1 Einleitung

„Erschöpfung hat Konjunktur“ (2013, S. 9) mit diesem Statement beginnt Wolfgang Martynkewicz sein Werk über „das Zeitalter der Erschöpfung“. Er widmet sich darin der Zeit des Fin de Siècle und beschreibt den Weg einer Kultur der Erschöpfung im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. So zeigt sich, dass der gegenwärtige Erschöpfungsdiskurs in Gesellschaft, Literatur, Psychologie, Soziologie, Philosophie und Medizin, angeführt von Alain Ehrenberg, Byung-Chul Han, Hartmut Rosa und Joachim Bauer, um nur einige wenige zu nennen, keinesfalls eine Neuheit des 21. Jahrhunderts darstellt. Gleichzeitig wird deutlich, welch umfassendes komplexes Thema das Phänomen der Erschöpfung ist und wie dringend ein Artikel dieser Seitenzahl Begrenzung und Fokussierung auf einige wenige Aspekte bedarf.

Neben einem Versuch der kurzen, unvollständigen Gegenüberstellung der historischen Erscheinungsform um 1900 mit der heutigen kollektiven Phänomenologie der Erschöpfung möchte ich mich daher den Bildern von ErschöpfungFootnote 1 zuwenden, die mir als Supervisorin in meiner Tätigkeit begegnen. Dabei richte ich den Schwerpunkt auf die Personengruppe im letzten Drittel des Arbeitslebens, die ich derzeit als besonders betroffen von Arbeitsdichte, Veränderungen, Umbrüchen und Mangel an Fachkräften und anderem erlebe. In diesem Zusammenhang ist angelehnt an Autorinnen wie Stefanie Graefe und Sarah Christine Bernhardt auch ein Blick auf die gesellschaftspolitische Situation im System des Neoliberalismus und den daraus resultierenden Arbeitsbedingungen wichtig. Von Bedeutung auf der individuellen Ebene sind Themen von Integration und Generativität (Erikson 1981), Entwicklungsaufgaben des Alters (Radebold 2015)Footnote 2 und Beziehung zur Welt (Rosa 2022).

Keinesfalls soll der Artikel ein weiterer der zahlreichen Versuche sein, Erschöpfung diagnostisch einzuordnen und/oder von ähnlichen Beschwerdebildern wie zum Beispiel Burnout-Syndrom, Depressive Störung, Belastungsstörung, Anpassungsstörung abzugrenzen. Vielmehr werde ich mich auf die Erscheinungsbilder beziehen, die mir im Arbeitsalltag begegnen und auf die daraus resultierenden Arbeitsprozesse mit Klient*innen.

2 Fallbeispiel „Ich bin der Welt abhandengekommen …“

Die Überschrift ist die erste Zeile eines Gedichtes aus dem Zyklus Liebesfrühling von Friedrich Rückert 1821, von Gustav Mahler 1901 als Lied vertont. Im Zauberberg von Thomas Mann verweist Hans Castorp auf diese Liedzeile. Sowohl G. Mahler als auch T. Mann sind der Epoche des Fin de Siecle zuzuordnen.

Frau C. kommt mit deutlichen Überlastungs- und Erschöpfungssymptomen. Sie berichtet zunächst über ihre Befindlichkeit der letzten Wochen. Sie habe nachts Herzrasen und könne nicht mehr schlafen. Tagsüber leide sie unter Schweißausbrüchen, fühle sich getrieben und unter Druck. Sie sei an Infekten und einer Stimmbandentzündung erkrankt gewesen, danach sei sie einige Zeit ohne Stimme gewesen. Ihr sei zurzeit jegliche Lebensfreude verloren gegangen. Bereits beim Bericht über ihre Symptomatik fühle sie sich gehetzt und spüre Enge in der Brust.

Sie ist langjährige Mitarbeiterin im Bereich Presse und Öffentlichkeitsarbeit bei einer großen sozialen Organisation. Der Vorstand habe unter dem Aspekt von Sanierung und Rentabilität einige Teilbereiche veräußert. Während dieses Prozesses sei seitens der Führungs- und Vorstandsebene ohne Transparenz, Information und Kommunikation geplant und gehandelt worden. Sie habe die Anweisung erhalten, über die Vorgänge und Veränderungen zu schweigen. Ihren Wissensstand habe sie bei Anfragen von außen verleugnen müssen. Manche Sachverhalte habe sie selbst aus der Zeitung erfahren. Gleichzeitig habe durch Kündigungen Personalmangel geherrscht, wodurch sich Arbeitstempo und Belastung verschärft hätten. Sie schaue auf eine lange berufliche Laufbahn zurück und habe sich noch nie in einer derartigen Situation und persönlichen Verfassung erlebt. Mehrmals während ihrer Schilderungen verweist sie auf das extrem verdichtete Arbeitstempo. Sie sei eine erfahrene, motivierte Mitarbeiterin und das Gefühl, ihr Arbeitspensum nicht zu schaffen, sei ihr fremd.

Ich bitte Frau C. aufzustehen und in ihrem derzeitigen Arbeitstempo durch den Raum zu gehen. Sie geht sehr schnell, den Blick auf den Boden gerichtet. In der Übernahme ihrer Rolle zeige ich ihr das von ihr dargestellte Tempo. Sie selbst beobachtet dabei aus der Spiegelposition. Ich bitte sie erneut so zu gehen und frage, was sie spüre und wahrnehme. Die Antwort lautet „nichts“. Ich bitte Frau C. erneut zu gehen und darauf zu achten, ihre Atmung wahrzunehmen und dabei die Ausatmung zu verlängern. Ihr Schritt-Tempo verlangsamt sich daraufhin. Im weiteren bitte ich die Klientin noch im Gehen den Blick aus dem Fenster zu richten. Sie ist erstaunt, wie sehr sich ihre Geschwindigkeit und ihre Haltung in der kleinen Übung verringert haben. Sie kann wieder Kontakt zur Innen- und Außenwelt aufnehmen. Sie fühle sich ruhiger, organisierter und zuversichtlicher. Sie kann sich ihrem Bedürfnis nach Abgrenzung und besserer Selbstfürsorge zuwenden.

„Das Psychodrama muss auf die Beobachtung der kleinsten Einzelheiten der Vorgänge im physischen, psychischen und sozialen Raum, der erforscht werden soll, bestehen (…). Der Protagonist wird auf eine Begegnung mit sich selbst vorbereitet“ (Moreno nach Hutter und Schwehm 2012, S. 473).

Im Modell der psychodramatischen, szenischen Diagnostik wird mit der Klientin zunächst in der somatischen Dimension gearbeitet. Die physiodramatischen Interventionen sind die Voraussetzung, dass Frau C. sich in ihrer Leiblichkeit erfahren und begegnen kann und dadurch die Zusammenhänge zwischen ihrer körperlichen Symptomatik und der beruflichen Belastung herstellt.

Gefühlszustand und Gefühlswahrnehmung sind verknüpft mit Körperhaltung und Bewegung. Die gefühlte und kognitive Wahrnehmung einer Situation ist an den Körper gekoppelt. So kann „der Körper als Medium oder Vermittler zwischen dem (reflexiven) Selbst und der Welt erscheinen“ (Waldenfels 2000, S. 210 ff., zitiert nach Rosa 2022, S. 144f.). Auch Hartmut Rosa verweist auf die Bedeutung von Leib und Körper. Er definiert den „menschlichen Organismus als Leib“ und „Teil des Subjekts, als Körper aber ist der Organismus auch Gegenstand der Welt“. Rosa beschreibt den Erschöpfungszustand des Burnout als „einen Zustand des umfassenden Verstummens aller Resonanzachsen (…), eine radikale Form der physischen und psychischen Entfremdung“ (Rosa 2022, S. 180). Jede Entfremdung ist aber nicht nur die vom Ich als Subjekt sondern auch eine Entfremdung zur Weltbeziehung.

Frau C. befindet sich mitten im Schnittfeld ökonomischer und gesellschaftlicher Veränderungsprozesse, die auch zu kulturellen Veränderungen in den Beziehungs- und Umgangsformen führen. Sie erfährt keine kommunikative Vermittlung durch die Leitung, die mehrheitlich männlich geprägt ist. Sie ist konfrontiert mit den Phänomenen von Beschleunigung, Unsicherheit und Desintegration. Das Erkennen der Dynamik des gesamten Systems und die Einordnung der eigenen Position dienen der Entlastung der Klientin und tragen dazu bei, Gefühle von Chaos, Entwertung und Scham zu reduzieren. Der Fokus im Beratungsprozess wechselt wiederholt vom Individuum zu den verschiedenen Kontexten der Organisation und gesellschaftlichen Entwicklungen.

Rosa (2022) beschreibt entsprechende Entwicklungsprozesse als „Welterfahrung und Weltaneignung“, die „aber niemals einfach individuell bestimmt (…) sondern immer sozioökonomisch und soziokulturell vermittelt werden (…)“ (S. 19 f.).

Das Fallbeispiel verdeutlicht, dass supervisorische Arbeit immer im Zusammenhang mit gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Entwicklungen steht. Ich erachte es als wichtig, als Supervisorin diesen Kontext mitzudenken und in die Arbeit einzubringen.

Damit wir uns in dieser hochkomplexen Welt etwas besser verstehen lernen, müssen wir die historischen und kollektiven Entwicklungen in den Blick nehmen. So entstehen Bezüge, in denen wir uns als kleinen Teil eines großen Ganzen verstehen können und bereit werden für diese Welt unseren Teil der ethischen Verantwortung zu übernehmen.

3 Formen der Erschöpfung um 1900 und heute – Versuch einer Gegenüberstellung

3.1 „Müde von nichts, müde von allem, müde vom Gewicht der Welt.“Footnote 4

Mit dem Blick auf die Epoche der Industrialisierung zeigt sich ein Bild großer Umbrüche, Unruhen und Unsicherheiten. Die Veränderungen bedingen zunehmende Urbanisierung und Technisierung, industrielle Fertigung, die Entstehung von Konzernen mit tausenden von Arbeitern, veränderte Arbeitsrhythmen, die Gründung von Aktiengesellschaften. Die Mobilität erreicht mit Entwicklung von Eisenbahn und Automobilen eine neue Dimension. Die Elektrizität verändert die Welt und den individuellen Lebensrhythmus durch die Glühbirne. Die neuen Arbeitsverhältnisse fördern Ausbeutung und die Entstehung von Armut, eine politische Gegenbewegung und Strukturen einer Sozialpolitik entstehen. Sennett (2012, S. 57) beschreibt die Entwicklung einer sozialen Isolation des Industrieproletariats. In dieser Zeit wird auch das Krankheitsbild der Neurasthenie mit dem Leitsymptom Erschöpfung diagnostiziert, anfangs verstanden als „Verarmung bzw. Mangel an Nervenkraft“ (Morschitzky 2007, S 23 f.). Der Körper wird als eine sich erschöpfende Batterie verstanden. Die Neurasthenie wird schnell zur Modediagnose, zuerst eher in den höheren intellektuellen Schichten, dann mehr in den untersten sozialen Schichten, dort als Folge der schlechten sozial-ökonomischen Bedingungen.

„Kollektive Erschöpfungsphänomene sind immer politisch, weil sie immer auch die Grenzen verhandeln zwischen: was können wir leisten, was müssen wir leisten, was wollen wir leisten“ so die Historikerin Sarah Christine Bernhardt (2023).

Ein besonderes Bild von Erschöpfung zeigt sich im Bildungsbürgertum anfangs des 20. Jahrhunderts. Von bekannten Persönlichkeiten – wie unter anderen von Thomas Mann, Friedrich Nietzsche, Cosima Wagner, Sigmund Freud und Rainer-Maria Rilke – erfahren wir über das Leistungsethos der damaligen Zeit. Wolfgang Martynkewicz (2013) schreibt über ihre Anstrengungen und Aktivitäten, um eine „vitale Persönlichkeit“ (S. 23 ff.) zu erhalten. Wiederholte Aufenthalte in elitären Sanatorien sind bekannt und werden von den oben genannten zahlreich beschrieben. Über Otto von Bismarck, Sinnbild von Kraft, Stärke und Stabilität, der im Alter von 56 Jahren zum Reichskanzler ernannt wurde, ist auch eine andere Seite bekannt: „Bismarck lebte auf der Überholspur und spielte gerne den unbezwingbaren Kraftmenschen. (…) In Wirklichkeit aber war der Reichskanzler alles andere als rüstig und widerstandsfähig. Bereits am Anfang seiner politischen Karriere gab es zahlreiche gesundheitlichen Krisen, er selbst spricht von einer Erschöpfung der Nerven, einem Zusammenbruch der Kräfte, unvermittelt suchen ihn Schmerzattacken heim, mitten im politischen Tagesgeschäft überfallen ihn Weinkrämpfe. Bismarck sah im Körper eine Maschine, die zu funktionieren hatte. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sein großer Zusammenbruch in eine Zeit fiel, in der sich die Signatur der Epoche verändert hatte: Die Dampfmaschinen regierten nicht länger die technologische Moderne, sondern die Elektrizität, die als Energiestrom die Festigkeit der Körper in Frage stellte“ (Martynkewicz 2013, S. 93 f.). Am Beispiel des Reichskanzlers Bismarck wird deutlich, wie unmittelbar der gesellschaftspolitische Kontext und die damit verbundene Stimmung sich in der Verfassung und Krisenerfahrung der Menschen spiegelt.

Der Soziologe und Philosoph Georg Simmel, in Berlin lebend, das um 1900 als die modernste Metropole der Welt galt, beschreibt in seinem Essay „die Großstädte und das Geistesleben“ das brüchig werden alter Gewissheiten, die Überforderung durch Lärm, Tempo und Gegensätzlichkeiten, die zur „Steigerung des Nervenlebens“ führen. Erschöpfung wird zur Abwehr einer das Ich gefährdenden komplexen Veränderung der Welt. „Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren“ (Simmel 2020, S. 6).

Was erschöpft uns in der Welt, in der wir heute leben?

Deutschland und Europa erleben eine Zeitenwende. Der Begriff „Zeitenwende“ ist von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2022 gekürt worden. Bundeskanzler Scholz nutzt ihn, um darauf aufmerksam zu machen, dass mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sich eine entscheidende Wende für den europäischen Kontinent abzeichne. „Zeitenwende“ beschreibt einen Übergang, das Ende einer bis dahin friedlichen europäischen Epoche, mit ungewissen Entwicklungen in der Zukunft. Bereits vor Ausbruch des Krieges gab es andere einschneidende Veränderungen, ebenfalls Symptome einer Zeitenwende. Die Klimakrise ist mit Flutkatastrophen, Bränden und Artensterben spürbare Realität geworden, die Coronapandemie hat die Welt erschüttert. Millionen geflüchteter Menschen kommen in Europa an, Tausende von ihnen ertrinken auf ihrem Weg im Mittelmeer, antidemokratische Politik und Nationalismus in Europa nehmen zu. Die Armut in Deutschland erreicht 2022 laut dem Paritätischen Wohlfahrtsverband einen Höchstwert von 16,9 %, auf Grund des demografischen Wandels in Deutschland ist jede zweite Person älter als 45 Jahre und jede fünfte Person älter als 66 Jahre.

Allein die hier aufgeführten Aspekte, die uns täglich über Medien erreichen, zeigen die hohe Komplexität beunruhigender, verunsichernder und überfordernder Entwicklungen. Weitere Überforderungen entstehen durch Digitalisierung, künstliche Intelligenz und die negativen Auswüchse der Social-Media-Kultur. Es verwundert nicht, dass Menschen mit Erschöpfung reagieren und auch hier kann man, wie oben beschrieben, die Erschöpfung als Abwehr verstehen.

Wenden wir uns den gegenwärtigen Arbeitswelten zu, zeigt sich, dass der „kapitalistische Zentralimperativ der Selbstoptimierung“ und des „Immer – weiter – so“ (Graefe 2019, S. 177) nicht nur die Menschen, sondern auch die Ressourcen unserer Welt erschöpft. „Ich optimiere mich zu Tode“ so beschreibt Byung-Chul Han (2018, S. 94) in seinem Buch „Müdigkeitsgesellschaft“ die Generation, die im neoliberalen Zeitalter den Optimierungszwang subjektiv verinnerlicht hat und die Selbstausbeutung als einen Akt der Freiheit deutet. Auch Alain Ehrenberg beschäftigt sich mit dem Phänomen, dass „das spätmoderne Subjekt seinen Unmut und seine Frustration nur noch an eine Instanz: sich selbst“ richtet (Ehrenberg 2004, S. 267 f., zitiert nach Graefe 2019, S. 56). Gesellschaftlich etablieren sich subjektive innere Konflikte der Individuen, während die kollektiven, sozialen Konflikte unsichtbarer werden. Ehrenberg vertritt die Ansicht, dass sich soziale Konflikte in Zeiten der Moderne erübrigen. Hier widerspricht Graefe ihm: „Die These vom Verschwinden sozialer Konflikte stimmt somit nicht nur unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten wenig hoffnungsfroh, (…). Vielmehr kommt es zu einer Pluralisierung von Konfliktanlässen, Konfliktformen und Konfliktakteuren. Dass soziale Konflikte der Gegenwart ihre Energie vor allem aus lebensweltlichen Ansprüchen auf Teilhabe, Anerkennung oder öffentliche Sichtbarkeit marginalisierter Gruppen beziehen deutet zudem darauf hin, dass sie sich selbst modernisiert haben – und nicht, wie Ehrenberg nahelegt, im Zuge von Modernisierungsprozessen überflüssig geworden sind“ (Graefe 2019, S. 58).

Wenn wir Erschöpfung im Arbeitsleben als Folge von Alltags- und Arbeitsverdichtung, Entfremdung, Selbstoptimierung und Mangel an Zugehörigkeit und Bezogenheit auf die Welt interpretieren, wird deutlich, dass die derzeitigen Krisenerfahrungen gesellschaftliche Fehlentwicklungen spiegeln, die nicht individuell durch resiliente Anpassung bewältigt werden können. Die Hochkonjunktur resilienter Praktiken, die vorgeben, das Subjekt zu sichern und unverletzlich zu machen, dient der Abwehr komplexer gesellschaftspolitischer Zusammenhänge, die Gefühle von Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit erzeugen können.

Etablierte sich um 1900 im Zusammenhang mit Erschöpfungsphänomenen der Begriff der NeurasthenieFootnote 5, sprechen wir heute von Burnout, chronischer Müdigkeit, Erschöpfungssyndrom und depressiver Störung. Vergleichen wir die Epoche um 1900 mit der gegenwärtigen, so zeigt sich jeweils das Phänomen der „Zeitenwende“, das Ende einer Epoche, in der sich die gesellschaftliche, wirtschaftliche und technische Situation verändert und überholt hat. Ein Unterschied von damals zu heute liegt in der Überkomplexität der Gegenwart in Folge von Globalisierung, Digitalisierung, Finanz- und Rohstoffkrisen, der Macht sozialer Medien, Beschleunigung und maßloser Wachstumsideologie.

Als eine persönliche Zeitenwende lässt sich der Übergang in das letzte Drittel des Arbeitslebens verstehen, in der eine Neuorientierung in Bezug auf Belastung, Selbstfürsorge und Sinnhaftigkeit ansteht. Nach dem Entwicklungspsychologen E. Erikson (1981) handelt es sich in diesem Übergang um die Phasen der Generativität und Integration, was in folgendem Abschnitt im Zusammenhang mit einem Fallbeispiel weiter ausgeführt wird.

4 Fallbeispiel „Aufsitzen“

Herr G., 55 Jahre alt, leitender Mitarbeiter in einer Kultureinrichtung, kommt zu fünf Coachingsitzungen mit der Fragestellung zu seiner weiteren Arbeitsperspektive.

Er hat das Gefühl, seinen Ansprüchen zu seiner Kreativität nicht mehr gerecht zu werden, beruflich trete er auf der Stelle.

Er klagt über Müdigkeit und schnelle Erschöpfung, ist niedergedrückt und beunruhigt. Gewichtszunahme, Bluthochdruck und Tinnitus bestehen seit kurzem. Das Thema der Sinnhaftigkeit beschäftigt ihn. Er vernachlässige wichtige Menschen und Lebensbereiche. Die politische und ökologische Weltlage beunruhigt ihn.

Vor der Bearbeitung von möglichen Zukunftsperspektiven erfolgen eine Rückschau auf seine zurückliegenden fünfundzwanzig Arbeits- und Lebensjahre und ein Resümee.

Psychodramatisch wird dieser Zeitraum als Landkarte mit einer time-line ausgelegt, mit Symbolen für besondere Ereignisse und in Lebensabschnitte mittels bunter Tücher strukturiert, auf einer Seite das Berufsleben, auf der anderen Seite das Privatleben. Ereignisse und Abschnitte werden mittels Moderationskarten beschriftet.

In der Draufsicht aus unterschiedlichen Perspektiven kann Herr G. seine langjährige Arbeit und beruflichen Erfolge, aber auch sein Familienleben, soziales Netz und viele nicht-berufliche Aktivitäten würdigen und wertschätzen.

In der Gegenwartsposition nimmt er im psychodramatischen Spiel Kontakt mit seinen körperlichen Symptomen auf, platziert und dargestellt über Stühle, und erkennt die Symptome als Folge und Ausdruck von komplexen Belastungen und akkumulierten Aufgaben.

Bei der Aufstellung seiner Belastungen tritt sein biographisches Thema der Autoritätsangst hervor, das er immer wieder in Verhandlungen und Begegnungen mit seinem Vorgesetzten und anderen Autoritäten erfährt und er benennt es als einen bedeutsamen Stress-Faktor.

Bei der Suche nach einer anderen Haltung und Einstellung gegenüber seinem Vorgesetzten kommt ihm als passionierten Reiter das Bild des „Aufsitzens“ in den Sinn. Er spielt diesen Bewegungsakt und die Haltung szenisch, er richtet sich körperlich auf und erfährt in dieser Haltung ein erhöhtes Maß an Selbstbewusstsein und Sicherheit für eine in Kürze anstehende Verhandlungssituation. Er beschreibt den Gewinn einer neuen inneren und äußeren Haltung. Diese neue Haltung wird körperlich verankert. Beim Blick auf sein bisheriges Arbeitsleben kann er seine Leistungen wertschätzen und daraus hervorgehend neue kreative Perspektiven entwickeln.

In E. Eriksons Arbeiten, insbesondere in seinem Acht-Phasen-Modell der Lebenszyklen, geht es zentral um das Thema der Generativität. Er beschreibt damit das existentielle Bedürfnis des Menschen nach einer kreativen Selbstverwirklichung und nach einer fürsorgenden Beziehung zu den nachfolgenden Generationen (vgl. Conzen 2005, 2012). Die Generativität als Lebensphase findet besonders im mittleren und reiferen Erwachsenenalter statt. In der darauffolgenden und letzten Lebensphase des gereiften älteren Menschen, der Phase der Integrität, geht es um die Anerkennung von Lebensleistungen, ein Blick auf das Gelebte findet statt, auf Erfolge und Schwächen, auf Irrtümer und verpasste Möglichkeiten. So kann eine versöhnliche Rückschau auf Ängste und Schwächen stattfinden und die Chance für neue Blickweisen und Haltungen beinhalten.

Im beschriebenen Fallbeispiel finden sich sowohl das Thema der Generativität als auch der Integration. Nicht erst im letzten Lebensabschnitt des rückblickenden älteren Menschen ist integrative Arbeit wie ein bejahender Blick auf den Lebensweg angezeigt. Es soll an dieser Stelle für zeitlich vorgezogene, nicht erst in der letzten Lebensphase stattfindende integrative Prozesse plädiert werden. Verstehen wir Erschöpfung als Flucht vor Überforderung in einem überkomplexen Leben und in vielen Fällen auch als Sinnkrise, so ist es im beratenden Format hilfreich, sich auf Eriksons Entwicklungsmodell und die Aufgaben der Lebensphasen zu beziehen.

5 Weltbeziehung – die Unsicherheit der Welt umarmen?

„Müdigkeit hat eine Aura, aber die Erschöpfung? Sie ist eine fundamentale Kränkung der Leistungsgesellschaft und ihres energie- und kraftstrotzenden Selbstanspruchs, denn sie ist – jenseits aller Gesundbeterei – Schwäche, Lähmung, Passivität, auch Unruhe, Übererregung, Übermüdung“ (Martynkewicz 2013, S. 11).

Mit dem Fokus auf Frauen und Männer im letzten Drittel des Arbeitslebens ist Erschöpfung ein Thema in der Phase von Übergang und Veränderung. Der mittlere dichte Lebensabschnitt ist zu Ende. Einige der Reserven sind aufgebraucht, sowohl physisch als auch psychisch. Themen wie Karriere- und Familienplanung sind meist abgeschlossen, der Blick wird weniger in die Zukunft gerichtet. Was aber bietet die Gegenwart, wenn Kraft und Gesundheit nachlassen, Menschen im fortschrittsbedingten Steigerungszwang nicht mehr mithalten können, Verletzlichkeit und Unsicherheiten größer werden und Arbeit, Familie und der eigene Körper nicht mehr die (vermeintlich) unwidersprochene Sicherheit als Grundlage darstellen. Spätestens hier scheint es an der Zeit, die eigene Vulnerabilität und die der Welt an sich anzuerkennen und Unsicherheit und Ungewissheit als Teil menschlicher Existenz zu integrieren. Der Psychoanalytiker Karl Auchter (1984) beschreibt Kreativität als Reaktion des Menschen auf Verlusterfahrung und Unsicherheit: „Kreativität ist eine Form des Umgehens mit der Versehrtheit menschlichen Lebens“ (S. 226).

Das Psychodrama unterstützt im schöpferischen Prozess von Spontaneität und Kreativität Menschen dabei, in diesen veränderten Lebensphasen neue, angemessene Rollenentwicklungen zu finden. „Es ist nicht ohne Bedeutung, dass Psychodrama, Soziodrama und Rollenspiel sich in einer rasch wandelnden Welt entwickelt haben, in der viele Rollen sich verbraucht haben und entweder verschwinden müssen, wiederbelebt werden oder durch neu entstehende Rollen ersetzt werden, die eine schnelle Akkulturation erforderlich machen“ (Moreno nach Hutter und Schwehm 2012, S. 311).

Neu entstehende Rollen basieren auf Entwicklungsaufgaben, die sich in unterschiedlichen Zeitphasen des Lebens und Arbeitslebens immer neu stellen. In der supervisorischen Arbeit schwingt oft mehr oder weniger bewusst die Frage nach Lebensaufgaben und Sinnhaftigkeit mit. Moreno gibt mit einer der drei Strukturtheorien, der Soziometrie, eine Antwort auf diese Fragen. Die Antwort geht weit über Befindlichkeiten der Einzelnen hinaus, er spricht von einer „therapeutischen Weltordnung“. „Ziel der Soziometrie ist die Entwicklung einer Welt, die jedem Menschen ungeachtet seiner Intelligenz, Rasse, Religion oder ideologischen Gebundenheit die Möglichkeit zur Entfaltung seiner Spontaneität und Kreativität gibt, die Möglichkeit zu leben oder die gleichen Rechte zu genießen“ (Moreno nach Hutter und Schwehm 2012, S. 170).

Der Fortbestand der Gesellschaft und damit die gemeinsame „Sorge um die Welt“ (vgl. Conzen 2005) ist ein zentrales Anliegen bei Moreno, Erikson und auch Rosa. Sorge um die Welt heißt zunächst wahrzunehmen, wo und wodurch die Resonanz, der wechselseitige Dialog mit ihr, unterbrochen wurde und sich EntfremdungFootnote 6 in der Weltbeziehung eingestellt hat. Hartmut Rosa (2022) macht hier eine einfache und doch in hohen Maß bedrückende Aussage: „Die Position, die wir der Welt gegenüber und in der Welt einnehmen, hängt zu jedem Zeitpunkt von unserer (je aktuellen) Performanz ab. Die Kerneinsicht über das daraus resultierende Weltverhältnis (…) lautet daher, dass wir immer schneller laufen müssen, um unseren Platz in der Welt zu halten“ (S. 692).

Dass man nicht unbedingt immer schneller laufen muss, sondern über eine veränderte soziometrische Position generativ für sich und Nachkommende sorgen kann, zeigt das folgende Fallbeispiel.

6 Fallbeispiel „Mir fehlt ein zweites Symbol“

In einem Team der Erzieherinnen einer Kindertagesstätte werden die Klientinnen gebeten, ein Symbol für ihre Rolle im Team zu finden und es auf der Tischbühne entsprechend des eigenen Erlebens der Teamsituation zu positionieren. Ausgangsthema ist ein Konflikt im Team, der sich besonders zwischen den Generationen abzuspielen scheint. Die Altersdifferenz umfasst etwa zwei Generationen. Die deutlich älteste Mitarbeiterin wählt zunächst ein Herz, das für ihre Liebe zu ihrer Arbeit und den Kindern steht. Mit Blick auf das Herz zögert sie verunsichert. Nach dem Grund ihres Zögerns gefragt sagt sie: „Da fehlt etwas, ich bräuchte ein zweites Symbol“. Sie wählt eine weißhaarige Figur mit Brille und beginnt zu erzählen: „Ich merke, dass die Arbeit schwerer wird und mich mehr anstrengt und erschöpft. Immer mehr Aufgaben kommen auf das Team zu, die in möglichst kurzer Zeit erledigt werden sollen. Auch private Veränderungen belasten mich (Erkrankung der Mutter und des Ehemanns), ich habe bereits die Rolle der Teamleitung vor einem Jahr an eine jüngere Kollegin abgegeben“. Sie spreche dieses Thema zum ersten Mal im Team an. Sie nehme wahr, wie ihre Leistungsfähigkeit und Kraft nachlassen, das beschäme und verunsichere sie. Im Erzählen und im Rückblick auf ihre Geschichte des Arbeitslebens ist sie sichtlich berührt, auch Trauer über den Abschied von einer Zeit hoher Ansprüche und Engagements wird deutlich. Wir sprechen über Rollenveränderung im Team, über Leistungsdruck und Haltungen und die Frage, wie der Übergang im Team gestaltet werden kann.

Supervisorisch deute ich die Selbstoffenbarung und Abgabe der Teamleitung der Klientin an die jüngere Kollegin nicht als Schwäche, ich benenne sie respektvoll als angemessene Reaktion auf die veränderte Situation. Die Entscheidung und Offenbarung zeugen von Reflexions- und Entwicklungsfähigkeit. Durch die Veröffentlichung ihrer Übergangssituation und den damit verbundenen Gefühlen von Erschöpfung, Abschied und Trauer hat die Klientin einen wichtigen Prozess im Sinne der Generativität, wie Erikson sie versteht, für das gesamte Team angestoßen. Für sie selbst war es sicherlich ein Schritt in Richtung Integration.

In der eigenen Reflexion der Sitzung war ich überrascht über die große Offenheit der Klientin. In einer weiteren Sitzung mit dem Groß-Team der Kita eröffnete sich mir eine mögliche Erklärung, die diese Haltung unterstützt hat. Bei der Frage, wie mit einigen neuen herausfordernden Anweisungen des Trägers umzugehen sei, erlebte ich die Gesamtleitung der Kita als sehr offen und transparent in der Weitergabe und Diskussion der potenziell dazukommenden Aufgaben. In einem basisdemokratischen Prozess wurde besprochen, welche der Aufgaben akzeptiert werden und welche mit der Begründung der Personalknappheit abgelehnt werden. Das offene Klima, gestützt von der mittleren Führungsebene, trug dazu bei, dass auch Aspekte individueller Erschöpfung und Überforderung benannt werden konnten und ein gemeinsamer Prozess von Arbeitsgestaltung möglich wurde.

7 Verantwortung für die Welt

In allen oben beschriebenen Fallgeschichten geht es unter anderem um das Thema, Verantwortung für sich zu übernehmen, jeweils in einer Lebensphase, in der neben einem Resümee des Gelebten auch Entscheidungsfindungen für ein „Wie weiter“ gefordert sind. Wir als Beratende sind aufgefordert, gemeinsam mit den Klient*innen zu prüfen, wann und wo veränderte Positionierungen nötig und möglich sind und Anpassung eben nicht die Lösung ist. Die jeweils angemessenen Fragestellungen um Verantwortlichkeiten und Haltungen zu finden, ist ein existentielles Ringen zwischen den Polen Ohnmacht und Handlungsfähigkeit, Verletzlichkeit und Resilienz, Hoffnungslosigkeit und Zuversicht. Dabei bedarf es der Akzeptanz, dass zur Authentizität auch die ihr eigenen Widersprüche, Brüche und Störungen gehören und diese mitzudenken und mitzufühlen sind, sowohl für Berater*innen als auch für die Beratung Suchenden. Um Klient*innen in kreative Prozesse zu führen, in denen sie Ressourcen ihrer Selbstwirksamkeit und Fähigkeit zu sozialer Interaktion und im weiteren Sinn ihre Fähigkeit zur Weltbeziehung (wieder-)entdecken, benötigen wir als Supervisor*innen ein umfassendes Rollenrepertoire und Rollengestaltung (vgl. Heltzel und Weigand 2014, 226 ff.). Es ist eine unverzichtbare Rolle des/der postmodernen Supervisor*in, Pluralitäten und Ambiguitäten aufzuzeigen und den gesellschaftspolitischen Diskurs mit in den Fokus zu nehmen.

Der Blick in die Epochen der „Zeitenwenden“ um 1900 und der Gegenwart zeigt, dass Themen von Erschöpfung mit somatoformer Symptomatik beispielhaft in diesen Phasen von Übergängen innerhalb der Gesellschaft entstehen. Unsicherheiten, Orientierungslosigkeit, Entwurzelung und Angst nehmen zu, soziale Kooperation und Engagement nehmen ab (vgl. Sennett 2012). Eine veränderte Haltung gegenüber Menschen in den letzten Arbeitsjahren, die Anerkennung einer langjährigen beruflichen Leistung und nicht zuletzt veränderte Führungshaltungen, um nur einige Faktoren zu nennen, können die individuellen Belastungen deutlich herabsetzen. „… Wir sind und bleiben aufgefordert, Strukturen und Machtverhältnisse, die Lebensgrundlagen zerstören und Ausbeutung, Ausgrenzung und Angst befördern, als das zu begreifen, was sie sind: nicht ontologisch, sondern menschengemacht“ (Graefe 2019, S. 196).

Wir haben Verantwortung für uns, aber auch für diese Welt, die wir unseren nachfolgenden Generationen hinterlassen.