Blutstück • Kim de l’Horizon • Wiener Festwochen • Kritik
Seid lieb zueinander!
20. Mai 2024
„Blutstück“ – nach dem Bestseller „Das Blutbuch“ von Kim de l’Horizon begeisterte im Volkstheater hauptsächlich junges Publikum der Wiener Festwochen.
Michaela Preiner
"Blutstück" - Wiener Festwochen (Foto Diana Pfaffmatter)
Foto: (Diana Pfaffmatter)

Wenn sich 832 Menschen in einem Raum zusammenfinden, bilden sie nach Kim de l’Horizon noch keine Gemeinschaft, sondern nur eine Zusammenkunft. 2022 gewann „Das Blutbuch“ von Kim sowohl den Schweizer als auch den deutschen Buchpreis – und das völlig zurecht. Sprachlich als auch inhaltlich überzeugte es dermaßen, dass es als Ausnahmeerscheinung in der Literatur der letzten Jahrzehnte gelten darf. Sowohl das Thema – die familiäre Geschichte einer queeren Person und deren Erkennen der vererbten Traumata als auch die sprachliche Umsetzung, in der sich Hochdeutsch mit Englisch und auch Schweizer Dialekten die Hand reichen, sind so fulminant gestaltet, dass eine dramatisierte Umsetzung mit gröbsten Herausforderungen zu kämpfen hätte.

"Blutstück" - Wiener Festwochen (Foto Diana Pfaffmatter)

„Blutstück“ – Wiener Festwochen (Foto Diana Pfaffmatter)

Die Regisseurin Leonie Böhm, bislang spezialisiert auf Literaturklassiker, ist klugerweise vielen Fallen, welche eine Bühnenfassung mit sich gebracht hätte, ausgewichen und hat gemeinsam mit Kim das „Blutbuch“ zu einem „Blutstück“ erweitert. Vincent Basse, Gro Swantje Kohlhof, Sasha Melroch, Lukas Vögler sowie Kim selbst fanden sich zu einem Team zusammen, das sich dem Text näherte und aneignete, aber in eigenständigen Passagen neu zusammensetzte und mit intensiver Körperarbeit zu einem anderen Ganzen werden ließ. Kim selbst eröffnete diesen Reigen im Bühnendunkel mit Glitzeroutfit und einem Lämpchen, assoziativ wie einst Diogenes, der damit auf der Suche nach einem „wahren Menschen“ war. Laut seinem intonierten Song, Robbie Williams möge zum Teil gnädig weghören – ist er aber auf der Suche nach der wahren Liebe, was im Grunde ja auch nicht viel etwas anderes ist.

Diese Suche bildet das Hauptthema der Inszenierung. Es ist eine Suche nach einem Gegenüber, dem man vertrauen kann, aber auch eine Suche nach dem eigenen Ich, das oft schwer zu fassen ist. Dabei geht es immer ‚political correct‘ zu. Die häufige Interaktion mit dem Publikum beginnt und endet immer mit der Frage „Ist, dir das recht, darf ich das mit dir machen?“ und schrammt dennoch in einigen Momenten, wenn auch ungewollt, knapp am peinlich Humorigen vorbei. Wenn Lukas Vögler sich anhand des Schuhwerks von Peter aus dem Publikum sich in dessen Körperwahrnehmung versetzt oder Kim Georg aus der 8. Reihe coram publico zu Solidarität verpflichtet, möchte man nicht in jedem dieser intensiven Augenblicke in deren Haut stecken. Letztere Aktion nimmt jene Empfehlung aus dem Erste-Hilfe-Kit auf, die einem einbläut, in brenzligen Situationen immer einen konkreten Menschen um Hilfe zu bitten und nie eine ganze Menge entpersonalisiert um Beistand anzuflehen. Und diese Empfehlung funktioniert auch in dieser Regieumsetzung. Das Publikum fühlt mit, sowohl mit Kim als auch mit Georg. Mission completed also.

Zwischen diesen beiden Szenen hat viel Lustvolles Platz. Auf der Bühne, ausgestattet mit Soft-Material wie bunten Tüchern und weichen Stein-Kissen (Zahava Rodrigo ), erklingt mehrfach chorischer Gesang mit Gitarrenbegleitung vom Ensemble. Gro Swantje Kohlhof brilliert mit einem Solo, in welchem sie den ersten Ritter, entstanden aus der Ursuppe, sowie die ersten weibliche Großmeere, wie Kim die weiblichen Ahnen im Blutbuch benennt, zum Leben erweckt. Dabei veranschaulicht sie, ausgestattet mit allen erdenklichen schauspielerischen Finessen, den vergeblichen weiblichen Kampf um eine ungewollte Geschlechterzuschreibung. Zugleich wird aber auch klar, dass aggressives, männliches Verhalten sich als menschliche Konstante im Laufe der Jahrtausende so etablierte, dass es in jedem und jeder von uns zu finden ist.

"Blutstück" - Wiener Festwochen (Foto Diana Pfaffmatter)

„Blutstück“ – Wiener Festwochen (Foto Diana Pfaffmatter)

Diese Aggressivität auszurotten und gegen einen liebevollen Umgang miteinander auszutauschen ist das Ensemble angetreten, aber auch, darauf aufmerksam zu machen, dass Personen jeglicher Geschlechtereinteilung ein Recht auf eine Wahrnehmung auf Augenhöhe all jener haben, die der CIS-Kategorie zugerechnet werden. Die Unbestimmtheit der Geschlechter kommt auch in den Kostümen von Mascha Mihoa Bischoff gut zum Ausdruck. Sie kombiniert männliche und weibliche Kleidungsstücke derart, dass sich daraus eine natürliche, ja wohltuende, nicht-binäre Ausstrahlung ergibt. Es ist schlussendlich das Thema queere Personen mit ihrer Verletzbarkeit und ihrem Wunsch nach Anerkennung sichtbar zu machen, welches den Abend rechtfertigt, denn: Postdramatisches Theater ist nichts Neues, genauso wenig wie ein gewisser Impro-Anteil im Geschehen oder der Einsatz von Fäkalausdrücken. All das wurde bereits in den späten 60ern und frühen 70ern an deutschsprachigen Theatern erprobt.

Ob sich Frauen ihr Wahlrecht erkämpfen mussten oder später ihr Recht auf ihren eigenen Körper – jenes Recht, das heute sogar in vielen Demokratien wieder zurückgeschraubt wird, ob es der Kampf um das Recht auf Homosexualität war, welcher den Diskurs der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bestimmte oder jener aktuelle auf eine individuell determinierte Gender-Zuschreibung – immer zeigte sich ein Muster: Nur aufgrund des Einsatzes einiger weniger, ausgestattet mit dem Mut, ihre Geschichte öffentlich zu machen und persönlichen Angriffen zu widerstehen, kam und kommt es tatsächlich zu gesellschaftlichen Veränderungen, die sich judikativ und legislativ niederschlugen und auch zukünftig niederschlagen werden. Und dieses Aufzeigen, sowohl literarisch als nun auch auf der Bühne, gelingt Kim de l’Horizon auf überzeugende und zugleich unglaublich sympathische Weise.

Es mag eine Frage des Alters und der Erfahrung sein, welchen Widerhall diese Inszenierung in einem auslöst, wenn man sie künstlerisch betrachtet. Neue dramaturgische Ansätze lassen sich darin nicht finden. Sieht man aber von dieser Beurteilung ab und nimmt man die euphorische Publikums-Stimmung am Ende der Vorstellung auf, darf man Folgendes feststellen: Dem Team um Kim und Leonie ist es gelungen, das hochbrisante Gender-Thema so in Szene zu setzen, dass es – zumindest im geschützten Bereich des Theaters – auf größtmögliche Akzeptanz traf.

Klug, wie Kim ist, relativierte er jedoch am Schluss die Idee, dass aus der Zusammenkunft aller Leute im Saal an diesem Abend inzwischen doch eine Gemeinschaft geworden sei. Denn diese würde sich nun zumindest als eine Bakteriengemeinschaft erweisen, auch gegen den Willen jener, die sich von Beginn an jeglichen Gemeinschaftssinns verwehrt hätten. Welch clevere, zugleich jedoch auch ernüchternde Erkenntnis.

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