Massenwahn: C. G. Jung hat uns gewarnt - RPP Institut

Massenwahn: C. G. Jung hat uns gewarnt

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Ende der 1950er Jahre machte der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung eine psychologische Analyse seiner Zeit. Die Welt stand am Beginn des Kalten Krieges. Die Bedrohung einer nuklearen Katastrophe war allgegenwärtig. Trotz der angespannten politischen Lage sah Jung die Ursache der Konflikte nicht in den äußeren Umständen, sondern in der Psyche des Einzelnen. Um nicht zum Opfer eines Massenwahns zu werden, muss der einzelne Mensch sein Innenleben besser verstehen.    

Machtgelüste

Im Jahr 1957 war die Menschheit aufgrund des “eisernen Vorhangs” in zwei Hälften gerissen. Eine Stimmung des nahenden Weltuntergangs lag in der Luft. Ein Atomkrieg wäre in der Lage, die Menschheit auszulöschen. Doch die existenzielle und politische Notlage erzeugte nicht nur apokalyptische Visionen, sondern auch totalitäre Utopien.

Vor diesem Hintergrund dachte C. G. Jung über die Zukunft Europas nach.* Jung warnte vor einer Massenhysterie, die sich wie ein Brandfeuer ausbreiten könnte. Im Schatten utopischer Machtphantasien seien Europäer gefährdet, in eine “geistige und moralische Finsternis” eines absoluten Staates zu stürzen.

Fackelträger der politischen Utopien seien fanatische Minderheiten, die die Massen beherrschen wollen. Ihre Slogans führen zu einer Art Gruppendenken, das “sich zunehmend zu einer psychischen Epidemie entwickelt”. Der einzige Widerstand gegen die Ausbreitung dieser giftigen Gesinnung sei die kritische Vernunft.

Wenn aber die Temperatur der Emotionen einen bestimmten Grad überschreitet, ist selbst die kühle Vernunft machtlos. Denn selbst in normalen, scheinbar vernünftigen Menschen schlummern Ressentiments, also ein tief empfundener Groll. Sie bieten einen fruchtbaren Boden für Vorurteile und Machtgelüste. Verbitterung und entsprechende Motive sind der Ausgangspunkt für eine psychisch kranke Gesellschaft.

Wer sich selbst zu wenig kennt, kann sich leichter durch Gruppendenken anstecken. Er ist der Manipulation und der psychischen Infektion schutzlos ausgeliefert. Die gute Nachricht: Wir können uns vor einer psychischen Epidemie schützen, wenn wir verstehen, was ihre Voraussetzungen sind.

Die einsamen Massen

Der Massenwahn wird durch die zunehmende Einsamkeit begünstigt. Diese führt dazu, dass die Gesellschaft “atomisiert”. Das heißt, die Beziehungen der Menschen untereinander werden schwächer und das gegenseitige Vertrauen sinkt. Je schwächer aber die Beziehungen von Einzelpersonen sind, desto mehr Bedeutung gewinnt die staatliche Organisation. Die Masse zu mobilisieren ist das Ziel totalitärer Ideologien.

Jung erklärte, dass einsame Massen durch die Versprechen eines starken Staates leichter verführbar seien. Mit staatlich garantierter Versorgung, Unterkunft, Bildung und Unterhaltung werden die Massen angelockt. Doch der Preis für das staatliche Paradies ist die schrittweise Beschneidung der individuellen Freiheit. Der Mensch verkümmert zu einer bürokratischen Nummer, die staatlich verwaltet wird.

So erstarkt der Staat, der scheinbar zum gütigen Versorger aller wird. Doch in Wirklichkeit dient ein absoluter Staat jenen Individuen, die ihn zu lenken wissen. Je mehr die Abhängigkeit vom Staat wächst, desto hilfloser und schwächer wird der Einzelne. Der Weg zur Tyrannei und Versklavung der Massen steht somit offen.

Der Schutz vor Massenwahn

Wo der Staat zur fanatischen Ersatzreligion wird, erstickt das freie Denken und Handeln des Einzelnen. Die Lösung gegen Massenwahn und Diktatur sah Jung nicht in politischen Maßnahmen, sondern in der Antwort des Einzelnen. Ein geordnetes Individuum zeichnet sich durch drei Dinge aus: Freiheit, Selbsterkenntnis und authentische Beziehungen.

Wahre Freiheit, erklärte Jung, sei „die Freiheit vor Gott und vom Staat“. Um Menschen zu entrechten und zu versklaven, muss man ihnen zuerst den Glauben nehmen. Ohne die Freiheit zu Glauben verliere der Mensch seine Würde. Der Staat kann dem Menschen keinen Lebenssinn geben, egal wie hoch seine Sozialleistungen sind: “Glück und Zufriedenheit, seelisches Gleichgewicht und Sinn des Lebens kann nur der Einzelne erfahren, nicht aber ein Staat, der droht übermächtig zu werden und den Einzelmenschen zu erdrücken.“   

Zur Selbsterkenntnis zählte Jung eine gelebte Form der Religiosität. Diese habe die Kraft, den notwendigen Widerstand gegen Massenwahn und Militärdiktatur aufzubringen. Denn das Göttliche stelle eine außerweltliche Autorität dar, die der weltlichen Macht erhaben ist. Entscheidend sei die persönliche Beziehung zu Gott. Aus der individuellen Verantwortung vor Gott entwickelt sich eine persönliche Ethik, die die konventionelle Moral übertreffe. Außerdem umfasst Selbsterkenntnis die demütige Anerkennung des eigenen „Schattens“, also die eigene Neigung zum Bösen.

Einsamkeit, Misstrauen und Spaltung führen in die Diktatur. Um diese Entwicklung zu verhindern, bedarf es eines besonderen Bindemittels. Ein solches sah Jung im Prinzip der Nächstenliebe. Zusammenhalt und selbstlose Beziehungen seien die Voraussetzung für eine freie und gesunde Gesellschaft.

Jung warnte Europa vor einer Massenhysterie, die den Staat zur neuen Religion erheben würde. Nur ein Bekenntnis zur individuellen Freiheit, Selbsterkenntnis und Nächstenliebe könne den kollektiven Wahnsinn stoppen. Die innere Erfahrung eines göttlichen Du bewahrt das Ich davor, in die anonyme Massengesellschaft abzugleiten. Wer in Gott einen Anker findet, vermag weltlichen Mächten zu trotzen.

*Quelle: Jung, Carl Gustav. 1957. “Gegenwart und Zukunft”. Sonderbeilage zur Märznummer 1957 der Schweizer Monatshefte, Zürich.

Bildquellen
Tsvetoslav Hristov, https://www.pexels.com/de-de/foto/baum-unter-wassergraspaont-2499862/
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