoben und ist, allen respektablen Einwänden zum Trotz, die notwendige Antwort auf die durch Putins Krieg dramatisch veränderten Sicherheitslage. Thema Kernenergie: Ist es „rechts“, zu verlangen, dass Deutschland sich aus der Isolation befreit und endlich zulässt, dass die Kernenergie einen Beitrag leisten kann im Kampf gegen die Erderwärmung? Oder Bürgergeld: Ist es „rechts“, wenn man es falsch findet, dass Fehlanreize Menschen an der Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit hindern?

Welchem möglichen Partner die CDU durch ihre Neuausrichtung näher oder ferner rückt – diese Frage wurde in Berlin sinnvollerweise nicht gestellt. Es ist nicht die Aufgabe eines Grundsatzprogramms, Koalitionsoptionen den Weg zu bereiten. Die FDP kommt mit der Merz-CDU am besten zurecht, was Wunder. Wenig war auf dem Parteitag von der SPD die Rede. Die Dauerrivalität von Christdemokraten und Sozialdemokraten hat über Jahrzehnte die Bundespolitik bestimmt. Mittlerweile ist die SPD jedoch nur noch ein Schatten ihrer selbst. Unattraktiv, berechenbar und altbacken hat sie das Image von Bückware im Supermarkt. Welch ein Jammer! Politisch.

Das verhält sich anders mit den Grünen. Sie seien der Hauptgegner der Union. Diese Klassifizierung wiederholte Merz auf dem Parteitag nicht. Bei der Öko-Partei hat die raue Regierungsverantwortung Spuren hinterlassen. Sie setzt nicht mehr so selbstverständlich die Themen wie ehedem. Jens Spahn, Innenpolitiker der CDU, schwang sich zu der kühnen Behauptung auf, mit der „kulturellen Hegemonie“ der Grünen sei es zu Ende. Das muss nicht so sein. Indessen sind die Träume, als neue Volkspartei könnten die Grünen den von der SPD freigemachten Platz zu besetzen, fürs erste wohl ausgeträumt. Momentan sind die einstigen Sonnenblumen-Freunde wieder das, was sie die längste Zeit waren – eine Milieupartei.

Den größten Beifall erhielt Merz in Berlin für die klare Abgrenzung gegen die AfD. Die Spitze der rechtsextremen Partei, die damit wirbt, alles was sie wolle für Deutschland zu wollen, hat derzeit Mühe, dem Eindruck entgegenzuwirken, führende Kameraden wollten möglichst ungehindert und gut bezahlt für Putin und Chinas Xi Jinping spionieren. Ob der Verratsverdacht den „harten“ Anhang beeindruckt, ist zweifelhaft. Der hat sich in einer aus tausend Verschwörungstheorien fabrizierten Wagenburg eingerichtet. Immerhin aber steht der AfD jetzt eine zunehmend selbstbewusste CDU gegenüber. Im Fernsehduell hat der thüringische CDU-Spitzenkandidat Mario Vogt dem AfD-Rechtsaußen AfD-Höcke gezeigt, was eine Harke ist. Sorge bereiten muss den Rechtsauslegern ferner das erstmalige Auftreten der Wagenknecht-Partei. Als neue Kraft sozialnationalistischen Zuschnitts kann man dem BSW durchaus zutrauen, im Lager der Entrechteten und Übelgelaunten erfolgreich zu wildern.

Das Zauberwort von der Vielfalt, das überall dort, wo man progressiv sein will, mit großer Inbrunst hergebetet wird, scheint seine ganze Magie auf die Parteienlandschaft zu konzentrieren. Die Folgen wird man nach den drei ostdeutschen Landtagswahlen mit voller Wucht zu spüren bekommen. Die Bildung von Regierungsmehrheiten, schon jetzt eine Herausforderung für Hochbegabte, wird kaum möglich sein, ohne dass sich jemand dabei die Finger verbrennt. Teil zwei der Reifeprüfung ist jedenfalls für Friedrich Merz und die CDU in Sichtweite.   

     

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.    

 

    

 

 

 

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