Verkehrte Geschichte

Egon Krenz

Seit 1951 war ich in der Regel dabei, wenn Millionen DDR- Bürger auch am Treptower Ehrenmal die sowjetischen Opfer ehrten, die für unsere Freiheit vom Faschismus ihr Leben gaben. Immer hatte ich das Gefühl, leben zu können, weil sie ihr Leben für uns gaben.

Dieses Jahr packte mich der Zorn: Eine polizeiliche Verfügung verdrehte in mehreren Punkten die geschichtliche Wahrheit über den Zweiten Weltkrieg: Die Sieger von einst wurden zu Opfern der Besiegten gemacht. Es wurde untersagt, ein Duplikat des roten Banners zu zeigen, das 1945 auf dem Dach des Reichstages als Zeichen des Sieges über den deutschen Faschismus gehisst wurde.

Empörend finde ich auch, dass das Singen oder Abspielen „aller Varianten des Liedes ‘Der Heilige Krieg‘“ verboten worden war. Der Text entstand nur wenige Tage nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion. Die deutsche Übersetzung verfasste der Antifaschist Stephan Hermlin. Wenn der Arbeitersänger Ernst Busch sie sang, verstand jeder den Appell aus dem Lied des Großen Vaterländischen Krieges:

„Den Nazihorden Widerstand
Tod der Faschistenmacht!‘“.

Mein inzwischen betagter russischer Freund, mit dem ich 1964 in Moskau ein Zimmer im Internat teilte, fragte mich gestern per E- mail, warum darf man in Deutschland nicht gegen die Nazis singen?

Diese Frage war keineswegs „russische Propaganda“, sondern am Tag des Sieges deutsche Realität. Es zeigt, wohin es führt, wenn der Ukrainekrieg zur Verfälschung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges instrumentalisiert wird.

Es wäre an der Zeit, dass die führenden deutschen Politiker sich endlich wieder an die staatsmännische Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker erinnern, der 1985 der westdeutschen Bevölkerung den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ erklärte.

Frieden gibt‘s nur mit Russland, nicht gegen das größte Flächenland der Welt. Alles andere ist erfahrungsgemäß objektiv gegen die nationalen Interessen der Deutschen gerichtet. 

11 May 2024