Morgen esse ich mit einem Union-Fan zu Mittag. Möglich, dass einer von uns dem Abstieg entgegensieht. Er wird im Müngersdorfer Stadion gewesen und den einen oder anderen Fantod gestorben sein. Ich dagegen flüchte allwöchentlich vor der realistischen Einschätzung „Aus eigener Kraft schafft Borussia im Moment gar nix.“ Meinen Friseurtermin, der Gute ist Borussiafan wie ich, schiebe ich bis zum Saisonende vor mir her.

Der “lebenslängliche Bayer” Andreas Rüttenauer/taz, ebenso lebenslänglich 60zger-Fan, sinniert über das Menschliche der Superstars. Was den Schalker Neuer betrifft, kann ich das bestätigen: gegen uns hat er immer ein besonders liebes Geschenk dabei. Ob ihn das für das EM-Aufgebot qualifiziert? Darüber können Sie hier abstimmen.

Was Fans wie mich fertig macht, und es schon beim hochverehrten Hans Schäfer getan hat, ist, wie das neoliberale Sein das Bewusstsein der jungen Männer bestimmt. Bei beiden Borussias war es in dieser Saison extremistisch zu sehen (leider auf unterschiedlich hohem Niveau). In von den Medien komplett ausgeleuchteten Spitzenspielen sind sie zu Spitzenleistungen in der Lage. Im Alltag dagegen “dosieren” sie ihren Einsatz, die Verletzungsgefahr und die Risiken für den Fortgang ihrer Karriere. Kann mann das übelnehmen? Die meisten Fans tun es, wg. der Gehaltsklasse.

Aufgrund solcher Widersprüche lieben alle, wirklich alle, Christian Streich. Johannes Kopps taz-Würdigung erfasst es korrekt: Christian Streich hört auf: Abschied vom Guten – Christian Streich sieht seinen letzten beiden Spielen als Bundesligatrainer entgegen. Der Übungsleiter galt als Mann, der etwas zu sagen hat.”

Im unaktuellen ZDF-Sportstudio hatte der Gute letzten Samstag einen verdienten Auftritt. Mir fiel angenehm auf, wie cool er die die ranschmeisserische und effekthascherische Interviewtechnik des Moderators an sich abperlen liess. Das hatte Klasse. Und danke, danke, danke für diese Lebensleistung in diesem irrsinnigen gesellschaftlichen Umfeld!

Dass so ein Streich (oder auch ein Klopp) in Projektionen ständig zu geeigneten Politikern imaginiert wird (vom Bundespräsidenten bis zum OB), sagt viel über das Ansehen demokratischer Politik, und ist ebenso ahnungslos über diese Personen, die sich selbst am besten kennen. Darum machen sie jetzt Pause, oder hören vielleicht ganz auf (weil sie es sich leisten können). Das ist der heisse Scheiss der beschleunigten kapitalistischen Gegenwart.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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