Die Menschen für die Demokratie zurückgewinnen

Das Wir und das Über-Ich Oder wie man die Menschen für die Demokratie zurückgewinnt

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Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier veröffentlichte unlängst ein Buch mit dem Titel „Wir“, in einem Gastbeitrag der Historikerin Hedwig Richter in der FAZ spricht die Autorin von einem „Über-Ich“, das zur Bekämpfung des Klimawandels die Beschränkung der eigenen Freiheit doch wollen müsste. Angesichts der großen Bedrohungen und Herausforderungen nehmen Appelle und Ideen des Kollektiven wieder zu. Das kommt nicht unerwartet und ist auch nicht ganz falsch, denn deren Bewältigung betrifft „uns“ alle und gelingt nur gemeinsam. Und doch ist unklar, wer mit „Wir“ eigentlich gemeint ist und ob es dieses „Wir“ überhaupt (noch) gibt oder geben kann in einer Gesellschaft, die der Soziologe Andreas Reckwitz als eine „Gesellschaft der Singularitäten“ beschreibt. In einigen Wochen mag die Fußball-Europameisterschaft im eigenen Land eine Ahnung dieses „Wir“ aus den Erinnerungen an das Sommermärchen 2006 hervorholen. Die gesellschaftliche Drift wird sie aber nicht stoppen können. Auch ein „Über-Ich“ nicht, das in Hegelscher Tradition aus höherer Einsicht die absolute Vernunft für sich beansprucht und das als richtig Erkannte über alle Widerstände hinweg durchsetzt, aber letztlich nur eine totalitäre, im Kern illiberale und antidemokratische Spielart dieses „Wir“ ist. Solche Gedankenspiele sind das Gegenteil dessen, was in Zeiten der Polarisierung und einer Gesellschaft, die genervt, zerrissen und erschöpft wirkt, erforderlich ist, um Menschen wieder für die freiheitlich-demokratische Grundordnung zurückzugewinnen.

Die digitale Gesellschaft und die Zerstörung des öffentlichen Raums

Tatsächlich scheinen sich immer mehr Menschen von der Demokratie abzuwenden, in der, anders als in Autokratien, das „Wir“ für den gesellschaftlichen Kompromiss, die demokratische Legitimation, die Anerkennung der Mehrheit und den gleichzeitigen Respekt vor der Minderheit eine entscheidende Rolle spielt. Die Gesellschaft, die grundlegend für das Funktionieren der Demokratie ist, hat sich in den vergangenen Jahren jedoch viel stärker und komplexer verändert, als es jemals von der Politik und den Parteien reflektiert worden ist. Dass der Aufstieg der „sozialen“ Medien und zukünftig noch viel mehr die Künstliche Intelligenz die Gesellschaft in ihren vor-digitalen Grundkonstitutionen unverändert lassen könnte, wäre eine geradezu kühne Annahme. Zu schwerwiegend sind ihre Wirkungen auf den Einzelnen, die Kommunikation von und die Beziehung zwischen Menschen und somit auf die Gesellschaft generell, die von der Digitalität des Seins ausgehen. Rückblickend auf diese Zeit wird man wohl, wie es Yuval Harari prognostiziert, nicht weniger als den Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte der menschlichen Evolution und Zivilisation konstatieren, denn der Mensch selbst wird sich durch die neuen Technologien – von Künstlicher Intelligenz über Quantentechnologien bis hin zu synthetischer Biologie – neuropsychologisch und soziokulturell verändern.

Vor vielen Jahren wurde Angela Merkel für ihre Aussage, das Internet sei Neuland, noch belächelt, ja, fast verspottet. Und doch hatte sie, vielleicht anders, als sie es damals meinte, zweifelsohne recht. Zwei anthropologisch bedeutsame, in ihren gesellschaftlichen Wirkungen radikale und zugleich paradoxe Veränderungen lassen sich identifizieren: Zum einen hat die ultimative Vernetzung der Menschen, die durch die Digitalisierung möglich geworden ist, zu ihrer sozialen Vereinzelung, bisweilen zu ihrer Vereinsamung geführt. Das Internet ist mehr und mehr an die Stelle der Gesellschaft getreten und hat letztere nach und nach aufgelöst. Zum anderen hat die Möglichkeit, dass jeder und alle gleichzeitig immerzu senden können, dazu geführt, dass die Menschen kaum noch miteinander kommunizieren. Das Internet ist mehr und mehr an die Stelle des öffentlichen Raumes getreten und hat letzteren nach und nach zerstört. Eine dritte fundamentale Veränderung ließe sich noch anführen: Das tradierte Konzept der „Grenze“, aus dem sich andere, ebenso fundamentale Konzepte wie „Autonomie“ oder „Hoheit“ ableiten, verliert in der Digitalität zwar nicht an Bedeutung, so doch aber an Wirkungsmacht, weil territoriale Grenzen, an denen etwas aufgehalten werden könnte, im Digitalen weitgehend aufgehoben sind. „Neuland“ eben.

Das Internet hat dadurch in einem bislang ungekannten Ausmaß die Autonomie des Einzelnen gestärkt und gleichzeitig zu seiner ohnmächtigen Abhängigkeit von „sozialen“ Netzwerken und ihren Algorithmen geführt. Das Ganze potenziert sich zukünftig noch durch die Möglichkeiten der Manipulation und Desinformation, die mit Künstlicher Intelligenz einhergehen. Wahrheit und Lüge werden bald – oder sind es schon – nicht mehr unterscheidbar sein. Es ist subjektiv unmöglich, das gesellschaftlich Wirkliche objektiv zu erkennen, weil es gar nicht (mehr) existiert. Womöglich war die früher kollektiv wahrgenommene gesellschaftliche Wirklichkeit auch nur eine „Wir“-Illusion, die von analogen Medien durch die Aggregation von Nachrichten zu Fokalpunkten unserer subjektiven Wahrnehmung erzeugt wurde. Immerhin jedenfalls hatte diese Form der Aggregation, die früher von einer regulierten medialen Öffentlichkeit und nun von den intransparenten, aber intentionalen Algorithmen der „sozialen“ Medien vorgenommen wird, doch eine gewisse Form der Stabilität und Identität geschaffen.

Die „sozialen“ Medien und der Verlust an moralischer Substanz

Die medienstrukturell und -kulturell veränderte Stellung des Einzelnen innerhalb der digitalen Gesellschaft kann nicht ohne Folgen für die Demokratie bleiben. Der Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde argumentierte einst, dass der säkularisierte Staat die Freiheit, die er seinen Bürgern garantiert, nicht selbst mit Zwang durchsetzen könne, ohne dabei seinen freiheitlichen Charakter zu verlieren, sondern dass sie, gleichsam als ihre Voraussetzung, notwendig aus der moralischen Substanz der Gesellschaft selbst entstehen müsse. Republikanische Freiheit ist, anders als die Idee einer absoluten individuellen Freiheit, immer eine gesellschaftlich kontextualisierte und nur als solche demokratisch legitimierbare Freiheit. Sie lässt sich aber gerade nicht zu dem Willen eines „Über-Ich“ aggregieren, sondern muss immer wieder aus der moralischen Substanz der Bürgergesellschaft geschöpft werden.

Die moralische Substanz einer Gesellschaft basiert somit wesentlich auf der empathischen Fähigkeit ihrer Bürger, Toleranz und Achtung füreinander zu entwickeln. Immanuel Kant, dessen dreihundertster Geburtstag in diesem Jahr begangen wird, hat mit seinem „kategorischen Imperativ“ die Begründung des Zusammenhangs von Vernunft und Ethik, einer auf Vernunft basierenden Ethik und einer auf Ethik basierenden Vernunft gegeben: Handle nach derjenigen Maxime, von der du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde. Es ist demnach vernünftig, ethisch zu handeln, und es ist ethisch, vernünftig zu handeln. So wie die europäische Aufklärung das Zeitalter des Liberalismus und der Demokratie geistig-moralisch vorbereitete, muss womöglich auch jetzt, da sich die Digitalisierung – und vor allem die Künstliche Intelligenz – anschickt, die Konstitution der Gesellschaft und die Rolle des Menschen tiefgreifend zu verändern, eine neuerliche Aufklärung für das post-digitale Zeitalter die geistig-moralischen Grundlagen legen.

Auch aus Kant aber leitet sich kein „Über-Ich“ oder ein kollektives „Wir“ ab. Das Komplizierte und Schwierige an Demokratie besteht eben darin, dass es nur die eine gemeinsame gibt. Die Demokratie kann sich ihre Gesellschaft nicht wählen. Die „sozialen“ Medien funktionieren indes genau so: Algorithmen sortieren nach den Kriterien von Zugehörigkeit und Ausgrenzung, filtern nach Zuspitzung und Polarisierung. Sie treiben den Menschen die bürgerliche Empathie aus, fördern systematisch Zorn, Neid und Hochmut, Charaktereigenschaften also, die schon in der Bibel als Todsünden genannt und als solche buchstäblich des Teufels sind. Aus gesellschaftlich verbundenen Bürgern werden anonyme Nutzer, aus gemeinwohlverpflichteten Politikern ideologische Aktivisten. Die Mechanismen von Demokratie und „sozialen“ Medien verhalten sich somit diametral zueinander. Die zunehmende Verlagerung von Debatten in Echokammern, in denen unterschiedliche Argumente und Lebensrealitäten immer weniger eine Rolle spielen, führt im Ergebnis zu dem Versuch einer moralischen und ideologischen Aneignung der Demokratie durch einzelne Gruppen und letztlich zu einer gesellschaftlichen Entfremdung von ihr. Dadurch wiederum entsteht Raum für das Illiberale und Antidemokratische, für das Autoritäre und Autokratische als Auflehnung gegen diese Aneignung. Die moralische Substanz einer Gesellschaft, die Böckenförde als Voraussetzung eines freiheitlich-demokratischen Staates sah, wird dadurch von beiden Seiten ausgehöhlt.

Die Menschen für die Demokratie zurückgewinnen

Um Menschen für die Ordnung von Demokratie und Freiheit zurückzugewinnen, muss die moralische Substanz der Gesellschaft wieder aufgebaut werden, das Vertrauen der Menschen in die Ordnung erneuert werden. Freiheit aber ist nicht gerecht, und Demokratie kann es nie allen recht machen. Aber es muss fair zugehen: Wer sich anstrengt, soll belohnt werden, wer mehr leistet, hat mehr verdient, wer unverschuldet in Not gerät, dem soll geholfen werden. Fairness ist ein sehr bedeutendes, sehr stark im Bewusstsein der Menschen verankertes Konzept. Ein Fußballspiel etwa findet nie unter gerechten Voraussetzungen oder gleichen Bedingungen statt. Wenn der Schiedsrichter aber zulässt, dass es unfair zugeht, werden sich die Spieler nach dem Spiel nicht mehr die Hand reichen und unter den Zuschauern kommt es zu Tumulten. Unverdiente Priviliegien – entweder aus Herkunft und Vermögen oder aus Stellung und Einfluss – sind unfair und Gift für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft.

Die Aufgabe der Politik wird also wesentlich darin bestehen müssen, die Vision einer post-digitalen und post-„neo“liberalen Gesellschaft zu formulieren, nicht durch ein elitäres „Wir“ oder ein totalitäres „Über-Ich“, sondern durch eine Widerherstellung des öffentlichen Raumes und eine Stärkung der Parlamente. Sie sind „republikanische“ Orte, an denen freie Debatte und demokratische Repräsentation stattfinden. Es gilt, die Demokratie zu reparieren, bevor sie kaputt ist. Denn „wir“ haben nur diese eine.

Prof. Dr. Henning Vöpel
Vorstand Stiftung Ordnungspolitik
Direktor Centrum für Europäische Politik

Quelle: Berliner Ordnungsruf