Am 10. Mai 1940 griff eine deutsche Armee zum dritten Mal innerhalb von siebzig Jahren Frankreich an und verletzte dabei die Integrität Belgiens, der Niederlande und Luxemburgs. Schnell wurde die nördliche Hälfte Frankreichs besetzt, während sich in der nicht besetzten Zone südlich der Demarkationslinie eine kollaborationistische Regierung unter General Pétain etablierte. Damit beginnen vier Jahre des Terrors, der Menschenrechtsverletzungen, der Deportationen und Denunziationen, aber auch des heldenhaften Widerstands gegen das Hitlerregime. Das Ende dieser dunklen Epoche der Besatzung und der Kollaboration begann mit der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 und führte zur Befreiung von Paris und ganz Frankreich. Am 7. Mai 1945 wurde die deutsche Kapitulation in Reims und am 8. Mai 1945 in Berlin unterzeichnet.

Angesichts der moralischen, politischen, institutionellen und physischen Zerstörungen sowie der unzähligen Toten und Vermissten, die aus dem von den Nationalsozialisten geführten Krieg resultierten, und angesichts der Schrecken der Konzentrations- und Vernichtungslager und ihrer unsäglichen Verbrechen befand sich ein Großteil der deutschen Bevölkerung nach dem Mai 1945 in einer Art Lethargie, einem Zustand der Latenz, aus dem kein Ausweg sichtbar zu sein schien (Gumbrecht 2012: 64-66).

Das Buch „Nach 1945“ des bedeutenden Romanisten Hans Ulrich Gumbrecht, das 2012 in Berlin erschien, liefert uns Hinweise und Interpretationen zum Verständnis der Nachkriegszeit. Es setzt sich mit der Individualpsychologie der Überlebenden auseinander und vergleicht diese unter anderem mit literarischen Werken von Sartre, Beckett, Borchers, Benn, Andersch und Faulkner. Ein Beispiel: die Unmöglichkeit für die Eingeschlossenen in „Huis Clos“, aus ihrer Situation auszubrechen oder echte menschliche Kontakte zu haben, oder in „Draußen vor der Tür“ (Wolfgang Borchert 1947) die Unfähigkeit der Überlebenden, wieder Kontakt mit dem Kriegsgefangenen aufzunehmen, der nach Jahren des Eingesperrtseins nach Hause zurückkehrt. Das Leitmotiv für diese Zeit ist zum einen das Fehlen von Aus- und Eingängen für die Menschen der Nachkriegszeit und zum anderen der Mangel an Wahrhaftigkeit in den menschlichen Beziehungen. Sie sehen sich in einer katastrophalen Situation gefangen, sowohl in materieller als auch in moralischer Hinsicht: Alles ist blockiert, da der Krieg nicht nur unauslöschliche Spuren an den Gegenständen und Körpern der Menschen hinterlassen hat, sondern auch alptraumhafte Spuren in ihren Seelen. So hat sich im Nachkriegsdeutschland eine unzweifelhafte Unbeweglichkeit breit gemacht. Schnell entsteht eine Art Weigerung, der Nazi-Vergangenheit ins Auge zu blicken und Erinnerungsarbeit zu leisten. Die öffentliche Meinung wendet sich sehr schnell von dieser schweren Vergangenheit ab, um sich um die individuellen Bedürfnisse, das Überleben zu kümmern. Ein Leben, das nach und nach wieder aufgebaut wird, von Tag zu Tag und in extremer Unsicherheit. Sehr schnell möchte man einen Schlussstrich ziehen, die Vergangenheit vergessen, ohne groß über die dunklen Jahre der Nazi-Diktatur nachzudenken. Margarete und Alexander Mitscherlich haben in ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ eine genaue Analyse dieses Gemütszustands geliefert. Das Denken der Deutschen im Jahr 1945 lässt sich in einem Satz zusammenfassen:

„Die Vergangenheit soll, was uns betrifft, ohne dass Anlass zur Reue wäre, auf sich beruhen.“ (Mitscherlich 1967: 31)

Die Ernährungssituation 1945–1946 war sowohl in Frankreich als auch in Deutschland katastrophal. Die Zeit um 1945 wurde nicht nur von den Deutschen, sondern auch von externen, internationalen Beobachtern der Situation als das „Jahr Null“ (vgl. Morin 1946) empfunden und dann auch so genannt. Die historische Forschung hat diese Zeit in Deutschland auch als „Zusammenbruchgesellschaft“ bezeichnet (Kleßmann 1986: 37–40). Es handelt sich um einen Moment in der Geschichte, in dem nichts mehr übrig ist, weder materiell noch moralisch oder intellektuell: Alles ist zusammengebrochen.

Offiziell wurde in Deutschland ein Entnazifizierungsprozess eingeleitet und die größten Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt. Doch viele Nazis aus der zweiten Reihe wurden wieder in die neue deutsche Gesellschaft integriert und blieben bis zu den drei Auschwitz-Prozessen (zwischen 1963 und 1968) und ärgerlicherweise auch darüber hinaus unbekannt. Eine sehr große Zahl von Honoratioren des Naziregimes blieb unberührt und lebte ein ruhiges und oft wohlhabendes Leben im Nachkriegsdeutschland. Das Ehepaar Beate und Serge Klarsfeld verdient große Anerkennung dafür, dass es Nazi-Propagandisten wie Kiesinger und zahlreiche Kriegsverbrecher wie Achenbach, Barbie, Lischka, Heinrichsohn, Hagen, Papon, Brunner, Bousquet, Leguay, Rauff, Mengele und Touvier aufgespürt und die Straffreiheit dieser Personen in Frankreich und Deutschland angeprangert hat.

Der Kampf der Eheleute Beate und Serge Klarsfeld – übrigens selbst ein deutsch-französisches Ehepaar – war hart und oftmals ohne jegliche offizielle Unterstützung. Ihre lange und mutige Recherchearbeit hatte auch den Effekt, einen Teil der öffentlichen Meinung in Deutschland wachzurütteln, wo man es sicherlich vorgezogen hätte, nie wieder von dieser dunklen Periode des Dritten Reichs zu hören. Das ging so weit, dass die Auslieferung von Klaus Barbie an Deutschland von der deutschen Regierung abgelehnt wurde. Bundeskanzler Kohl wollte mit diesen deutschen Schuldgeschichten Schluss machen, so wie frühere christdemokratische Bundeskanzler in den 1960er Jahren den Auschwitz-Prozess nicht wollten. Das sind jene Jahre, die man als bleierne Jahre bezeichnen kann und deren Schleier sich vierzig oder gar fünfzig Jahre nach den unsäglichen Verbrechen nur zaghaft lüften sollte. Das Wiederauftreten achtzig Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers von Auschwitz, des alten Antisemitismus in beiden Ländern und von Stimmen, die den Holocaust leugnen, sowie der neue Antisemitismus von Islamisten und Neonazis aller Art, sind Entwicklungen, die es zu beobachten und zu bekämpfen gilt (vgl. Brenner 2002; Bensoussan 2021; Sinclair 2020). Der Titel des Buches von Henri Amouroux aus dem Jahr 1993, der so prophetisch geworden ist „La page n’est pas encore tournée“ („Das Kapitel ist noch nicht abgeschlossen“, Übersetzung des Titels von SMM und CM), obwohl er auf den Zeitraum von Januar bis Oktober 1945 abzielt, trifft in beunruhigender Weise auch auf die aktuelle Situation zu.

Die Straflosigkeit der überlebenden NS-Täter und der fehlende politische Wille, sie zu verfolgen, sowie der Mangel an Dialog innerhalb der Familien erklären den berühmten Slogan des Mai 1968 „Trau keinem über 30!“, der sich gegen die Elterngeneration richtete, weil diese Altersgruppe möglicherweise in die NS-Verbrechen verwickelt war. Über dreißig meint zunächst die Eltern als Erziehungsberechtigte, also eine Rebellion gegen diese, aber eben auch ein Protest gegen eine Generation von potenziellen Tätern. Hier waren dann eher die über 50-Jährigen gemeint. Die Eltern der jungen Revolutionäre von 1968 haben diese strittigen Themen, nämlich ihre Haltung während der Jahre des „Dritten Reichs“, oftmals verdrängt und verschwiegen. In den Familien wurde auf die Frage „Vater, was hast du während des Krieges gemacht?“ häufig eine ausweichende Antwort gegeben. Dieses Schweigen der Väter stellt ein Phänomen dar, das bereits nach den schrecklichen Erfahrungen der Soldaten von 1914–1918 zu beobachten war. Es wird hier jedoch durch einen Verdacht verstärkt, nämlich den der Nazi-Verbrechen: „War mein Vater vielleicht an den abscheulichen Verbrechen beteiligt, die an Juden, Sinti und Roma, Minderheiten, Widerstandskämpfern, an der Zivilbevölkerung, oder an Kriegsgefangenen begangen wurden?“ Diese Verdächtigungen und Fragen, die in den meisten Familien unbeantwortet blieben, bilden den Hintergrund der deutschen Gesellschaft nach 1945. Kennzeichnend für diese Zeit ist die völlige Blockade tieferer Gefühle, mangelndes Vertrauen und die Existenz verdrängter, aber dennoch vorhandener Konflikte. In dieser Hinsicht wurden im Mai 68 diese psychologischen Blockaden gelöst und die verschütteten Konflikte ans Tageslicht gebracht, sichtbar für alle. Die Ereignisse dieser Zeit stellen eine kulturelle Revolution dar: Seitdem ist nichts mehr so, wie es vorher war.

Ist es Zufall, dass die emblematischste Figur, die diese Erneuerung repräsentierte und auch heute noch an der Spitze der europäischen Politik steht, ein Studenten- und Jugendidol mit deutsch-französischen Wurzeln ist: Daniel Cohn-Bendit? Dieser charismatische, zweisprachige, bikulturelle und weltgewandte Mann, der sich selbst als europäischer Bürger bezeichnet, ist der Sohn deutscher kommunistischer Auswanderer, die aus Nazi-Deutschland nach Frankreich flohen und sich dort niederließen. Während der Ereignisse im Mai 68 geriet Cohn-Bendit schnell ins Visier der französischen Rechtsextremen und wurde als Außenseiter, boche und Jude bezeichnet und beschimpftFootnote 1. Am Ende der 1960er Jahre repräsentierte dieser latente Antisemitismus und die Germanophobie der französischen Rechten sowie der französischen Kommunisten zweifellos die politische Stimmung und die zugrunde liegenden Überzeugungen eines Teils der französischen Gesellschaft. Dies stand im Gegensatz zur offiziellen Politik.

Unmittelbar nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands stellte sich für die vier Alliierten die entscheidende Frage: Was sollen wir mit Deutschland tun?

Die Position der Amerikaner, Briten, Sowjets und Franzosen unterschied sich erheblich, allerdings veränderte sie sich in den ersten Monaten der Besetzung ihrer jeweiligen Einflusszonen (vgl. Vaillant 1981; Martens 1993).

Erst ab 1948 änderte sich die Haltung Frankreichs gegenüber Deutschland, insbesondere als Folge der politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der Nachkriegszeit: die Ruhrgebietsfrage, das Saarland, der Marshallplan und die wachsenden Interessen und Einflüsse der Sowjetunion in Europa. Im Anschluss an die Londoner Erklärung und die Vorbereitung einer Währungsreform in Deutschland steuerte die Politik der drei Besatzungsmächte auf die Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 zu, gefolgt von der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober 1949. Die Sowjetunion akzeptierte diese Entwicklungen nicht und antwortete mit einer vollständigen Blockade der Zugänge nach Berlin. Diese Blockademaßnahmen wurden durch die alliierte Luftbrücke konterkariert, die ein technischer und politischer Erfolg war und sich bis heute in das Gedächtnis der Berliner eingebrannt hat. Das Ende der Blockade markierte auch die endgültige Trennung der beiden deutschen Staaten.

Die Bundesrepublik Deutschland orientierte sich politisch an den drei alliierten Mächten und erhielt nacheinander Zugang zu verschiedenen europäischen Gremien und Kommissionen wie der Europäischen Gemeinschaft für Kohl und Stahl (Montanunion), der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und wurde schließlich in die NATO integriert. Auf diese Weise fügte sich die Bundesrepublik Deutschland in das politische und militärische System Westeuropas ein. Der Weg für engere deutsch-französische Beziehungen wurde geebnet. Die europäische Integration unter dem Dach einer politischen Organisation war ein langer und schwieriger Prozess, der den politischen Willen der verschiedenen europäischen Staaten, insbesondere Frankreichs und Deutschlands, einbezog. General de Gaulle lancierte die Idee eines „Europas der Nationen“ und beeindruckte die Deutschen mit seinen enthusiastischen, packenden und rhetorisch geschickten Reden – die meisten davon in sehr gut verständlicher, deutscher Sprache gehalten – in Bonn, Ludwigsburg, Hamburg und auch in Reims (vgl. Johannes, Dieter et al. 2000: 34–35).

Der Ton dieser Reden, mehr noch als ihr Inhalt, beeindruckte die Deutschen und wurde nach langen Jahren der Diktatur, des Krieges, der Massenvernichtung, der Schuld und der politischen Isolation als Balsam für die Seele empfunden. So ergriff de Gaulle diese deutschen Gefühle der internationalen Ablehnung und widerlegte sie mit den in Ludwigsburg gesprochenen Worten:

„Ich beglückwünsche Sie, junge Deutsche zu sein, das heißt Kinder eines großen Volkes, jawohl, eines großen Volkes, das manchmal im Laufe seiner Geschichte große Fehler begangen hat; ein Volk, das aber auch der ganzen Welt geistige, wissenschaftliche, künstlerische, philosophische Werte gespendet hat [...].“ (zit. nach Johannes, Dieter et al. 2000: 34)

Am 22. Januar 1963 unterzeichneten Adenauer und de Gaulle schließlich den Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit zwischen der Französischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland. Dieser Vertrag eröffnete eine neue Ära der deutsch-französischen Beziehungen, die bisher von jahrhundertealten Rivalitäten und Kriegen geprägt waren.

Somit stellt 1963 das zeitliche Ende des in diesem Buch enthaltenen Zeitraums und unserer Untersuchungen dar, da von nun an die Situation der Bürger in beiden Ländern und ihre gegenseitigen Beziehungen nicht mehr die gleichen sein werden. Die Jugend in beiden Ländern hat sich seither kontinuierlich angenähert. Die deutsch-französische Freundschaft ist zum Rückgrat Europas geworden, eines Europas, das auf schmerzhaften, kriegerischen Erfahrungen aufgebaut ist. Der französische Botschafter in Deutschland, François Seydoux (von 1958 bis 1962 und von 1965 bis 1970), beschreibt in seinen Memoiren die Haltung von General de Gaulle gegenüber seinem Gesprächspartner, Bundeskanzler Konrad Adenauer, mit folgenden Worten aus dem Jahr 1958, die von einem tiefen Verständnis und einer Freundschaft zwischen den beiden Männern zeugen:

„[...] wenn ich in Adenauer einen Mann finde, der ebenso bestrebt ist, zwischen Deutschland und Frankreich eine möglichst umfassende Verständigung herzustellen, wie ich es selbst bin, und wir diese Verständigung gemeinsam herzustellen, können wir zusammen große Dinge tun. Wenn es eine Nation gibt, mit der das französische Volk zum größten Wohl Europas zusammenarbeiten muss, dann ist es die deutsche Nation. In der Vergangenheit haben sich zu viele Fehler angehäuft. Die Tatsache, dass Adenauer die Geschicke Deutschlands leitet und ich diejenigen Frankreichs, darf nicht vernachlässigt werden. Es ist angebracht, diese Umstände so weit wie möglich auszunutzen.“ (Seydoux 1975: 209)

Um die Lebenswege der deutsch-französischen Paare der Nachkriegszeit, die wir in diesem Buch zusammengestellt haben, zu verstehen, interessieren uns hier besonders vier Aspekte der neueren deutsch-französischen Geschichte, die in den folgenden Kapiteln kurz behandelt werden. Diese Bereiche stellen die Kontaktzonen zwischen Deutschen und Franzosen dar, die insbesondere schmerzhafte und schwierige Beziehungen zwischen Männern und Frauen schufen. Dabei handelt es sich um den Zwangsarbeitsdienst (Service du Travail Obligatoire: STO), also französische Zwangsarbeiter in Deutschland (Kap. 2), die französischen Kriegsgefangenen in Deutschland während des Krieges (Kap. 3), die deutschen Kriegsgefangenen in Frankreich nach dem Krieg (Kap. 4) und die Situation in der französischen Besatzungszone in Deutschland (Kap. 5).

Die genannten historischen Komplexe stellen den Nährboden dar, auf dem deutsch-französische Liebesbeziehungen in der Nachkriegszeit trotz der oft dramatischen Umstände entstehen konnten. Diese Zeit war aber auch ein chaotischer Schauplatz für die unfreiwillige Umsiedlung von Hunderttausenden von Menschen in beide Richtungen von Frankreich nach Deutschland und umgekehrt.