Frankreichs Armee in der Zeitenwende | DGAP

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08. Mai 2024

Frankreichs Armee in der Zeitenwende

Prise d Armes military ceremony in Paris, France
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Während die Bundeswehr seit der russischen Invasion der Ukraine zu ihrer ursprünglichen Identität zurückfindet, stellt die Zeitenwende die deutsche Gesellschaft vor große Herausforderungen. In Frankreich ist es umgekehrt: Politik und Gesellschaft sind besser auf die neue Zeit vorbereitet als in Deutschland, doch den Streitkräften steht ein schwieriger Paradigmenwechsel bevor.

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„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“ reagierte Außenministerin Annalena Baerbock am Tag der russischen Invasion der Ukraine. Dieses Aufwachen war deshalb brutal, weil sich eine ganze Generation deutscher Entscheidungsträger seit dem Fall der Berliner Mauer den Träumen vom „Ende der Geschichte“ und der Friedensdividende hingegeben hatte. Und auch für die Bundeswehr gab es im Februar 2022 ein unangenehmes Erwachen. Heeresinspekteur General Alfons Mais sprach aus, was weithin bekannt gewesen war, die Politik bisher aber nicht gestört hatte: die Bundeswehr war „blank“.

Ist Frankreich bereit für den Krieg?

In Frankreich hatten die wenigsten an das Ende der Geschichte geglaubt, doch die Armee wäre auch dort angesichts eines vergleichbaren russischen Angriffs wie in der Ukraine blank gewesen – jedenfalls konventionell, denn anders als Deutschland verfügt Frankreich souverän über eigene Nuklearwaffen. Zwar hat die militärische Führung in Paris ihre bedingte Abwehrfähigkeit seit 2022 nie so deutlich ausgesprochen, wie die deutsche. Diese Aufgabe haben aber andere übernommen. Anfang 2024 veröffentlichte der bekannteste Fachjournalist für Verteidigungspolitik Frankreichs, Jean-Dominique Merchet, ein Buch mit dem Titel „Sind wir bereit für den Krieg?“. Die Streitkräfte, so schreibt Merchet, seien in einem vergleichbaren Szenario in der Lage, kurzzeitig eine Front von rund 80 Kilometern zu verteidigen – die Front, die ukrainische Soldaten seit mehr als zwei Jahren halten, ist mehr als zehnmal so lang.

Die Anpassungen an die Rückkehr des Kriegs unterscheiden sich in Deutschland und Frankreich aber grundlegend. Während die Bundeswehr in Deutschland von den politischen Konsequenzen des Kriegs gewissermaßen profitiert, finanziell, vor allem aber mit Blick auf ihre gesellschaftlichen Aufgaben und die entsprechende Anerkennung, stehen die französischen Streitkräfte vor einem Paradigmenwechsel. Die Debatte dazu beginnt gerade und macht deutlich, dass der Armee eine Generationenaufgabe bevorsteht, vergleichbar mit der Zeitenwende für die deutsche zivile Gesellschaft.

Unterschiedliche Identitäten

Für die Bundeswehr waren die Auslandseinsätze seit den 1990er Jahren die Ausnahme von der Regel. Ihre Identität war ab 1955 im Zuge der Wiederbewaffnung innerhalb der NATO geformt worden, als Teil des kollektiven Westens und Kern der konventionellen Verteidigung Europas im Kalten Krieg. Deutschland war Frontstaat, die Sowjetunion der Gegner. Dass die Bundeswehr heute angesichts des neuen russischen Imperialismus zur Landes- und Bündnisverteidigung zurückfindet und auf Wunsch des Kanzlers die führende konventionelle Streitmacht Europas werden soll, scheint daher folgerichtig: Für die Bundeswehr bedeutet die Zeitenwende die Rückkehr zu ihren Wurzeln.

Ganz anders in Frankreich, wo Auslandseinsätze über das Ende des Kolonialreiches und die algerische Unabhängigkeit hinaus ununterbrochen die Regel gewesen sind. Auch französische Soldaten waren während des Kalten Kriegs zwar nahe der deutsch-deutschen Grenze stationiert, übten für das Szenario eines massiven Angriffs des Warschauer Pakts. Drei wichtige Unterschiede haben ihre Identität aber vollkommen anders geprägt als die deutsche, machen ihre Anpassung an die neuen geopolitischen Bedingungen in Europa viel schwieriger: Frankreich war erstens kein Frontstaat, hätte, um sowjetische Panzer vor dem Rhein aufzuhalten, wohl taktische Nuklearwaffen eingesetzt. Diese kontrollierte Paris, zweitens, souverän, ohne zwingende Abstimmung mit den NATO-Verbündeten. Drittens war die große Mehrheit der in Westdeutschland stationierten Soldaten Wehrdienstleistende. Berufssoldaten kämpften zugleich in den Kriegen der Dekolonialisierung und folgenden Einsätzen, die der Oberst a.D. und renommierte Experte Michel Goya den „französischen Weltkrieg“ nennt.

Die Zeit „zwischen den Kriegen“

Diese Auslandseinsätze, die sogenannten opérations extérieures (Opex), haben die aktuelle Generalität Frankreichs geprägt. Die Anpassungen, vor denen besonders das französische Heer steht, werden von der militärischen Führung in Paris offen diskutiert. Pierre Schill, Heereschef, spricht seit Monaten über die Herausforderung, seine Armee auf das Aufeinandertreffen mit einem Gegner vorzubereiten, der Zeitpunkt und Intensität des Gefechts wählen kann, dabei über gleichwertige Waffensysteme verfügt. Eine Armee, deren Einsatzerfahrung und Doktrin seit Jahrzehnten von Kriegen mit technologisch weit unterlegenen Gegnern geprägt wurde, von der Aufstandsbekämpfung in ehemaligen Kolonien, dem Kampf gegen bewaffnete und terroristische Gruppen in West- oder Zentralafrika oder den VN oder NATO-Auslandseinsätzen der 1990er und 2000er Jahre, in Somalia, Bosnien oder Afghanistan.

Im April hat François Lecointre, erster Generalstabschef Emmanuel Macrons, ein Essay veröffentlicht, in dem er seine Karriere Revue passieren lässt. „Zwischen den Kriegen“ ist dieses betitelt und beschreibt die Zeit zwischen dem Ende des Kalten Kriegs in den 1980er Jahren, als Lecointre ausgebildet wurde, bis zu seinem Karriereende und den aktuellen Herausforderungen, vor die der russische Angriff auf die Ukraine auch die französische Armee stellt. Seinen ersten Einsatz erlebte Lecointre als junger Offizier im Ersten Golfkrieg, 1991, der die absolute Überlegenheit der US-Streitkräfte und ihrer Verbündeten über Saddam Husseins Armee demonstrierte, damals vorgeblich eine der stärksten der Welt. Es folgten „Friedenseinsätze“ in Djibouti, Somalia und Rwanda, die Lecointre heute als Selbstvergewisserung eines überheblichen Westens einordnet. Sein letzter aktiver Einsatz führte ihn als Hauptmann nach Sarajevo. Dort traf er erstmals auf einen Krieg, wie er ihn zuvor nur aus Lehrbüchern kannte, stand mit seiner Einheit unter Artilleriebeschuss, beklagte Verwundete und Gefallene.

Generationenwechsel in Frankreich

Mit der Zeit „zwischen den Kriegen“, die Lecointres Karriere bestimmt hat, und der Frage, wie sich die Armee auf das Ende dieser 30 Jahre währenden Ära einstellt, setzen sich auch wesentlich kritischere Stimmen auseinander. Neben dem bereits zitierten Merchet ist die vielleicht prominenteste Guillaume Ancel, ehemaliger Offizier, der seit dem Ende seiner Laufbahn als Berufssoldat über seine Erfahrungen in den Streitkräften schreibt und vielen Franzosen aus diversen TV-Talk-Runden oder News-Formaten bekannt ist. Ancel gehört der gleichen Generation von Offizieren an wie Lecointre. Ab 1985 wurde er in der Militärakademie Saint-Cyr Coëtquidan ausgebildet, im gleichen Jahrgang wie der Nachfolger Lecointres, der amtierende französische Generalstabschef, Thierry Burkhard. Ancel schreibt über seine Kameraden, sie seien die letzten gewesen, die von Offizieren ausgebildet wurden, die die Manöver des potenziellen großen Kriegs gegen die Armeen des Warschauer Pakts beherrscht hätten – ohne ihn glücklicherweise jemals geführt haben zu müssen.

Nun steht seine Generation vor dem Karriereende und Ancel zweifelt daran, ob die französische Armee darauf vorbereitet ist, sich den neuen Umständen anzupassen. Der Titel seines zuletzt erschienenen Buchs lautet „Saint-Cyr, an der Schule des großen Schweigens“. Es ist eine Abrechnung mit der dortigen Ausbildung, die aus seiner Sicht auf unbedingten Gehorsam und blinde Folgsamkeit ausgerichtet ist, kritisches Denken und die dringend nötige Modernisierung der französischen Doktrin und Streitkräfte verhindert. Ancel ist im aktiven Offizierskorps sehr umstritten, weil er das ungeschriebene Gesetz gebrochen hat, Dinge intern zu klären. Er schreibt kritische Bücher, sitzt in Talk-Runden und nutzt eine Redefreiheit, die seine ehemaligen, noch aktiven Kameraden nicht haben.

In der Tradition gefangen

In seinem Buch beschreibt der ehemalige Offizier, der bereits über die Einsätze in Bosnien und Rwanda geschrieben hat, die Ausbildung zukünftiger französischer Generalstabsoffiziere. An der hat sich aus seiner Sicht seit den 1980er Jahren nichts Wesentliches geändert. Dass das Offizierskorps wesentlich konservativer ist als die zivile Mehrheitsgesellschaft und sich in Saint-Cyr Denk- und Handlungsmuster erhalten, die anderswo als anachronistisch oder reaktionär gelten, hält er auch für ein militärisches Problem. Denn mit dem Konservatismus der Offiziere geht nicht nur eine im Kontext des Kriegs in der Ukraine auffällige Sympathie mit Russland einher. Das hängt mit dem insbesondere im Heer weit verbreiteten dogmatischen Katholizismus zusammen, der Sympathien für die russische Orthodoxie und ihren Kampf gegen die vermeintliche Amerikanisierung der europäischen Gesellschaften mit sich bringt und eine historische Faszination für die russische Kultur. Und dieser Konservatismus droht, der Modernisierung der Streitkräfte im Weg zu stehen.

So sieht es jedenfalls Ancel, der die „Grande Muette“ (etwa: das „große Schweigen“) an einer Reihe von Beispielen aufzeigt. Jahrhundertealte Traditionen, die in Frankreich gepflegt werden, anders als in Deutschland und in der Bundeswehr, stehen aus seiner Sicht der Erneuerung im Weg. Dass am 2. Dezember jeden Jahres der Schlacht von Austerlitz gedacht wird, in der erstmals Saint Cyrianer fielen und die wie keine andere für das Genie Napoleon Bonapartes steht, hält er für überflüssig. Dass viele junge Offiziersanwärter die nicht-militärischen Teile ihrer Ausbildung gleichzeitig ablehnen und es kaum Raum für Debatten gibt, sei mit Blick auf die notwendigen Anpassungen der französischen Armee gefährlich. Ähnlich wie die Ingenieure der Hochschule Polytechnique (oft nur „X“ genannt), die Teile ihrer Ausbildung an Saint Cyr absolvieren, seien die Offiziere darauf gedrillt, Regeln zu verstehen und zu verbessern, ohne sie jemals in Frage zu stellen.

Konsequenzen für die Kriegstüchtigkeit

Auf Grundlage seiner Gespräche mit französischen Soldaten übt der Journalist Merchet ähnliche Kritik. Er beschreibt die Probleme, die aus dem strukturellen Konservatismus der Streitkräfte entstünden. So beobachten alle westlichen Streitkräfte aktuell aufmerksam den massiven Einsatz von Drohnen in der Ukraine und versuchen, daraus Lektionen für die Boden-Luft-Verteidigung der eigenen Streitkräfte zu ziehen. In Frankreich krankt der Lernprozess laut Merchet daran, dass die Artillerie im französischen Heer seit Jahren zweitrangig behandelt werde. Kaum ein Jahrgangsbester wähle diese Waffengattung, die entsprechend in den Generalstäben keine Lobby habe. Der Mythos der „Colo“-Truppen, die in den Auslandseinsätzen „unter der Sonne Afrikas“ kämpften, habe über Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, der „langen Mäntel“, die nach Osten schauten, triumphiert. Er verhindere die Erneuerung der Doktrin und Taktiken und die Vorbereitung auf Szenarien wie in der Ukraine. Ancel, selbst Artillerieoffizier, bestätigt, das Ideal der Saint-Cyrianer sei die Kampftruppe der Auslandseinsätze, die Fremdenlegion oder die Panzerwaffe.

Bedenklicher noch als die Trägheit auf taktischer Ebene, sind die Widerstände gegen Veränderungen auf politisch-strategischer Ebene. Zwar wird auch in Frankreich gerne der preußische Stratege Carl von Clausewitz zitiert, der den Krieg als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ beschrieb. Doch auch wenn Präsident Emmanuel Macron spätestens seit seiner Rede in Bratislava, 2023, mehr Engagement Frankreichs an der NATO-Ostflanke in Aussicht gestellt hat, wird dieser politische Impuls Zeit brauchen, um in den Streitkräften umgesetzt zu werden. Die „NATO-Kultur“ sei in der französischen Generalität „schwach ausgeprägt“, schreibt Merchet. Dort denke man dank der eigenen Ausbildung und Karriere zuerst an Einsätze in Afrika, dem Indo-Pazifik oder dem Mittelmeerraum. Er hat diesen Umstand auf eine griffige Formel gebracht: Tahiti sei für Frankreichs Armee noch immer wichtiger als Warschau.

Debatten anstoßen

Ancel, Merchet und eine Reihe weiterer Journalisten und Analysten drängen die französische Armee aktuell von außen, den Krieg in der Ukraine zum Anlass für eine grundlegende Modernisierung zu nehmen. Ancel schreibt, seine ehemaligen Kameraden müssten eine Debattenkultur entwickeln, nicht während, aber mit Blick auf vergangene und zukünftige Einsätze. Merchet hat bereits Ideen für diese Debatten, schlägt vor, eine offene Diskussion über die französischen Übersee-Territorien zu führen. Für die Streitkräfte seien diese die „letzten Überbleibsel des Kolonialreiches“, verhinderten, dass sich Frankreich auf seine Verantwortung in Europa konzentrieren könne.

Aus deutscher Sicht wäre ein solcher Prozess aus zwei Gründen zu begrüßen. Die kritische Prüfung der eigenen Vergangenheit würde die französische Streitkräftekultur der deutschen zunächst annähern, ganz im Sinne des 2019 unterzeichneten Aachener Vertrags und diverser Gipfelerklärungen und Reden seither. Vielen deutschen Soldaten stößt der unreflektierte Blick ihrer französischen Kameraden auf die eigene Geschichte schnell auf. Sie selbst sind die ständige Selbstkritik gewohnt, die seit den 1950er Jahren ein wichtiger Teil der Identität deutscher Streitkräfte und Soldaten geworden ist und mitunter bis zur Selbstverleugnung betrieben wird. Das Zentrum Innere Führung, das sich der Streitkräftekultur in der Bundeswehr widmet und zivile und militärische Entscheider berät, ist wichtiger Teil des Konzepts der deutschen Parlamentsarmee. Eine Entsprechung gibt es in Frankreich nicht, könnte aus Sicht der kritischen Stimmen, wie etwa Ancels oder Merchets, für die Zukunft aber Sinn machen.

Zweitens kranken französische Führungsansprüche für die EU-Sicherheit am großen Misstrauen, das Politikern und Militärs aus Paris noch immer entgegenschlägt. Eine Debatte zu Identität und Aufgaben der französischen Streitkräfte – unter Einbindung ihrer engen Verbündeten – könnte vieles bewegen. Dank der jahrzehntelangen souveränen Politik verfügt Frankreich über eine innerhalb der EU einmalige strategische Kultur, die sich als Fundament des „europäischen Pfeilers innerhalb der NATO“ aufdrängt. Doch ohne eine ehrliche Debatte im Inneren – angefangen bei den eigenen Streitkräften – werden die verteidigungspolitischen Ideen Macrons im europäischen Ausland weiterhin auf taube Ohren stoßen. Letztlich liegt es – wie in der französischen Außen- und Sicherheitspolitik eigentlich immer – am Ende also am Präsidenten selbst, einen solchen Prozess anzustoßen. Die aktuellen Diskussionen rund um die französischen Streitkräfte zeigen jedenfalls, dass Macron sich wird entscheiden müssen: zwischen der Wahrung alter globaler Größe und einem neuen französischen Führungsanspruch in Europa.

Bibliografische Angaben

Ross, Jacob. “Frankreichs Armee in der Zeitenwende.” German Council on Foreign Relations. May 2024.

Dieser Artikel wurde erstmals am 07. Mai 2024 auf dokdoc.eu veröffentlicht.

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