Schlüsselwörter

1 Einleitung

„The bomb flashed blinding scarlet in mid-air, and fell,

a descending column of blaze eddying spirally in the midst of a whirlwind. […]

When he could look down again it was like looking down upon the crater of a small volcano.“

H.G. Wells 1913, The World Set Free

NuklearwaffenFootnote 1 beschäftigten die menschliche Fantasie schon lange vor ihrer technischen Realisierung. Das am häufigsten zitierte Beispiel dafür ist H. G. Wells‘ Roman The World Set Free aus dem Jahr 1913Footnote 2 – eine Fiktion, die auch den Begriff „Atombombe“ prägte. 32 Jahre nach ihrem Erscheinen, am 16. Juli 1945, fand dann die erste reale Atomexplosion im Rahmen des US-Nuklearwaffentests Trinity in der Wüste von New Mexico statt. Nur drei Wochen später, am 6. und 9. August, zerstörten zwei Bomben – Little Boy und Fat Man – die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki, sechsstellige Opferzahlen und leidvolle Folgeschäden für die Bevölkerung verursachend. Seitdem wurden Nuklearwaffen zwar weiterentwickelt und – zeitweilig intensiv – getestet, aber nie wieder zu Kriegszwecken eingesetzt.

Nuklearwaffenexplosionen entfalten eine vielfach größere Energie – und somit Zerstörungskraft – als konventionelle, chemische Sprengstoffe. Fissions- oder Atombomben nutzen den Prozess der Kernspaltung. Das Herstellen einer „kritischen Masse“ spaltbaren Materials führt dabei zu einer massiven Neutronenfreisetzung und einer unkontrollierten Kettenreaktion. Dies wird erreicht, indem entweder zwei Teile des Spaltmaterials mittels konventionellen Sprengstoffs in einer Röhre ineinander geschossen werden („Kanonenrohr-Design“) oder indem eine Kugel spaltbaren Materials durch konventionellen Sprengstoff von außen sphärisch verdichtet wird („Implosions-Design“). Als Spaltmaterial dient entweder das Uranisotop U-235, das durch Anreichung (häufig in Gaszentrifugen) aus Natururan gewonnen werden muss, welches zu über 99 % aus U-238 besteht. Oder es findet, allerdings nur im Falle des Implosions-Designs, das künstlich in Kernreaktoren erzeugte Plutoniumisotop Pu-239 Verwendung. Little Boy, eine Uran-Bombe, basierte auf dem Kanonenrohr-Design; Fat Man, eine Plutonium-Bombe, auf dem technisch anspruchsvolleren und effizienteren Implosions-Design.

Die Weiterentwicklung der Nuklearwaffen nutzte den Prozess der Kernfusion. Auf seiner Grundlage wurden zu Beginn der 1950er-Jahre Wasserstoffbomben entwickelt. Sie erzeugen Energie primär nicht durch die Spaltung, sondern durch die Verschmelzung von Atomkernen (Deuterium mit Tritium). Kernspaltung findet in Wasserstoffbomben zwar stets auch statt, allerdings nur um die Anschub-Energie zur Ingangsetzung der Fusionsreaktion zur Verfügung zu stellen – gewissermaßen als Zünder.Footnote 3 Die Zerstörungskraft von Wasserstoffbomben liegt in der Regel um eine Größenordnung höher als die von Atombomben.

Die zerstörerische Wirkung von Nuklearwaffen beruht auf der bei ihrer Explosion entstehenden Druckwelle, Hitze und radioaktiven Strahlung.Footnote 4 Des Weiteren entsteht bei der Explosion von Nuklearwaffen ein kurzlebiges, starkes elektromagnetisches Feld. Dieser elektromagnetische Puls (EMP) verursacht Schäden an Elektronik. Langzeitfolgen für die Gesundheit, etwa in Form von steigenden Krebsrisiken, verursacht der radioaktive Niederschlag, der Fallout, bestehend aus durch die Strahlung kontaminierten, radioaktiven Partikeln in der Umwelt.

Gemessen wird die bei der Explosion von Nuklearwaffen frei werdende Energie in „Äquivalent zu TNT“ (dem chemischen Sprengstoff Trinitrotoluol). Exakte Angaben über die Zerstörungswirkung sind damit nicht möglich, denn die Detonationshöhe der Waffe, die geografische Beschaffenheit und diverse weitere Faktoren beeinflussen, welche Effekte eine Nuklearexplosion auf die Umgebung hat. Die Größenordnungen und die Unterschiede, etwa zwischen Atom- und Wasserstoffbomben, werden anhand dieser Maßeinheit aber schnell klar. So betrug die Energie der Explosion von Little Boy, umgangssprachlich die „Sprengkraft“, ca. 15 Kilotonnen TNT, während im aktuellen Nukleararsenal der USA befindliche Sprengköpfe über die zwanzig bis dreißigfache Sprengkraft verfügen. Moderne Nuklearsprengköpfe können aber auch Energien im Megatonnenbereich freisetzen; die größte jemals gezündete Nuklearwaffe war die sowjetische „Zar-Bombe“, eine Wasserstoffbombe, die während ihres Tests 1961 eine Sprengkraft von 50 Megatonnen entfaltete – bis heute die größte von Menschenhand erzeugte Explosion.Footnote 5

Bereits 1948 wurden Nuklearwaffen, ebenso wie Bio- und Chemiewaffen, von der Kommission der Vereinten Nationen für konventionelle Rüstung zu „Massenvernichtungswaffen“ erklärt. Ziel dessen war, sämtliche Waffen, die unterschiedslos Kombattanten und Nichtkombattanten töteten und menschliches Leben, Infrastruktur und die Umwelt in extremem Ausmaß bedrohen, zukünftig klar von konventionellen Waffen abzugrenzen (Walker 2004, S. 22).

Im folgenden Abschn. 2 wird nach einem knappen historischen Abriss der Entwicklungen hin zum ersten und bis heute einzigen Einsatz von Nuklearwaffen deren Bedeutung – für die internationale Politik und die Disziplin Internationale Beziehungen (IB) – herausgestellt. Abschn. 3 rückt daraufhin das Phänomen des nuclear non-use in den Vordergrund, also die Forschung zu den Ursachen des seit Hiroshima und Nagasaki anhaltenden Nichtgebrauchs von Nuklearwaffen für Kriegszwecke. Abschn. 4 skizziert dann die Forschung zu der Frage, warum Staaten den Besitz von Nuklearwaffen überhaupt anstreben. Wie der nuklearen Proliferation mittels Rüstungskontrolle politisch entgegengewirkt wird, ist nicht Bestandteil dieses Beitrags (siehe dazu in diesem Band Schörnig 2022). Das Fazit in Abschn. 5 gibt einen Ausblick auf zukünftige Forschungsperspektiven und mögliche politische Entwicklungen.

2 Nuklearwaffen in den (I)nternationalen Beziehungen

„I tried to apply traditional diplomatic principles to a world with nuclear weapons.

And, uh, I found it […], I would say, impossible to do.“

Henry Kissinger (zitiert nach Goddard 2010)

Vermutlich bereits 1939, sicher aber in den ersten Monaten des Jahres 1940, gab es innerhalb der bis dahin noch überschaubaren Gruppe von Nuklearforscherinnen und -forschernFootnote 6 weltweit – von denen viele später auch am Manhattan Projekt der USA beteiligt sein sollten – keinen Zweifel mehr darüber, dass die kürzlich entdeckte Atomspaltung auch die Möglichkeit zur Entwicklung einer neuartigen Waffe eröffnete (Rhodes 1986, S. 324–325).Footnote 7 Die Entwicklung dieser Waffe würde das Nuklearzeitalter in der internationalen Politik einläuten und die junge Disziplin IB mit einer Reihe neuer, fundamentaler Fragestellungen konfrontieren.

2.1 Hiroshima und Nagasaki: Der Beginn des Nuklearzeitalters

Vielen der am Manhattan Projekt beteiligten Forscher – Dutzende von ihnen Emigranten aus Europa, die sich vor Nazi-Deutschland in Sicherheit gebracht hatten – erschien die Entwicklung einer atomaren „Superwaffe“ schon allein angesichts der Bedrohung durch Deutschland gerechtfertigt. Aber einige der Beteiligten knüpften an ihr Vorhaben auch die Hoffnung auf Weltfrieden (Rhodes 1986, S. 312). Einige der Wissenschaftler aus der Gruppe der europäischen Emigranten sahen einen humanitären Fortschritt in der Entwicklung der Bombe, weil sie im internationalen System eine höhere Instanz, eine Weltregierung, hervorbringen würde, die dank ihres nuklearen Monopols zwischenstaatliche Krieg zukünftig unterbinden könne und zu deren Einrichtung sich die Staaten im Angesicht der Bombe, so die Annahme, schlichtweg gezwungen sehen würden. Die Überzeugung dieser sogenannten nuclear one worlders zu jener Zeit war: „the inevitable trajectory of nuclear politics [is] either a catastrophe or a world government of some sort“ (Deudney 1995, S. 89; Walker 2012, S. 2, 41–42).

Tatsächlich wurden nach dem Zweiten Weltkrieg dann aber weder das internationale Staatensystem noch die Institution Krieg überwunden; vielmehr wurden die neuen Waffen in Form der nuklearen Abschreckung in bestehende militärische und außenpolitische Paradigmen eingebettet. Dazu mehr in Abschn. 3.1.

Nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands gewann das legitimatorische Motiv der „kriegsverkürzenden Wirkung“ unter Atomforschern und in der US-Politik größere Bedeutung (Rhodes 1986, S. 465, 778; Bundy 1988, S. 88–93, 185; Wagner 1995, S. 77),Footnote 8 da der Krieg gegen Japan im Pazifik einen hohen Blutzoll forderte. Zwar waren einige der am Manhattan Projekt beteiligten Forscher hinsichtlich der neuen Waffe von Zweifeln geplagt,Footnote 9 doch fanden ihre Stimmen keinen Zugang zum politischen Entscheidungsprozess. Das beste Zeugnis dafür legt die Arbeit des Interim Committee ab. Ende April 1945, kurz nach Präsident Roosevelts Tod, berief dessen Nachfolger Harry Truman dieses kleine Beratungsgremium ein, dem die Frage vorgelegt wurde, wie die fertige Bombe eingesetzt werden sollte. Die Frage, ob der Einsatz stattfinden solle, wurde gar nicht erst gestellt. Sie kam auch nachträglich nicht auf. General Leslie R. Groves, der militärische Leiter des Manhattan Projekts, trug dafür Sorge. Er setzte seine Position auch in der Debatte um die Modalitäten des Einsatzes durch. Beschlossen – und an Präsident Truman als Handlungsempfehlung weitergeleitet – wurde von den Sachverständigen des Interim Committee somit der Einsatz der Atombombe zum frühestmöglichen Zeitpunkt, ohne Vorwarnung, sowie gegen ein Ziel, welches aus militärischen Installationen wie auch Unterkünften von Arbeitern bestehen sollte (Kriterien, die die Städte Hiroshima und Nagasaki erfüllten, was sie nach damaliger Auffassung zu legitimen Zielen machte). Der vierköpfige wissenschaftliche Beirat des Interim Committee setzte sich neben dem wissenschaftlichen Leiter der Manhattan Projekts Robert J. Oppenheimer aus den Atomwissenschaftlern Enrico Fermi, Arthur H. Compton und Ernest O. Lawrence zusammen – keiner der vier fühlte sich berufen, den Zweifeln ihrer Kollegen aus dem Manhattan Projekt Gehör zu verschaffen. Abstand von der Entscheidung nahm alleine das Komitee-Mitglied Ralph A. Bard (Undersecretary of the Navy), der später auch für das Vorausschicken einer Warnung an Japan eintrat. Er äußerte darüber hinaus den Eindruck, das Interim Committee habe nur eine bereits gefällte Entscheidung absegnen sollen (Smith 1958, S. 295–299; Jungk 1964, S. 175–177; Bundy 1988, S. 73; Bernstein 1991, S. 156).

Nach dem Abwurf über Nagasaki ließ Truman das atomare Bombardement stoppen; ohnehin war das US-Arsenal fürs erste erschöpft. Doch Henry Wallace (zitiert nach Rhodes 1986, S. 743), Handelsminister in Trumans Kabinett, erinnerte sich Jahre später auch an einen Sinneswandel auf Seiten des Präsidenten: „Truman said he had given orders to stop atomic bombing. He said the thought of wiping out another 100,000 people was too horrible. He didn’t like the idea of killing, as he said, ‚all those kids‘“. Diese Abscheu, hervorgerufen durch die unterschiedslose Zerstörung durch Nuklearwaffen sowie die daraus resultierende Beweislastumkehr in der Frage des Nuklearwaffengebrauchs, greife ich im Abschn. 3.2 im Rahmen der Diskussion des nuklearen Tabus wieder auf.

Mit den Abwürfen über Hiroshima und Nagasaki und Präsident Trumans Radioansprache vom 6. August 1945 rückten Nuklearwaffen schlagartig ins breitere, öffentliche Bewusstsein. Die Neuigkeit verbreitete sich für damalige Verhältnisse mit rasender Geschwindigkeit – 98 % der erwachsenen Bevölkerung der USA wussten 1946 nach einer Umfrage des US Social Science Research Council um die Bombe (Boyer 1994 [1985], S. 22, 105). Das Nuklearzeitalter hatte begonnen.

2.2 Das Nuklearzeitalter: Politikwissenschaftliche Forschung und Beratung

Die Perspektive der noch jungen politikwissenschaftlichen Disziplin IB war nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs durch Schriften von Realisten wie etwa Hans Morgenthau ( 2005 [1948]) dominiert: „It […] took World War II to convert Realism from a rather esoteric and private critique of the behavior of the Western democracies into a popular and fully articulated interpretation of world politics, everywhere and any time“ (Rothstein 1972, S. 349; vgl. Guzzini 2004). Später sollte Morgenthau (1962, S. 76) Nuklearwaffen den höchstmöglichen Stellenwert einräumen, indem er das Nuklearzeitalter als „the only real revolution which has occurred in the structure of international relations since the beginning of history“ bezeichnete. Doch die Idee, als Reaktion auf die Existenz von Nuklearwaffen eine wirklich revolutionäre Transformation anzustoßen, nämlich weg vom anarchischen, kriegsanfälligen Staatensystem und hin zum von den nuclear one worlders erträumten Weltstaat als Friedensgarant, war 1945 nicht mit dem realistischen Zeitgeist vereinbar. Prominente realistische Vordenken wie Reinhold Niebuhr demontierten die Idee des „Weltfriedens durch Weltstaat“ öffentlich (Boyer 1994 [1985], S. 43–44). Der „realistische“ Umgang mit dem neuen Zeitalter setzte stattdessen auf altbewährte militärische und außenpolitische Konzepte. So verfing, nicht zuletzt weil der Realismus ein „rather grim picture of world politics“ (Mearsheimer 1995, S. 9) zeichnet, in der Praxis schnell die Idee einer Strategie der nuklearen Abschreckung als „the next best bet“ (Morgan 1977, S. 11) – noch bevor der „Baruch Plan“ zur Internationalisierung der Kontrolle über Atomenergie 1946 vor der United Nations Atomic Energy Commission scheitern sollte. Auf einer Konferenz in Chicago im September 1945 – nur fünf Wochen nach dem ersten und letzten Atombombeneinsatz der Geschichte – referierte Jacob Viner, ein Ökonom von der Universität Chicago, bereits grundlegend über die Bedeutung von Abschreckungsstrategien für die kommende Weltordnung (Rhodes 1986, S. 753; Freedman 2003 [1981], S. 40, 42).

Die Idee der nuklearen Abschreckung ließ sich mit dem zur Verfügung stehenden realistischen Vokabular trefflich in Form gießen. Sie deckte sich mit den quasi-mechanischen Vorstellungen von Balance, Aktion, Reaktion, Ursache und Wirkung, der Staaten zugeschriebenen Rolle als rationale Hauptakteure, der Bedeutung von Macht, Anarchie, Unsicherheit und konstanter Bedrohung im internationalen System sowie der Idee der quantitativen und qualitativen Balance militärischer Schlagkraft. Das Abschreckungsparadigma funktionierte sinnstiftend in einem realistischen Weltbild, in dem der Freund von heute der Feind von morgen sein kann (Grieco 1988, S. 487): „[B]ecause most American scholars accepted Realism, it is not surprising that they found deterrence theory congenial“ (Jervis 1979, S. 289).

Darüber hinaus war sie dem von Realisten hochgehaltenen Anspruch dienlich, die alleinige Quelle „realistischer“ Beratung für Entscheidungsträger zu sein und zu bleiben. Der begünstigende Faktor dafür war, dass der Realismus auch unter Praktikern breite Akzeptanz fand: „[It] encapsulated what they took for granted […] especially during the height of the cold war“ (Rothstein 1972, S. 348; vgl. Hollis und Smith 1991, S. 27–28). Gemäß der realistischen Vorstellung von internationaler Politik als einem „great drama in which wise statesmen [make] ‚hard choices‘“ (Rothstein 1972, S. 351), akzeptierten Praktiker die nukleare Abschreckung als das größte Drama mit den härtesten Entscheidungen. In dieser Henne-und-Ei-Situation wurden Akteure aus der politischen Praxis, die in realistischen Kategorien wie etwa der balance of power dachten, aus dem Lager der realistischen Abschreckungstheoretiker mit Begrifflichkeiten wie der der strategic balance konfrontiert. In den Augen mancher waren diese Konzepte mehr als nur eng verwandt, sie erschienen ihnen schlichtweg als „all the same thing“ (Kull 1988, S. 49; vgl. Jervis 1979, S. 290; Guzzini 2004, S. 555).

Der realistische Deutungsrahmen zu Beginn des Nuklearzeitalters bereitete also den idealen Nährboden für eine sich selbst erfüllende Abschreckungs-Prophezeiung (ähnlich: Jervis 1984, S. 40). Nuklearwaffen bestimmten die internationale Politik fortan im Sinne eines Gleichgewichts des Schreckens, nicht als die Vorboten eines Weltstaats und des Weltfriedens. Es folgten Jahrzehnte, in denen die Entwicklung von (und der Streit über) Nuklearstrategie in der für das Abschreckungsparadigma typischen Theorie-Praxis-Verquickung seinen Lauf nahmen – und Abschreckungsliteratur Regalmeter zu füllen begann. Wie die nukleare Abschreckung als Theorie den Nichtgebrauch von Nuklearwaffen abstrakt modelliert und allgemeingültig zu erklären versucht, das wird – zusammen mit alternativen Erklärungsversuchen für das Phänomen des nuklearen Nichtgebrauchs – im Folgenden thematisiert.

3 Der Nichtgebrauch von Nuklearwaffen

„The non-use of nuclear weapons […] remains

the single most important phenomenon of the nuclear age.

Yet we still lack a full understanding of how this tradition arose and is maintained,

and of its prospects for the future.“

Nina Tannenwald ( 2007, S. 1)

Die einleitend geschilderte Entwicklung der Nuklearwaffentechnologie zielte sowohl auf Seiten der USA als auch der UdSSR nicht nur auf Waffen mit immer größerer Sprengkraft im Rahmen der Erhaltung des strategischen Gleichgewichts ab. Im Gegenteil. Zeitweise wurden auf beiden Seiten immense Bemühungen darauf gerichtet, die ungeheure Kraft der Waffen zu zähmen, um auf diese Weise taktische Nuklearwaffen zu einem benutzbaren Teil der Arsenale zu machen – Waffen nach Maß, denen man sich ganz selbstverständlich bedient. An Gelegenheiten dafür mangelte es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht. Man denke etwa an die Kriege in Korea, Vietnam oder Afghanistan. Vor diesem Hintergrund erscheint es tatsächlich überraschend, dass Nuklearwaffen nach Hiroshima und Nagasaki nie wieder Verwendung fanden.

Eine einfache Erklärung für dieses Phänomen des nuklearen Nichtgebrauchs lautet: Glück.Footnote 10 So kommen etwa Robert McNamara und James G. Blight nach ihrer Analyse der Kubakrise zu folgendem Ergebnis: „[W]hile the missile crisis was well-managed, under very trying circumstances, the escape from it without a major war, even a nuclear war, seems nothing short of miraculous. In the end we lucked out“ (McNamara und Blight 2002, S. 2). Dass allerdings eine jahrzehntelange Glückssträhne allein für den Nichtgebrach von Nuklearwaffen verantwortlich sein soll, erscheint mehr als unwahrscheinlich.

Zumal drei weitere Erklärungsangebote existieren: Die nukleare Abschreckung, des nukleare Tabu und die Tradition des Nichtgebrauchs. In jeweils extrem verknappter Form zusammengefasst, erklären diese den nuklearen Nichtgebrauch wie folgt: Die Theorie der nuklearen Abschreckung postuliert, dass man als rationaler Akteur Nuklearwaffen nicht einsetzen kann (weil die Kosten den Nutzen übersteigen), das nukleare Tabu, dass man sie nicht einsetzen darf (weil es moralisch verwerflich wäre) und die Tradition des Nichtgebrauchs, dass man sie nicht einsetzen sollte (weil es auf lange Sicht Nachteile erzeugt). Nach der Darstellung dieser drei (subsumptionslogischen, auf Kausalzusammenhänge abzielenden) Erklärungsversuche im Folgenden, präsentiere ich abschließend mit Atomic Anxiety noch eine (rekonstruktionslogische) Alternativperspektive, die auf einen allen drei Erklärungsversuchen vorgeordneten aber in keinem zufriedenstellend berücksichtigten Aspekt abhebt, nämlich die Bedeutung der basalen Angst vor der totalen Vernichtung durch Nuklearwaffen.

3.1 Die nukleare Abschreckung

Die theoretische Reflexion über nukleare Abschreckung verlief in drei Wellen (Jervis 1979, S. 289; Freedman 2004, S. 21–25). Der von Bernard Brodie herausgegebene Band The Absolute Weapon (1946a) folgte dem von Jacob Viner vorgedachten Abschreckungs-Pfad. Er markierte die erste Welle und stellt bis heute den wichtigsten Meilenstein des Abschreckungsdenkens dar. Vornehmlich auf handfesten praktischen Erwägungen basierend und eher vortheoretischer Natur, lautete das zentrale Argument von Brodies Studie wie folgt: Die Androhung eines Zweitschlags zur Vergeltung mit gleichen Mitteln (retaliation in kind) ist der Schlüssel zur Abschreckung des Feindes, der diesen davon absehen lässt, seinen Erstschlag auszuüben. Dieser Gedanke vertrug sich schlecht mit der bisherigen militärischen Praxis. Denn oberste Priorität war gemäß des neuen Abschreckungsparadigmas nicht mehr, Kriege zu gewinnen, sondern stattdessen Kriege zu verhindern (Brodie 1946b, S. 75).

Doch schon in The Absolute Weapon beschrieb Frederick Dunn (1946, S. 17; vgl. Morgenthau 1964) ein viel grundsätzlicheres, theoretisches Problem – die Paradoxie der nuklearen Abschreckung: „Thus we come to the final paradox that while the best way to avoid atomic warfare is to get rid of war itself, the strongest present ally in the effort to get rid of war is the capacity to resort to atomic warfare at a moment’s notice“. Dieses Paradox – eben jenes entschlossen vorbereiten und befördern zu müssen, was man eigentlich unter allen Umständen zu vermeiden sucht – sollte Abschreckungstheoretiker in den nächsten beiden Wellen (und bis heute) auf Trab halten.

Insbesondere in der auf rational choice-Modelle (Steinbruner 1975, S. 225–226) setzenden zweiten Welle entwickelte sich die Abschreckungstheorie schnell weg von den eingängigen, praxisorientierten Handlungsvorschlägen Brodies und hin zur komplexen, nomothetischen rational theory of deterrence, die heute in der Regel gemeint ist, wenn von Abschreckungstheorie die Rede ist: „[e]fforts to develop a robust theory […] encouraged treatment of [nuclear deterrence] as an abstract phenomenon, as if it would be basically the same everywhere and at any particular time“ (Morgan 2012, S. 85). Rationale Entscheidungsfindung, definiert als „a calculating, value-maximizing strategy of decision“ (Schelling 1979 [1960], S. 17), wurde dabei innerhalb eines spieltheoretischen Rahmens genutzt, um staatliche Handlungen als moves in einem interaktiven Spiel zweier Gegenüber mit divergierenden Präferenzen zu konzeptualisieren und daraus optimale Strategien abzuleiten (Schelling 1979 [1960], S. 4, 9–10, 16–20, 131–132, 134–135; Snyder 1960, S. 168).

Das Bereithalten von gegen entwaffnende Erstschläge geschützter militärischer Potenziale, was zu Brodies Zeiten noch als die Kernvoraussetzung für das Funktionieren nuklearer Abschreckung betrachtet wurde, rückte in der zweiten Welle (da die nukleare Rüstungsdynamik inzwischen Sprengköpfe zu Genüge hervorgebracht hatte) in den Hintergrund. Ins Zentrum der Überlegungen rückte vielmehr die Sicherstellung der Glaubwürdigkeit der Vergeltungsdrohung (Freedman 2004, S. 21; Morgan 2011, S. 160–162). Schließlich kann ein Gegner, der die Ernsthaftigkeit der Drohung bezweifelt, auf genau diesen Umstand setzen und zuschlagen, sich dabei zu Nutze machend, dass die Drohung mit massiver Vergeltung aufhört rational zu sein, sobald die Abschreckung bereits versagt hat und der Erstschlag tatsächlich erfolgt ist. Denn in diesem Fall wäre das Zurückhalten (hedging) der verbleibenden Abschreckungsressourcen rational; ein massiver Zweitschlag hingegen wäre irrational, weil dadurch eben nichts mehr zu gewinnen wäre – allenfalls Rache, für die im klassischen Rationalitätsparadigma aber kein Platz ist. Schlimmer noch, der Gegner könnte sich zu einer, endgültig den Todesstoß bedeutenden, counter-retaliation animiert sehen (Blair 1993, S. 5; Steinbruner 1975, S. 231). Kurz, „the motives for executing the threat would, to a certain extent, have evaporated once the originally-to-be-deterred aggression actually occurred“ (Kull 1988, S. 144). Das Glaubwürdigkeitsproblem und das Abschreckungsparadox erwiesen sich damit als in unheilvoller Weise miteinander verquickt.

Folglich fokussierten sich die Bemühungen der Abschreckungstheoretiker darauf, unter Anerkennung des Paradoxes die Glaubwürdigkeit der Zweitschlagsdrohung so zu zementieren, dass dem Kollaps der Abschreckungslogik möglichst effektiv vorgebeugt war. Das Paradox war so zwar nicht aufgelöst, aber zumindest theoretisch adressiert: „It is a paradox of deterrence that in threatening to hurt somebody if he misbehaves, it need not make a critical difference how much it would hurt you too – if you can make him believe the threat“ (Schelling 1966, S. 36; siehe auch Lupovici 2010, S. 708).

Das Herstellen von „Eskalationsdominanz“ entwickelte sich dabei zum theoretischen Dreh- und Angelpunkt. Idealtypisch funktioniert nukleare Abschreckung demzufolge, weil der Abschreckende die Eskalation von entweder Risiken oder Gewalt gegenüber dem Abzuschreckenden dominiert. Dies theoretisch zu modellieren und in praktischer Anwendung sicherzustellen ist – kurz gesagt – das Ziel des Paradigmas der rationalen nuklearen Abschreckung.

3.1.1 Risiko-Eskalation

Den Wesenskern dieses, spieltheoretisch als chicken game veranschaulichten (Jervis 1979, S. 291–292; Snyder 1971), Modells nuklearer Abschreckung beschrieb Thomas Schelling als „[t]he threat that leaves something to chance“ (Schelling 1979 [1960], S. 187–203; vgl. Schelling 1966, S. 92–125).

Im Sinne einer Abschreckungsstrategie impliziert das Modell, außenpolitische Krisen als Wettbewerbe zu begreifen, in denen es darum geht, das Risiko eines nuklearen Schlagabtauschs durch Eskalationsmaßnahmen so lange in die Höhe zu treiben bis das Gegenüber einknickt – selbstverständlich ohne dabei den verhängnisvollen Ausbruch eines Nuklearkrieges tatsächlich auszulösen. Das Ziel dieser brinksmanship-Politik ist es vielmehr, den Gegner zu verunsichern und ihm die Bürde der unmöglichen letzten Entscheidung aufzuzwingen, auf diese Weise sein Einlenken erzwingend – und zwar, indem man selbst in höherem Maße „reckless, oblivious to the danger or out of control“ (Kahn 1962, S. 47; vgl. Schelling 1966, S. 37–43) erscheint. In der Nixon-Administration war das Modell zeitweilig als madman theory populär. Es scheint auch Abhilfe für die Zweitschlagsproblematik zu bieten, lässt es den Angreifenden doch darüber im Zweifel, ob sein Opfer – im Falle eines Erstschlages – von der aus rationaler Sicht nunmehr sinnlos gewordenen Vergeltung tatsächlich absehen wird.

Das Modell ist allerdings offenkundig von massiven inneren Widersprüchen geplagt; vor allem, weil es von rationalen Akteuren ausgeht, jedoch zugleich nicht nur über alle Maßen rücksichtslose, sondern nachgerade irrationale Akteure voraussetzt, um glaubhafte Abschreckung garantieren zu können (Powell 1985, S. 80; Snyder 1960, S. 173; Jervis 1979, S. 300; Lebovic 1990, S. 146).

Um dieser absurden „rationality of irrationality“ (Kahn 1962, S. 48) des Risiko-Eskalationsmodells theoretisch zu entkommen, wurde ein Alternativmodell entwickelt. Während das theoretische Modell der Risikoeskalation mit der Nuklearstrategie der massiven Vergeltung (massive retaliation, was in der Praxis city- bzw. countervalue-targeting implizierte, um die gegnerische Bevölkerung mit der Drohung der totalen Vernichtung gleichsam in Geiselhaft zu nehmen) korrelierte, wurde dieses Alternativmodell im Rahmen der Kennedy-Administration zu Beginn der 1960er-Jahre als flexible Erwiderung (flexible response) zu implementieren versucht, um mehr konventionelle und limitierte nukleare Handlungsräume zu schaffen (was no-city- bzw. counterforce-targeting implizierte). Sowohl auf theoretischer als auch auf strategischer Ebene versprach dieses Alternativmodell der stufenweisen Gewalt-Eskalation, die Widersprüche und das Glaubwürdigkeits-Paradox zu umgehen. Es begegnet der Tatsache, dass die alleinige Drohung mit massiver Vergeltung – zwischen rationalen Akteuren – nicht sonderlich glaubhaft ist, schon weil Staaten außer in maximal zugespitzten militärischen Krisensituationen einen totalen nuklearen Schlagabtausch niemals willentlich riskieren würden. Gewalt-Eskalation räumt folglich mit den „distasteful alternatives [of having] either [to] put up or shut up“ (Kaufmann 1956c, S. 24–25) auf und schafft somit echte politische Handlungsmöglichkeiten unterhalb der Schwelle einer massiven Vergeltung. Die alte, übertriebene – und folglich unglaubwürdige – Drohung, die Bevölkerungszentren eines Feindes schon bei vergleichsweise trivialen Anlässen vollkommen auszulöschen, wird folglich obsolet bzw. ans Ende des insgesamt möglichen Handlungsspielraums verlagert. Stattdessen wird ein Spektrum von Drohungen und Gewalthandlungen unterhalb dieser maximalen Eskalation zu etablieren versucht – beispielsweise ein maßgeschneiderter Schlag gegen militärische Kapazitäten des Feindes. Die auf diese Weise erzeugte Abschreckungskulisse ist glaubhafter, weil sie Entscheidungsträgern Optionen zum Erreichen von konkretem Nutzen bei überschaubaren Kosten eröffnet – Optionen, von denen der Gegner annehmen muss, dass sie – anders als die exaltierte Drohung mit Armageddon – in Reaktion auf seine Provokation auch tatsächlich umgesetzt werden: „a response which delivers direct benefits and is therefore more credible“ (Steinbruner 1975, S. 232).

3.1.2 Gewalt-Eskalation

William Kaufmann (1956a, b, c), auf dessen Grundlagenarbeit das Modell der Gewalteskalation fußt, richtete seine Überlegungen auf die Begrenzung des Krieges und präferierte folglich, diesen nur mit konventionellen Waffen auszutragen (Kaplan 1983, S. 198). Entwickelt vor dem Hintergrund der paralysierenden nuklearen Parität zwischen den USA und der Sowjetunion, schloss das Modell der Gewalteskalation die Option eines alles zerstörenden Atomkrieges aus seinen Drohszenarien aus. Es ging bei der versuchten Rückeroberung der politischen und militärischen Ellbogenfreiheit unterhalb der nuklearen Eskalation insbesondere um das Europa des Kalten Krieges, in dem ein weiteres Spektrum an Handlungsoptionen geschaffen werden sollte, was einen firebreak zwischen konventionellen und nuklearen Waffen bedingte, um den Einsatz letzterer zu verhindern oder möglichst lange hinauszuzögern (Osgood 1979, S. 19, 22; vgl. Brodie 1966, S. 6, 8, 103–111; Lebovic 1990, S. 149).

Mit dem Ziel des nuklearen Nichtgebrauchs (oder des „so-spät-wie-möglich-Gebrauchs“) im Hinterkopf, beruht die Beeinflussung des Feindes gemäß des neuen Modells auf genau skalierbaren Optionen von Gewalt. Herman Kahns Escalation Ladder ist die wohl bekannteste Veranschaulichung dieses Gedankens. Der Druck auf das Gegenüber wird stetig erhöht, indem dem Feind schrittweise Schaden zugefügt und ihm stetig steigende Kosten aufgebürdet werden. Auf diese Weise wird diesem sein ursprüngliches Ziel verwehrt, weil eine Fortsetzung des ursprünglich verfolgten Zwecks zu kostspielig und damit unvernünftig würde (Osgood 1979, S. 11).

Damit steht der Begriff der Eskalation in diesem Modell jenem im Risikoeskalationsmodell diametral entgegen. Die unbedingte Demonstration von Kontrolle und nicht die Drohung mit Kontrollverlust ist von entscheidender Bedeutung. Statt überlegener Risikotoleranz ist die Demonstration von Entschlossenheit, Willensstärke, Ausdauer (angesichts der Zerstörung, mit der man selbst konfrontiert wird) und vor allem Zurückhaltung – „deliberate restraint“ (Brodie 1959, S. 309–310) – entscheidend. Das Modell verspricht, dass bei gradueller Eskalation flexibler Optionen der Feind schließlich gezwungen sein wird, den Kampf einzustellen – ungeachtet der Tatsache, dass beide Seiten die Möglichkeit eines uneingeschränkten (sich gegenseitig zerstörenden) Nuklearwaffeneinsatzes natürlich weiterhin beibehalten (Brodie 1959, S. 314; vgl. Powell 1985, S. 83).

Der Abschreckungseffekt leitet sich im Gewalteskalationsmodell also nicht von der Aussicht auf ein nukleares Armageddon, sondern von der auf anhaltende Zerstörung militärischer Kapazitäten und den daraus entstehenden Kosten ab, oder, ins Schellings Worten „[t]he threat of what is yet to come“ (Schelling 1979 [1960], S. 190–191; vgl. Schelling 1966, S. 1–34). Das existenzielle Risiko aus der Gleichung herauszukürzen, hieß, die Beziehung zwischen Feinden im Gewalteskalationsmodell zu modellieren als ein politisches „bargain[ing] with each other through the medium of graduated military responses, within the boundaries of contrived mutual restraints, in order to achieve a negotiated settlement short of mutual destruction“ (Osgood 1979, S. 11).

Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, die Fülle der kritischen Einwände zu behandeln, mit dem sich dieses Modell über die Jahre konfrontiert sah – vor allem in der dritten, auf der Analyse der Abschreckungspraxis gestützten Welle in der Entwicklung der Abschreckungstheorie. Es genügt an dieser Stelle festzuhalten, dass das Modell auf zahlreichen problematischen Annahmen beruht. So nimmt es etwa an, dass sich beide Gegner auf die Regeln der gewaltsamen Verhandlung tatsächlich einlassen und dass die jeweiligen Schritte auf der Eskalationsleiter von beiden auch tatsächlich gleich verstanden werden. Es zwingt den Gewinner überdies dazu, sich auf des „loser’s restraint“ zu verlassen (Lee 1996, S. 14; vgl. Kissinger 1962, S. 521; Jervis 1984, S. 19, 26, 35). Auf die Zurückhaltung des Besiegten zu setzen erscheint jedoch gewagt, wenn nicht gar grotesk, angesichts der Existenz strategischer Nuklearwaffen, die nahezu grenzenlose Möglichkeiten bieten, dem Feind Schaden zuzufügen und es dem Verlierer auf diese Weise jederzeit erlauben, dem Gewinner den Gesamtvorteil doch noch zu verwehren. Außerdem entsteht in einer nuklearen Pattsituation gemäß dieses Modells letztlich ein noch volatilerer Zustand zwischen den Konfliktparteien – wenngleich auf geringerem Gewaltniveau unterhalb der nuklearen Schwelle. Diese Konstellation, die Stabilität und Instabilität zugleich erzeugt, wurde bekannt als „stability-instability-paradox“ (Jervis 1984, S. 31; Lebovic 1990, S. 146–150). Wenngleich also das Gewalt-Eskalationsmodell im Gegensatz zur Risiko-Eskalation die Rationalität der Akteure formal intakt hält und weniger eklatant mit sich selbst in Widerspruch steht, so stützt es sich doch auf fragwürdige Annahmen und kann der Paradoxie der Abschreckung am Ende ebenfalls nicht entfliehen.Footnote 11

3.1.3 Abschreckung als „belief“

Das Projekt der abstrakten Modellierung und „Verwissenschaftlichung“ nuklearer Abschreckung sah sich nicht nur dem Problem der nahezu unauflösbaren inneren Widersprüche gegenüber. Da am Schlusspunkt des von der Abschreckungstheorie postulierten Ursache-Wirkungs-Mechanismus ein Nicht-Ereignis (nämlich das Ausbleiben eines nuklearen Schlagabtauschs, der Nichtgebrauch von Nuklearwaffen) steht, stellte sich darüber hinaus das Problem fehlender Empirie – denn woran sollen theoriegeleitete Hypothesen getestet werden, wenn streng genommen nichts, kein Effekt, zu beobachten ist? Für die dem Mainstream der Abschreckungstheorie zu Grunde liegende positivistische, auf Subsumption beruhende Forschungslogik stellt die „paucity of evidence“ (Jervis 1984, S. 37–41) ein erhebliches Problem dar (King et al. 1994, S. 25; siehe zum Umgang mit diesem Problem aus positivistischer Sicht ausserdem Fearon 1991; Mahoney und Goertz 2004; siehe des Weiteren grundlegend Herborth 2016; Peters 2015).

„[With] no empirical reference points and data banks, it cannot be falsified“, wie Emanuel Adler (1992, S. 107) feststellte, was aus seiner Sicht die gesamte „science of nuclear strategy [als] imaginary“ disqualifiziert. Michael Rühle (2009, S. 10, Hervorhebung im Original) gibt ebenfalls zu: „[S]ince one can never prove for certain why an event has not occurred, the war-preventing function of nuclear weapons remains, strictly speaking, a mere assumption“. Dass die Abschreckungstheorie sich derart verzettelt hatte, war für ihre Kritiker natürlich ein gefundes Fressen: „One of the great ironies of contemporary strategic relations is that a field which champions its own ‚realist‘ heritage should find itself, in the postwar era, so devoid of observable and empirically verifiable material regarding the operational utility of nuclear deterrence […]“ (Klein 1994, S. 29, 75; vgl. Jervis 1984, S. 38).

Ein parallel zum fortschreitenden Ringen um die Verwissenschaftlichung von Abschreckung ablaufender Prozess – möglicherweise durch die Querelen auf theoretischer Ebene katalysiert – war die Entwicklung das Abschreckungsparadigmas zu einer Art Zivilreligion, weswegen Abschreckung nicht selten auch als „Theologie“ bezeichnet wird (Quinlan 2008, S. 13–14; vgl. Rosenbaum 2011, S. 45; Lebow und Gross Stein 1994, S. 348; Cohn 1987, S. 702).Footnote 12

Der theoretischen Suche nach einem Modell für die glaubwürdigste Abschreckungsdrohung verschrieben, aber gleichzeitig paralysiert durch die Unmöglichkeit, theoretische Aussagen nach der dem Vorhaben zu Grunde liegenden Forschungslogik durch empirische Überprüfung zu validieren, bot sich überzeugten Abschreckungstheoretikern allein der Glaube als Ausweg an: Sie mussten die Annahmen ihrer Theorie glauben, um sich sodann selbst davon zu überzeugen, dass es in der Tat die Abschreckung ist, die das „Nicht-Ereignis“ „erklärt“.

Das Beispiel von Kenneth Waltz‘ Schriften ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, weil sich diese Geisteshaltung an diesen exemplarisch rekonstruieren lässt, und zwar obwohl Waltz‘ Verständnis von Abschreckung stets in krassem Widersprich zum Mainstream der rational theory of deterrence stand.

Waltz gestand Nuklearwaffen zunächst noch keine tief greifende Wirkung zu auf das, was er als die „perennial forces of politics“ zu identifiziert geglaubt hatte; vielmehr betrachtete er sie lediglich als ein weiteres Element innerhalb des Machtpotenzials von Staaten (Waltz 1979, S. 173, 180–181). Mit seinem einflussreichen Adelphi Paper (Waltz 1981) und der These, dass „mehr“ Proliferation womöglich „besser“ sei, etablierte er sich jedoch zwei Jahre später als einflussreicher Autor zum Thema Nuklearwaffen – und änderte auch seine Position zur Bedeutung derselben mit der Zeit immer weiter. 1993 bezeichnete Waltz Nuklearwaffen neben der Bipolarität als einen der zwei Pfeiler, auf dem der „lange Frieden“ (Gaddis) des Kalten Krieges beruhe (Waltz 1993, S. 44). Im Jahr 2011 hielt er schließlich fest, dass die Summe seines theoretischen Schaffens „an attempt to theoretically deal with the implications of the invention and application of nuclear weapons“ gewesen sei (Waltz 2011).

Als der wahrscheinlich optimistischste aller Abschreckungsbefürworter glaubte Waltz so inbrünstig an die Zuverlässigkeit der Abschreckung, dass er sogar so weit ging zu behaupten, Abschreckung habe „100 percent of the time“ funktioniert, um in pseudo-mathematischer Sprache nachzulegen, dass: „[t]he probability of major war among states having nuclear weapons approaches zero“ (Waltz, in: Sagan et al. 2007, S. 138). Waltz war überzeugt: „A nation will be deterred from attacking even if it believes that there is only a possibility that its adversary will retaliate“ (Waltz 1988, S. 51, 50; siehe auch Quinlan 2008, S. 16). Wie sonst soll man sich auch absichern gegen die beunruhigende Möglichkeit, dass es vielleicht doch einen Akteur geben könnte, der schlichtweg nicht glaubt „that there is only a possibility that its adversary will retaliate“ (Gray 1999, S. 89–90) oder dem dies schlichtweg egal ist – mit anderen Worten: nicht abschreckbare Akteure, wie sie die Empirie der Beinahe-Atomkriege durchaus nahelegt, etwa in Gestalt von Fidel Castro während der Kuba-Krise? (Sauer 2015, S. 22–23)

Abschreckung, wenngleich theoretisch über Jahrzehnte in ein Denk-Korsett aus Kausalketten gezwängt, ist in der Praxis keine verstandesunabhängige, deterministische Mechanik der internationalen Politik, sondern beruht auf menschlicher Überzeugung, Urteilskraft und Akteurschaft – auf Entscheidungen, nicht Wirkungen (Sauer 2015). Glaube ist somit unabdingbar, damit Abschreckung funktioniert. Die wesentliche theoretische Leerstelle, geschuldet dem den Mainstream-Abschreckungsmodellen zu Grunde liegenden antiquierten Verständnis von Rationalität, ist das Verkennen der Emotion Angst, der Atomic Anxiety (Sauer 2015), die den Nährboden für diesen Glauben und den Dreh- und Angelpunkt der Abschreckung ausmacht (was frühe Autoren wie Brodie, bevor die Verwissenschaftlichung und Rationalisierung von Abschreckung eingesetzt hatte, noch zu formulieren wussten).

Ironischerweise erkannte Waltz dies – im Unterschied zum Mainstream der Abschreckungstheorie, die Emotion stets als Störfaktor und nicht als conditio sine qua non für Abschreckung begriffen –, kam mit seinem blinden Vertrauen in Abschreckung aber trotzdem zu ähnlich abwegigen Schlussfolgerung wie der Rest der Abschreckungs-Glaubensgemeinde. „Deterrence does not depend on rationality. It depends on fear“, wie Waltz (2003b, S. 154) lapidar festhielt. Und weiter: „Deterrence is not a theory […]. [C]omplicated calculations are not needed, only a little common sense“, (Waltz 2003b, S. 154). Waltz erteilt dem Projekt der Verwissenschaftlichung von Abschreckung also eine klare Absage. Denn nicht viel mehr als nur die Ur-Angst vor der Auslöschung – die Angst, als Staat im internationalen System nicht zu überleben – reiche laut Waltz schon aus, damit Abschreckung funktioniert. Dem ist zunächst zuzustimmen (siehe auch Abschn. 3.4). Aber wieso damit zugleich die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns von Abschreckung – und zwar ganz gleich ob als „diplomatische Kunst des Angsteinflößens“ oder als „mechanisches Gesetz zwischen rationalen Akteuren“ verstanden – „nahe Null“ sein soll, das erschließt sich nicht. Denn die Liste der nuklearen Beinahe-Katastrophen des Kalten Krieges, von der Kuba Krise bis zur NATO-Übung Able Archer 83, ist zu lang; und die Gesetzeshaftigkeit von Abschreckung ist längst nachhaltig in Zweifel gezogen (Sagan 1993; Blair 1993; Schlosser 2013). Dass Abschreckung stabil alleine auf Angst aufbauen könne, davon war schon Karl W. Deutsch (1963, S. 70) zu Recht nicht überzeugt, denn „frightened or overstrained men may react aggressively“. Und auch Brodie (1959, S. 397) verblieb in Strategy in the Missile Age in diesem Punkt vernünftigerweise skeptisch: „Deterrence after all depends on a subjective feeling which we are trying to create in the opponent’s mind, a feeling compounded of respect and fear, and we have to ask ourselves whether it is not possible to overshoot the mark. It is possible to make him fear us too much, especially if what we make him fear is our over-readiness to react, whether or not he translates it into clear evidence of our aggressive intent.“

In der Summe drängt sich der Gedanke auf, dass Abschreckung in der Praxis wohl tatsächlich am Werke ist, aber anders – und außerdem weniger verlässlich – als die Theorie der rationalen Abschreckung dies über Jahrzehnte hinweg zu modellieren versucht (und Waltz es sich erhofft) hat. Abschn. 3.4 greift diese grundlegenden Probleme mit dem Stand der Forschung zum Thema Abschreckung unter anderem Vorzeichen noch einmal auf.

3.2 Das nukleare Tabu

Verglichen mit der rational theory of deterrence ist das Konzept des nuklearen Tabus nomothetisch schwach. Seine Erklärung des Nichtgebrauchs ist räumlich und zeitlich kontextualisiert und somit weniger gesetzartig als jene von der Abschreckungstheorie für die Konstellation „Abschrecker vs. Abgeschreckter“ postulierte. So tappt das nukleare Tabu aufgrund seiner auf Kausalität abzielenden Forschungslogik bei der Untersuchung von Nichtereignissen zwar in die gleiche „Evidenzmangel-Falle“ wie die Abschreckungstheorie – die Fallhöhe ist jedoch geringer, denn es wird dabei von Anfang an eine bescheidenere Reichweite beansprucht (Sauer 2015, S. 47–51).

Nichtsdestotrotz impliziert das Konzept des nuklearen Tabus einen hohen Grad an Regelmäßigkeit, denn im Rückgriff auf sozialkonstruktivistische Literatur zur Relevanz von sozialen Normen in den IB (Finnemore und Sikkink 1998, S. 891; Checkel 1998; Jepperson et al. 1996; Adler 1997) schreibt Nina Tannenwald dem nuklearen Tabu einen extrem starken regulativen Effekt zu. Ihr Argument: Das nukleare Tabu reguliert die Handlungen von politischen Entscheidungsträgern in zwei aufeinanderfolgenden Schritten: Zuerst durch die Erhöhung politischer Kosten aufgrund der Etablierung eines Zwangs zur Rechtfertigung gegenüber nationalen und internationalen Öffentlichkeiten (die oben angesprochene Beweislastumkehr, die die Wiederholung eines Entscheidungsprozess wie im Falle des Interim Committee nahezu unmöglich macht); danach durch die Internalisierung einer echten Hemmschwelle (Wendt 1999, S. 268–278; Finnemore und Sikkink 1998, S. 895–905), die Entscheidungsträger – die das Tabu nunmehr selbst verinnerlicht haben – nicht mehr zu überschreiten wagen. Das nukleare Tabu setzt somit einen Standard der Angemessenheit für „proper behavior of actors with a given identity“ (Katzenstein 1996, S. 5) und kennzeichnet, was angemessenes Handeln ist für einen Akteur, der als homo sociologicus mit einer sozialen Identität konzipiert ist. Die Hemmschwelle im Falle des nuklearen Tabus ist deswegen so besonders schwer überwindbar, weil Tabus noch stärker handlungsleitend als andere soziale Normen wirken. Tabus kennzeichnen das, was innerhalb eines sozialen Rahmens als unnatürlich, abnormal, beinahe undenkbar und unaussprechlich gilt, was Tabus – wie etwa Inzest oder Kannibalismus – nahezu unhinterfragbar macht und weswegen ihre Verletzung mit strenger Bestrafung einhergeht (Tannenwald 1999, S. 436; 2005, S. 8; 2007, S. 10–14; Herring 1997, S. 20; Paul 2009, S. 5–6).

Mit Blick auf die empirische Untersuchung der US-Nuklearpolitik nach 1945 bietet Nina Tannenwald mit dem nuklearen Tabu eine überzeugende Erklärung des nuklearen Nichtgebrauchs – nicht zuletzt mit Blick auf solche Fälle, in denen Abschreckung als Erklärung ins Leere läuft, weil kein wechselseitiges Abschreckungsverhältnis (mehr) bestand, wie insbesondere im Golfkrieg 1990/91. Darüber hinaus gibt es laut Tannenwald gute Gründe anzunehmen, dass das nukleare Tabu kein auf die USA beschränktes, sondern vielmehr ein globales Phänomen ist. Das Tabu werde von „the vast majority of states“ geteilt und sei somit „probably not universal [but] certainly widespread“ (Tannenwald 2007, S. 23, 59, 377, 381). Illustrationsbeispiele wie etwa das britische Vorgehen während des Falklandkrieges stützen diese Auffassung (Farrell 2010, S. 820, Fn. 4).

Allerdings sind die sechs Mechanismen, die laut Nina Tannenwald das Tabu hervorbringen – „societal pressure; normative power politics; norm entrepreneurship by state leaders; iterative behavior over time; institutionalization in formal rules and conventions; historical contingency“ (Farrell 2010, S. 823–824) –, demokratisch grundiert und bisher nur im Falle der USA im Detail dokumentiert. Kurz, es ist unwahrscheinlich, dass sich diese normative Entwicklung in Nordkorea oder Pakistan in gleicher Weise abspielen würde (Tannenwald 2007, S. 376, 380, 381). Wie William Walker (2010, S. 867) kritisch anmerkt: „the empirical evidence beyond the US and (perhaps) the Soviet Union is too thin and selective to support a confident generalization.“

Das nukleare Tabu hat die Forschung zum Nichtgebrauch von Nuklearwaffen enorm bereichert, weil mit ihm das Nachdenken über das wichtigste Phänomen des Nuklearzeitalters aus der Zwangsjacke des auf Materialismus und Rationalismus beschränkten Abschreckungsparadigmas befreit wurde. Anhand des Vergleichs mit einem dritten Strang in der Forschungsliteratur – der sogenannten „Tradition des Nichtgebrauchs“ – lassen sich einige weitere Elemente des nuklearen Tabus aufzeigen und seine Plausibilität weiter untermauern.

3.3 Die Tradition des Nichtgebrauchs

Die Idee der Existenz einer „Tradition des Nichtgebrauchs“ geht zurück auf Thomas Schelling (1979 [1960], S. 260–261, 264–265; 2000; vgl. Bundy 1988, S. 586–588) und findet sich seither im Nuklearwaffendiskurs auf theoretischer wie praktischer (siehe dafür etwa Perry und Schlesinger 2009; Perry et al. 2009) Seite. Wo liegt der Unterschied zwischen einer Tradition und einem Tabu?

Als Vertreter des „Traditions-Arguments“ sieht T. V. Paul (1995, 2009, 2010) die Wurzeln des Nichtgebrauchs von Nuklearwaffen primär bei rational choice-Erwägungen mit Blick auf materielle Faktoren. Paul betrachtet das Phänomen des Nuklearwaffennichtgebrauchs als eine sich seit 1945 beständig erneuernde und selbst erhaltende, auf Gewohnheit beruhende Verpflichtung, eine „accustomed obligation“ (Paul 2009, S. 1). „Primäre Kausalfaktoren“ sind nach Paul das Wissen um die horrende Wirkung nuklearer Explosionen sowie die Scheu vor Reputationsverlust und der Schaffung eines den eigenen Interessen auf lange Sicht abträglichen Präzedenzfalls (Paul 2009, S. 1–3, 22–36; siehe auch Gehring 2000). Kurz: Eine dauerhafte Feedbackschleife aus „self-deterrence“ – dem Zurückschrecken vor der „unpredictability and enormity of nuclear weapons“ (Paul 2009, S. 2) – sorge dafür, dass Nuklearwaffenstaaten vom Gebrauch ihrer Nuklearwaffen absehen (Freedman 2004, S. 30; Jervis 1982, S. 14–19).

Der Nuklearwaffennichtgebrauch weise dabei laut Paul gerade nicht die Charakteristika eines Tabus auf, denn es gebe, erstens, keine harte Bestrafung für einen Bruch mit der bestehenden Praxis. Da die Norm nicht rechtlich kodifiziert ist (der Nuklearwaffenverbotsvertrag existierte noch nicht, als Paul sein Argument entwickelte), wie etwa jene gegen den Einsatz chemischer und biologischer Waffen, handle es sich allenfalls um eine informelle Norm, kein Tabu: „[U]ntil it becomes a full-fledged legal prohibition, the nuclear non-use norm will remain an informal norm rooted in a tradition“ (Paul 2009, S. 4). Andere Sanktionsformen wie Scham oder Erniedrigung hält er für nicht ausreichend wirksam. Staaten hätten zweitens, so Paul, auch tatsächlich Notfallpläne für den Gebrauch von Nuklearwaffen in der Schublade – schon dieser Umstand belege, dass kein Tabu existiert, denn geistig gesunde Menschen würden es nicht einmal erwägen, starke Tabus wie Inzest oder Kannibalismus zu verletzen (Paul 2009, S. 7–9; vgl. Lee 1996, S. 319–320, 407, Fn. 42; Tannenwald 2007, S. 369–370).

Andererseits könnte man hier entgegenhalten, dass selbst sehr robuste soziale Normen vereinzelt gebrochen werden, deswegen aber nicht nur nicht zu existieren aufhören, sondern mitunter aufgrund der gesellschaftlichen Empörung sogar noch verstärkt werden (Tannenwald 2005, S. 7, 36–38, 2007, S. 14–16; Quester 2005, S. 83, 2006, S. 131; Eden 2010, S. 832–833; vgl. Paul 2010, S. 857, 860). Und auch die rechtliche Formalisierung einer Norm zu einer notwendigen Vorbedingung für ein Tabu zu machen legt die Messlatte zu hoch. Denn: Eine informelle Norm wie das nukleare Tabu kann sehr wohl bestehen und wirken, auch wenn sie (noch) nicht rechtlich kodifiziert worden ist.

Im Kern ist der Disput zwischen Paul und Tannenwald allerdings ohnehin theoretischer Natur, jeweils geschuldet der Priorisierung einer Handlungslogik gegenüber einer anderen. Nina Tannenwald auf der einen Seite sieht einen „intimate link between rational self-interest and morality“ und glaubt demzufolge, dass im Falle des nuklearen Tabus sowohl „strategic interests“ als auch ein „moral opprobrium“ am Werk sei – nichtsdestotrotz ist aber der Kern ihres Arguments, dass die Logik der Angemessenheit via einer sozialen Norm die Handlungsregulierung bewirkt und ein regelmäßiges Verhaltensmuster erzeugt (Tannenwald 2007, S. 25, 53–55). Wenngleich also auch Nina Tannenwald materielle Einflussfaktoren nicht ausschließt, so hebt sie wie oben gesehen doch in besonderem Maße auf die Schlüsselrolle von nicht-materiellen Normen ab. Folgt man ihr, so hat man es beim nuklearen Nichtgebrauch eben doch mit dem Ergebnis eines sozial konstruierten Tabus und gerade nicht mit „simply a ‚tradition‘“ zu tun (Tannenwald 2007, S. 14–17).

Paul, auf der anderen Seite, kombiniert ebenfalls die zwei Handlungslogiken der Angemessenheit und der Konsequenzialität, priorisiert aber wiederum letztere, indem er einen Prozesses der Realpolitik und des rationalen Entscheidens durch einen homo oeconomicus im Lichte materieller Faktoren in den Fokus rückt (Paul 2009, S. 21): „Moral and legal considerations are subsumed in the reputational variable“ (Paul 2009, S. 197). Auch Paul nimmt damit allerdings eine Mittelposition zwischen einem rein rational-materialistischen und einem rein normativen Standpunkt ein, da er Tannenwald Diktum, dass „[n]orms are templates for interests and thus for what counts as ‚rational‘“ (Tannenwald 2007, S. 25) nicht explizit widerspricht.

Paul und Tannenwald können sich also darauf verständigen, dass die zwei Handlungslogiken sich gegenseitig nicht ausschließen, sondern vielmehr ein Spektrum aufspannen (Paul 2009, S. 19; Tannenwald 2007, S. 50–52; vgl. Fearon und Wendt 2002, S. 61–62). Mit anderen Worten: Je internalisierter eine soziale Norm, desto deutlicher entfaltet sich die ihr zugrunde liegende Logik der Angemessenheit, wenn ein Akteur eine Kosten-Nutzen-Kalkulation im Rahmen dessen anstrengt, was man als rationale Entscheidung gemäß der Logik der Konsequenzialität versteht. Denn auch Paul bestreitet ja die Existenz von Normen nicht per se; und so reduziert sich die Kontroverse zwischen ihm und Tannenwald auf die Frage, wie weit fortgeschritten auf der „Internalisierungsskala“, und damit, wie „tabuartig“ und ausschlaggebend im Rahmen eines rationalen Entscheidungsprozesses, die „Nichtgebrauchsnorm“ ist. Die Differenzen sind also, wie Paul (2010, S. 854) selbst einräumt, „a matter of degree“. Und beide sind sich darüber hinaus einig, dass eine finale Antwort auf die Frage der Norminternalisierung nur durch das Heranziehen empirischen Materials wird entscheiden werden können (Paul 2009, S. 27–28).

Bereits auf theoretischer Ebene aber spricht vieles eher für Nina Tannenwalds Perspektive. Wenn der nukleare Nichtgebrauch bereits größtenteils als Tradition erklärbar und die moralischen und sozial verankerten Überzeugungen des Tabus – zumindest zum derzeitigen Internationalisierungsstand – lediglich von nachrangigem Einfluss wären, dann könnten veränderte materielle Kontextbedingungen in der Zukunft durchaus einen plötzlichen Einsatz von Nuklearwaffen nahelegen und die Tradition nach mehr als sechs Jahrzehnten ein abruptes Ende finden, denn „a tradition depends on precedent and reciprocity and is easily disrupted by a violation“ (Tannenwald 2007, S. 367). Paul untermauert diese Überlegung mit den Plänen für „[more] ‚usable‘ mininuclear weapons“ (Paul 2009, S. 26). „If the absolute destructive nature of the weapon changes radically, the reputation costs will decrease and hence the probability will increase for use“ (Paul 2009, S. 26). In diesem Kontext greift Paul auf denselben Begriff zurück, den Tannenwald mit Bezug auf das nukleare Tabu verwendet, wenn er zu bedenken gibt, dass eine Tradition erodieren könnte (Paul 2009, S. 111).

Die Metapher einer Erosion – eines eher schleichenden Prozesses – passt allerdings für eine Tradition nur schlecht ins Bild, gerade wenn man Pauls (2010, S. 861) eigene Auffassung von Traditionen als „more open to challenge and mutation than taboos“ zu Grunde legt. Denn warum wird beispielsweise in den USA die Entwicklung von Mini-Nuklearwaffen wie dem Robust Nuclear Earth Penetrator (Peña 2003; Levi 2002, 2004; Nelson 2001, 2002, 2003, 2004) – „[to radically change the] destructive nature of the weapon“ – immer wieder verschleppt, wenn sich mit diesen „einsetzbaren“ Nuklearwaffen die lästige Pflicht zum Nichtgebrauch doch leicht aus der Welt schaffen ließe? Der immense politische Widerstand gegen ihre Entwicklung seitens Politik, Wissenschaftsgemeinschaft und Zivilgesellschaft ist nur erklärbar durch die Existenz eines gesellschaftlich fest verwurzelten Tabus, das von Entscheidungsträgern eben nicht im Lichte einer veränderten Kosten-Nutzen-Lage einfach vom Tisch gewischt werden kann; eines Tabus, dass eben allenfalls nur langsam erodiert (dass diese Erosion realiter in den USA zu beobachten sein könnte, das legen verschiedene, auf Umfragen basierende Studien nahe: Press et al. 2013; Sagan und Valentino 2017; Slovic et al. 2020).

Die Schwäche von Pauls Traditionsargument zeigt sich auch in den empirischen Fallbeispielen, in denen nicht nuklear bewaffnete Staaten Nuklearwaffenstaaten angriffen. Paul vermutet, dass „[n]onnuclear initiators […] believe that the nuclear defender is self-deterred through the operation of the tradition“ und dass „[they] calculate that the nuclear state would be reluctant to use nuclear weapons, as it would be breaking the global tradition against nuclear use [which] could involve high reputation costs, especially in terms of world public opinion“ (Paul 2009 S. 144). Paul wirft daraufhin die rhetorische Frage auf: „If there existed neither an explicit legal ban nor a deterrent capability to prevent possible nuclear retaliation, what else could explain the belief among the decision-makers of nonnuclear states that nuclear weapons would not be used against them in their impending conflict?“ (Paul 2009, S. 144) Die Antwort ist einfach: das nukleare Tabu. Zum einen dokumentiert Tannenwalds Arbeit bereits den Einfluss des nuklearen Tabus als hemmenden Faktor in derartigen Fällen (beispielsweise den chinesischen Eintritt in den Kampf gegen die USA im Korea Krieg). Zum anderen stellt sich aus der Perspektive des nicht nuklear bewaffneten Angreifers doch folgende Frage: Worauf verlässt sich ein Nichtnuklearwaffenstaat im Extremfall eher: auf ein Tabu, von dem er weiß, dass es dem nuklear bewaffneten Gegenüber den Einsatz seiner Waffen nahezu undenkbar erscheinen lässt? Oder darauf, dass ein Nuklearwaffengebrauch für das Gegenüber eine Weile schlechte Presse nach sich zöge? Es ist hochgradig unplausibel, dass ein Angreifer seine Existenz auf letzteres verwetten sollte.

Mit der nuklearen Abschreckung, dem nuklearen Tabu und der Tradition des Nichtgebrauchs hat die IB drei, auf das Aufdecken von Kausalzusammenhängen abzielende Erklärungsversuche hervorgebracht, die sich alle drei unterschiedlicher IB-theoretischer und handlungslogischer Grundlagen bedienen und auf diese Weise einen facettenreichen Blick auf das Phänomen des nuklearen Nichtgebrauchs bieten. Eine alternative, den bestehenden drei Ansätzen gewissermaßen vorgeordnete Perspektive, die explizit nicht auf Kausalität abhebt, soll nun abschließend vorgestellt werden.

3.4 Atomic Anxiety

Es bedurfte der sozialkonstruktivistischen Wende in den IB, um mit dem nuklearen Tabu eine dem bis dato das Denken über Nuklearwaffen überwölbenden Abschreckungsparadigma eine Alternativerklärung gegenüberzustellen. Die Idee eines nuklearen Tabus war also keineswegs neu – sie existierte seit Anbeginn des Nuklearzeitalter in den Köpfen (siehe z. B. Life 1945, S. 32; vgl. Boyer 1994 [1985], S. 8–10) und wurde von Autoren wie beispielsweise Arnold Wolfers (1946, S. 116–117) in The Absolute Weapon, Thomas Schelling (1979 [1960], S. 257–266) in The Strategy of Conflict, Robert Jervis (1984, S. 35) in The Illogic of American Nuclear Strategy oder John Lewis Gaddis (1987, S. 142) in The Long Peace auch verschiedentlich erwähnt. Es brauchte jedoch mehr als ein halbes Jahrhundert, bis Nina Tannenwald dann auf Grundlage der, dem Einfluss von Normen und Identitäten erstmals einen nennenswerten theoretischen Stellenwert einräumenden, sozialkonstruktivistischen Literatur in den IB die Idee des Tabus zu einem echten Konzept mit Erklärungskraft ausbuchstabieren konnte. Mit der Bedeutung von Angst verhält es sich beim Nichtgebrauch von Nuklearwaffen ähnlich – auch sie wurde die längste Zeit aufgrund theoretischer Scheuklappen systematisch übersehen.

Wie im letzten Abschnitt in der Diskussion zur nuklearen Abschreckung bereits erwähnt: Der Grund für das insbesondere in ihrem Fall verwunderliche Ausklammern der Angst – trotz des „Schrecks“ in der Ab-schreck-ung und dem „Terror“ in de-terr-ence – liegt in der Dominanz althergebrachter Modelle rationaler Akteure, in denen Emotion als für Rationalität nicht konstitutiv, sondern disruptiv verstanden wurde (Crawford 2000, S. 122). „Theories of international politics and security depend on assumptions about emotion that are rarely articulated and may not be correct. Deterrence theory may be fundamentally flawed because its assumptions and policy prescriptions do not fully acknowledge and take into account reasonable human responses to threat and fear“ (Crawford 2000, S. 116). Denn bekanntlich ist deterrence „the art of producing in the mind of the enemy … the fear to attack“, wie es Stanley Kubricks Dr. Strangelove (zitiert nach Lindley 2001, S. 663, Hervorhebung im Original) treffend auf den Punkt gebracht hat. Weil sich Emotion aber nicht mit dem Rationalitätsbegriff vertrug, der der Abschreckungstheorie im Zuge ihrer Verwissenschaftlichung zu Grunde gelegt wurde, strichen nahezu alle Abschreckungstheoretiker (Kenneth Waltz als prominenteste Ausnahme) Emotion kurzerhand aus ihren Abschreckungsgleichungen. Fortan fand sie allenfalls als Störfaktor Beachtung, als eine der Abschreckung zwischen kühlen Köpfen abträglichen, nicht dem Abschreckungsverhältnis doch eigentlich zu Grunde liegende Größe – eine eigentlich weltfremde Vorstellung, wie es längst nicht nur die von Angst durchtränkte Kuba-Krise nahelegt (Blight 1990; Sauer 2015).

Inzwischen hat auch in den IB die Erkenntnis Einzug gehalten, dass Rationalität von Emotion nicht nur nicht trennbar, sondern vielmehr auf selbige angewiesen ist (Mercer 2005, 2006, 2010, 2014).Footnote 13 Die Idee der Atomic Anxiety baut auf dieser basalen Funktion von Emotion auf und lässt damit zugleich kausallogische – erklärende – zugunsten konstitutionslogischer – verstehender – Überlegungen beiseite. Der Literatur zum Phänomen des Nuklearwaffennichtgebrauchs wird mit Atomic Anxiety also kein weiterer „Erklärungsfaktor“ hinzugefügt, so wie Abschreckung oder das nukleare Tabu in der Regel verstanden werden; vielmehr fußt Atomic Anxiety weder auf der Logik der Konsequenzialität noch der Logik der Angemessenheit, sondern einer pragmatistisch informierten Handlungstheorie, die die Grundlagen dieser beiden Logiken auslotet und unter der Maßgabe historischer Kontingenz ergründet, was die Bedingungen der Möglichkeit dafür sind, dass regelhafte Praktiken und theoretische Erklärungen wie die Abschreckung oder das Tabu überhaupt entstehen können. Kollektivierte Erfahrung, sprachlich vermittelte Bedeutungszuschreibungen sowie die für agency – Nichtgebrauch in der politischen Praxis dabei verstanden als genuine Entscheidung, nicht bloßer Effekt – handlungsleitende Funktion von geteilten Überzeugungen stehen dabei aus theoretischer Sicht im Zentrum. Definiert als die gesellschaftlich zementierte Angst vor dem nuklearen Massentod wird mit Atomic Anxiety also konzeptionell an Studien aus der Soziologie und der Kulturwissenschaft angeknüpft, in denen der Angstkomplex, den das beginnende Nuklearzeitalter mit den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki in Gesellschaften zu hinterlassen begann, längst eindrucksvoll rekonstruiert ist (siehe etwa Boyer 1994 [1985]; Winkler 1993; Weart 1988, 2008; Oakes 1994; Rose 2001; Rosenthal 1991; Titus 2004; Zeman und Amundson 2004).

Namhafte Abschreckungstheoretiker wie etwa Patrick Morgan (2005, S. 751–752) sind sich mit Nina Tannenwald (2007, S. 19, 71) darin einig, dass das nukleare Tabu die durch Abschreckung abgesicherte Politik des Nichtgebrauchs unterfüttert. Durch die Linse der Atomic Anxiety wird hingegen empirisch sichtbar und theoretisch plausibel gemacht, warum und wie genau das nukleare Tabu die Praxis der nuklearen Abschreckung gerade nicht fördert, sondern vielmehr behindert (Sauer 2015) – damit eher eine Minderheitenposition (Walker 2010, S. 875; ähnlich Rosenbaum 2011, S. 255) in der bisherigen Diskussion um das Verhältnis der beiden Konzepte stützend.

Denn Atomic Anxiety ist die dem nuklearen Tabu zu Grunde liegende emotionale Komponente, die Angst, die der Abscheu vor Nuklearwaffen und deren unterschiedsloser, unmenschlicher Zerstörungswirkung sowie der daraus abgeleiteten sozialen Verpflichtung, diese Waffen nie wieder einzusetzen, vorausgeht. Das nukleare Tabu stellt einen Rekurs auf eben jene Angst dar, den ein lähmendes Moment kennzeichnet. Dieses erweist sich allerdings für die Praxis der Abschreckung – die aktive Angst-Erzeugung – als hinderlich. Somit ist das Paradox der nuklearen Abschreckung – eben jenes entschlossen und aktiv vorbereiten und befördern zu müssen, was man eigentlich unter allen Umständen zu vermeiden sucht – nicht nur eine logische und moralische Zwickmühle, nicht nur schwer zu handhaben, weil der Kern der Abschreckungspraxis unlogisch und unangemessen ist. Vielmehr ist das Problem von Beginn an schon emotional aufgeladen. Das Paradox der Abschreckung ist also zuallererst ein emotionales, denn das lähmende Moment des nuklearen Tabus behindert die politische und militärische Praxis, in der eigentlich fortwährend Angst für die Aufrechterhaltung der Abschreckung geschürt werden müsste. Salopp formuliert „fühlt sich“ Abschreckung deswegen „falsch an“; weil die Situation, die durch erfolgreiche „rationale“ Abschreckung erzeugt wird, eine Spirale aus Angst in Gang hält, die den erzeugten Nutzen aushöhlt (Mercer 2010, S. 11–12) – schließlich wird damit nur die eigene Todesangst perpetuiert (Sauer 2015, S. 173–183).

Kurz, das Konzept der Atomic Anxiety greift erstmals systematisch und theoretisch wie empirisch fundiert im Nuklearwaffendiskurs verstreute Überlegungen zur Bedeutung von Angst auf, etwa Hans Morgenthaus (1964, S. 23) Überlegungen zum Abschreckungsparadox, das darauf beruhe, Angst zu erzeugen durch „the commitment to the use of force [whilst simultaneously] paralyzed by the fear of having to use it“.

4 Die Proliferation von Nuklearwaffen

„[T]he nuclear proliferation process itself must be viewed as the consequence

of a combination of internal and external pressures and constraints,

involving influential organizations, groups, and individuals,

and their ideas, beliefs, and interests.

[N]one of the existing theories of nuclear proliferation

provide a satisfactory explanation of proliferation dynamics,

although many provide important pieces of the puzzle.“

Tanya Ogilvie-White (1996, S. 55)

Wie im Falle der drei Erklärungen für den Nichtgebrauch von Nuklearwaffen, so lassen sich auch für die Anschaffung von Nuklearwaffen drei wesentliche Erklärungsmodelle identifizieren und extrem verknappt zusammenfassen. Wegweisend dabei war und ist bis heute Scott D. Sagans (1996) Artikel Why Do States Build Nuclear Weapons? Seine im Titel aufgeworfene Frage beantwortet Sagan mit, erstens, dem Gewinn an äußeren Sicherheit, zweitens, den Partikularinteressen innerstaatlicher Bürokratien, sowie, drittens, der Symbolwirkung von Nuklearwaffen und ihrer Bedeutung für staatliche Identität.

4.1 Drei Modelle der Proliferationsforschung

Sagans Modell 1 basiert auf den gängigen neorealistischen Versatzstücken, insbesondere der Anarchie im internationalen System, die zur Selbsthilfe zwingt und in deren Logik ein Besitz von Nuklearwaffen – im Unterschied zu Allianzen oder Sicherheitsgarantien – die zuverlässigste Versicherung gegen überlegene konventionelle und insbesondere nukleare Bedrohungen darstellt. Existiert eine solche externe Bedrohung, besteht der Anreiz für ein staatliches Bombenprogramm. Existiert die Bedrohung nicht oder nicht mehr, fällt laut Modell 1 dieser Anreiz weg. Da im neorealistischen Denkhorizont das internationale System allerdings nie frei von Bedrohungen ist, wurde die Spirale aus nuklearer Rüstung und Gegen-Rüstung gemäß Modell 1 mit dem Manhattan-Projekt und der sowjetischen Bombe zur Balancierung des US-Monopols unaufhaltsam in Gang gesetzt (Sagan 1996, S. 57–58; grundlegend: Wohlstetter 1961) – eine Dynamik, die nur sehr wenige Beobachter für begrüßenswert halten, der namhafteste unter diesen Kenneth N. Waltz (1981, 2003a, 2012), laut dessen Schriften, wie oben bereits erwähnt, „mehr“ Proliferation womöglich „besser“ sei. Eine Mehrzahl der Experten, Sagan (2003) eingeschlossen, verbindet mit der Weiterverbreitung von Nuklearaffen hingegen mehr Gefahren, nicht mehr Sicherheit.

Modell 2 folgt einem neoliberalistischen Ansatz, vollzieht also das in den IB inzwischen zum geflügelten Wort gewordene Öffnen der black box (Sagan 1996, S. 63). Es fokussiert auf die Innenseite der Außenpolitik und die maßgeblichen Akteure im Innern des Staates, die auf Regierungen mit dem Ziel der Anschaffung (oder Abschaffung) der Bombe einwirken. Dazu zählt Sagan beispielsweise das Establishment der nuklearen Energieerzeugung (Forschungs- und Entwicklungslabore oder auch Reaktorbetreiber), Militärs und Politiker. Sagan beklagt in seinem Aufsatz auf dem Jahr 1996, dass ihm zur Entwicklung dieses Modells eine voll ausgeformte IB-Theorie als Grundlage fehlt. Diese sollte Andrew Moravcsik (1997) erst ein Jahr später liefern, dabei theoretisch auf die aus dem Innern des Staates hervorgehende Konfiguration der außenpolitische Präferenzordnung als den ausschlaggebenden Faktor für staatliches Handeln abhebend.

Modell 3 beleuchtet die symbolische Wirkung von Nuklearwaffen sowie ihre identitätsstiftende Rolle für sich als „modern“ verstehende Staaten (Sagan 1996, S. 73–74). Auch dieser Zugriff sollte erst mit Alexander Wendts (1999) Social Theory of International Politics IB-theoretisch voll entfaltet werden. Modell 3 liefert daher einen sozialkonstruktivistischen Zugriff, den Sagan, um die sinnstiftende, handlungsleitende und identitätskonstitutierende Wirkung von immateriellen Normen in den Blick nehmen zu können, aus Versatzstücken neo-institutionalistischer Literatur und Harald Müllers früher Anwendung einer normativ informierten Perspektive auf Proliferation selbst entwickelt (siehe auch Ogilvie-White 1996, S. 53–55). Dem Regime um den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) spricht das Modell hervorgehobene Bedeutung zu, da dieses eine Verschiebung nach sich zog, welche über Zeit die Mitgliedschaft im „nuklearen Club“ als weniger legitim und prestigeträchtig als eine Mitgliedschaft im NVV-Regime werden ließ (Sagan 1996, S. 76).

Gerüstet mit Sagans drei Modellen, lassen sich Nuklearwaffenbeschaffungs- und -abschaffungsprogramme gleichermaßen systematisch durchleuchten. Das israelische Atomprogramm, beispielsweise, lässt sich aufgrund Israels regionaler Situation und Bedrohungsperzeption anschaulich via Modell 1 erklären. Der Fall Südafrika – Auflegen eines Programms in den 1970ern, Aufgabe des Programms in den 1980ern – lässt sich (auf den ersten Blick) ebenfalls gut über das Auftreten und das Verschwinden einer externen Bedrohung (angeblichem sowjetischem Expansionsstreben) analysieren (Sagan 1996, S. 57–63).

Auf den zweiten Blick zeigt sich allerdings, dass Modell 2 im südafrikanischen Fall deutlich weiter führt. Denn ein wesentlicher Impuls für das Nuklearprogramm kam von Seiten der Rohstoffindustrie, die sich zivil nutzbare Nuklearexplosionen für den Bergbau erhoffte. Zudem wurde die Demontage der südafrikanischen Bomben 1989 schon beschlossen, bevor der Kalte Krieg endgültig ein Ende gefunden hatte. Und drittens zitiert Sagan Hinweise, nach denen die Regierung de Klerk von der Besorgnis angeleitet war, dass die Bombe im Zuge der politischen Umwälzungen in Südafrika dem ANC (oder weißen Extremisten) in die Hände fallen könnte. Aus der Sicht von Modell 2 lässt sich aber auch das langwierige bürokratische Tauziehen um die indische Bombe gut in den Blick nehmen (Sagan 1996, S. 63–73).

Das französische Atomprogramm wird mittels Modell 3 erklärlich. Schließlich hat Frankreich als einziger europäischer nuklearwaffenfähiger Staat Nuklearwaffen auch tatsächlich entwickelt, obwohl andere, unter anderem Westdeutschland, sich der gleichen Bedrohung durch die Sowjetunion ausgesetzt sahen. Modell 1 führt hier offenkundig nicht weit. Stattdessen identifiziert Sagan die in den 1950er-Jahren herrschende Überzeugung als ausschlaggebend, die französische internationale Position und Bedeutung nach dem Zweiten Weltkrieg stärken sowie Frankreichs grandeur – als unabdingbarem Teil der nationalen Identität – durch Nuklearwaffen absichern zu müssen (Sagan 1996, S. 78).

Die Ukraine ist schließlich aus aktueller Sicht ein besonders interessanter Fall. Nach Modell 1 wäre der Grund für die Aufgabe der in der Ukraine stationierten sowjetischen Nuklearwaffen darin zu suchen, dass Moskau mit dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts keine Bedrohung mehr darstellte und zudem Rückversicherungen der USA vorlagen (Sagan 1996, S. 61). Allerdings gab es bereits damals in der Ukraine Gegenstimmen (Sagan 1996, S. 80–81) – Stimmen, die heute, nach Krim-Annexion 2014 und russischem Angriffskrieg 2022, argumentieren, dass die Sicherheitslage einer nach wie vor nuklear bewaffneten Ukraine sicher eine andere wäre – obgleich es zweifelhaft ist, dass die Ukraine die sowjetischen Waffen überhaupt jemals hätte einsetzen können. Es waren laut Sagan damals aber tatsächlich wohl weniger Sicherheitsüberlegungen als vielmehr ökonomischer Druck und das Streben, ein souveränes, vollwertiges und respektiertes Mitglied der internationalen Gemeinschaft zu werden, was zur Rückführung in der Ukraine stationierten Waffen auf russisches Territorium führte. Um nicht ins Abseits und in die Nähe von Paria-Staaten mit nuklearen Aspirationen wie etwa Nordkorea gerückt zu werden, trat die Ukraine als „ordentlicher“ Nicht-Nuklearwaffenstaat dem NVV bei.

Mittels Modell 3 lässt sich somit, über das Beispiel Ukraine hinausweisend, die verengte Perspektive von Modell 1 aufzeigen, nach dem Proliferation zwangsläufig mehr Proliferation erzeugt und die nuklearen Dominos unwiederbringlich angestoßen sind (Sagan 1996, S. 62, 84). Modell 1 blendet offenkundig zahlreiche Einflussgrößen aus, die diese Kettenreaktion sehr wohl verlangsamen oder sogar aufhalten können (Sagan 1996, S. 73–85).

Um sowohl den mehreren Analyseebenen und der „Multikausalität“ (Sagan 1996, S. 85) hinter nuklearer Proliferation gerecht zu werden als auch um tragfähige politische Handlungsempfehlungen im Lichte seiner Analyse zu entwickeln, stimmt Sagans Aufsatz aus dem Jahr 1996 mit seinen drei Modellen insgesamt nicht weniger als den – in den IB ab den 1990ern lange Zeit weit verbreiteten – theoretischen Dreiklang aus „Realismus, Liberalismus, Sozialkonstruktivismus“ an. IB-typisch gerahmt von einer Kausallogik bemüht er also die beiden großen rationalistischen Paradigmen mit Blick auf das „Außen“ und das „Innen“ als wesentliche zu analysierende Determinanten für staatliches Verhalten und ergänzt diese um, in den 1990ern mit der sozialkonstruktivistischen Wende salonfähig werdende, identitäre und normative Faktoren. Der zum Zeitpunkt seiner Entstehung theoretisch innovative, weil Konsequenzialitäts- und Angemessenheitslogik bemühende, Aufsatz mutet zwanzig Jahre später, aus Sicht einer Disziplin, die sich – zumindest in Teilen – theoretisch deutlich weiter diversifiziert hat, recht schematisch und grob gestrickt an. Nichtsdestotrotz hat Sagan mit seiner dreifachen Antwort auf die Frage Why Do States Build Nuclear Weapons? das Problemfeld im Alleingang systematisch und sehr weiträumig abgeschritten.

4.2 Die Entwicklung der Proliferationsforschung

Natürlich blieb und bleibt die Frage nach den Triebfedern nuklearer Proliferation weiter von Bedeutung. Vertikale Proliferation (Aufrüstung in Nuklearwaffenstaaten) und horizontale Proliferation (Weiterverbreitung der Waffen) wurden und werden dementsprechend nach wie vor intensiv beackert – mit Why Do States Build Nuclear Weapons? im Hinterkopf identifiziert man im riesigen Literaturkorpus zu nuklearer Proliferation einerseits originelle, den Blick genuin erweiternde Perspektiven, aber andererseits eben auch solche, die – etwas zugespitzt formuliert – eher als Fußnote zu Sagan gelesen werden können.

Der generelle Trend der Forschung führt seit den 1990er-Jahren weg vom Versuch einer rationalistisch-materialistischen, allgemeingültigen Erklärung und hin zu einerseits statistischen large-n und andererseits kleinteiligen, vergleichenden empirischen (Länderfall-)Studien, bis hin zu Studien einzelner Entscheidungsträger, wobei sich die Autorinnen und Autoren inzwischen sehr unterschiedlicher theoretischer Rahmungen bedienen (für einen Überblick siehe Sagan 2011).

So argumentieren beispielsweise Matthew Fuhrmann und Michael Horowitz (2015) auf Grundlage eines 1342 Staatenlenker umfassenden Datensatzes, dass eine Vergangenheit als Rebell, ein Aufbegehren gegen den Staat, die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass diese Personen nach Nuklearwaffen streben, sobald sie sich in Regierungsverantwortung wiederfinden.

Jacques Hymans (2006) nimmt die Fälle Frankreich, Australien, Argentinien und Indien in den Blick und zieht die Verbindungslinien zwischen individuellen Interpretationen der jeweiligen nationalen Identität, Emotionen und außenpolitischen Entscheidungsprozessen. Er argumentiert im Zuge dessen, dass nur sehr wenige Staatenlenker, jene, die er als „oppositional nationalists“ charakterisiert, die Bombe wirklich anstreben, was erkläre, warum die nukleare Proliferation insgesamt so langsam voranschreite. Hymans greift auf einen psychologisch informierten Ansatz zurück – eine bereits in den 1990ern vorgeschlagene (für eine Übersicht siehe Ogilvie-White 1996, S. 55), aber über das von Sagan entwickelte Modell 3 hinausreichende Herangehensweise.

Generell erfreut sich die Frage, warum Staaten keine Nuklearwaffen anschaffen, zunehmender Aufmerksamkeit (Harrington 2014). Sara Kutchesfahani (2014) führt das von Peter Haas und Emanuel Adler entwickelte „epistemic community framework“ ins Feld, um auf Grundlage von Feldforschung und Interviews die Antwort in kooperativen Non-Proliferationsregimen zu suchen. Ursula Jaspers (2013) Studie bewegt sich über den positivistischen Mainstream der Forschung hinaus, indem sie mittels eines pragmatistisch-interaktionistischen Theorierahmens diskursive Praktiken, Bedeutungszuschreibungen und agency genauer in den Blick nimmt, um die die Hintergründe der Abkehr von Bombenprogrammen in der Schweiz und in Libyen anhand von handleitungsleitenden Narrativen und Überzeugungen zu ergründen.

Ebenfalls abseits ausgetretener Pfade bewegen sich der Anthropologe Hugh Gusterson (1996, 2004), der für seine Feldforschung den direkten Kontakt zu den Wissenschaftlern in den US-Nuklearforschungslaboren sucht, um deren spezifische Kultur zu erforschen, Anne Harrington de Santana (2009), die eine Theorie des „nuklearen Fetischismus“ entwickelt, um zu erklären, warum an Nuklearwaffen und der nuklearen Abschreckung trotz deren Paradoxität hartnäckig festgehalten wird, und Vincent Pouliot (2010), der vor dem Hintergrund eines neuen Materialismus-Verständnisses in den IB unter anderem das „Eigenleben“ nuklearer Sprengköpfe unterstreicht.

Selbst so grundlegenden Fragen, wie jene danach, wann ein Staat eigentlich ein Nuklearwaffenstaat ist (traditionell beantwortet mit dem Verweis auf die Durchführung eines erfolgreichen nuklearen Tests), wurden erneut aufgeworfen (Hymans 2010).

Ein Überblick über die Bestrebungen, der nuklearen Proliferation politisch entgegenzuarbeiten, insbesondere im Rahmen des nuklearen Non-Proliferationsregimes sowie mit Blick auf Theorie und Praxis der nuklearen Rüstungskontrolle allgemein, findet sich bei Niklas Schörnig (2022).

5 Fazit

„The atomic bomb is shit. It will make a big bang – a very big bang – but

it is not a weapon which is useful in war“.

Robert J. Oppenheimer (zitiert nach Rhodes 1986, S. 642)

Im langen Schatten der Nuklearwaffen schritt die Entwicklung konventioneller Waffensysteme voran – man denke gegenwärtig etwa an Präzisionsmunition und unbemannte, längst auch autonome, Waffensysteme im Rahmen der Drohnenkriegsführung (Sauer und Schörnig 2012; Sauer, 2016, 2021). Nina Tannenwald (2007, S. 46–47, 317–324) hat für die USA das Wechselverhältnis zwischen konventionellen und nuklearen Waffen als das Resultat des „permissiven Effekts“ des nuklearen Tabus beschrieben: Da der Einsatz von Nuklearwaffen den USA aufgrund des Tabus verwehrt blieb, musste die Entwicklung schlagkräftiger und vor allem präziserer konventioneller Waffen forciert werden. Denn nur so konnten diese trotz ihrer geringeren Zerstörungskraft im Ziel die gleiche Wirkung verursachen.

Der Einsatz von Nuklearwaffen – geschweige denn ein umfangreicher nuklearer Schlagabtausch – mit ihrer unterschiedslosen, großflächigen Zerstörung und den unkontrollierbaren Folgewirkungen mag aus Sicht der inzwischen etablierten High-Tech-Kriegsführung auf Seiten der USA und anderer Großmächte krude und antiquiert wirken. Doch diese Sicht kann täuschen. Zum einen ist das spätestens seit dem Golfkrieg 1990/91 dominierende Narrativ der „Präzisionskriegsführung“ – für sich genommen bereits fragwürdig – ein dezidiert westliches. Zum anderen sind weder verbesserte konventionelle Fähigkeiten noch die in diesem Beitrag diskutierten Nichtgebrauchs-Ursachen verlässliche Garanten für den anhaltenden nuklearen Nichtgebrauch. Weder die Abschreckung, noch das Tabu, noch eine Tradition und auch nicht die basale Angst vor der nuklearen Apokalypse – Atomic Anxiety – machen den Einsatz staatlicher Nuklearwaffenarsenale unmöglich (Sauer 2015). Kurz, die ersten 70 Jahre des Nuklearzeitalters sind (gerade nochmal) gut gegangen. Eine Garantie für weitere 70 Jahre gibt es nicht.

Was darüber hinaus den möglichen Gebrauch von Nuklearwaffen durch nicht staatliche Akteure betrifft, so ist dieses Szenario weder neu noch notwendigerweise deutlich wahrscheinlicher geworden, zumal in den letzten 30 Jahren diverse Bemühungen darauf gerichtet wurden, Extremisten den Zugriff auf Waffen und Spaltmaterial zu verwehren (Sauer 2007, 2008). Die nuklearen Ambitionen auf Seiten extremistischer Akteure wie dem sogenannten Islamischen Staat erlauben aber auch in diesem Fall kein bequemes Zurücklehnen; ein Anschlag mit einer „schmutzigen Bombe“ (wohlgemerkt keine Nuklearwaffe) bleibt im Übrigen weiterhin vergleichsweise einfach zu bewerkstelligen.

Dies alles verleiht der simplen Formel „Wer keine Nuklearwaffen hat, kann keine einsetzen“ durchaus einiges Gewicht. Sprich, die mit US-Präsident Barack Obamas Prag-Rede aus dem Jahr 2008 – zumindest zeitweilig – im Aufwind befindliche Vision einer nuklearwaffenfreien Welt drängt stärker auf Umsetzung, je weiter das Nuklearzeitalter voranschreitet. Zwar wäre auch eine Global Zero-Welt kein Garant für den nuklearen Nichtgebrauch – das Fachwissen um die Konstruktion von Nuklearwaffen kann stückweise vergessen werden (MacKenzie und Spinardi 1995), aber das Prinzip bleibt in der Welt. Trotzdem würde die weltweite, ständig und effektiv verifizierte Nichtverfügbarkeit von Nuklearwaffen einem Nuklearkrieg wohl am effektivsten vorbeugen. Die Bedeutung von Nuklearwaffen und die Anreize für Staaten, sich nuklear zu bewaffnen, müssten auf dem Weg zu diesem Ziel allerdings einen fundamentalen Wandel durchlaufen. Ob und inwieweit der 2021 in Kraft getretene Nuklearwaffenverbotsvertrag in dieser Richtung langfristig eine Wirkung entfalten wird, ist aktuell schwer abzuschätzen. Sicher ist hingegen, dass mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und Wladimir Putins unverhohlenen Atomkriegsdrohungen das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt zunächst in viel weitere Ferne gerückt ist.

Auch mit Blick auf Proliferationsanreize ist die Zukunftsperspektive düster. Was die vertikale Proliferation betrifft, so schritt die bilaterale Rüstungskontrolle zwischen den USA und der UdSSR mit dem, 2021 erneut um fünf Jahre verlängerten, NewSTART-Vertrag zwar voran, aber zugleich laufen auf beiden Seiten umfangreiche Modernisierungsprogramme der Nuklearstreitkräfte. Aber ob die bilaterale Rüstungskontrolle zwischen den beiden großen Nuklearmächten in einem Folgevertrag von NewSTART Fortsetzung findet, steht im Lichte der jüngsten russischen Aggressionen und Vertragsbrüche in Zweifel. Was die horizontale Proliferation angeht, so ist mit Nordkorea ein Nuklearstaat hinzugekommen, während das Abkommen mit dem Iran dessen Programm verlangsamt und transparenter gemacht hat, aktuell aber im Scheitern begriffen ist. Andere Staaten in der Region – etwa die Türkei oder auch Saudi-Arabien – würden einem nuklearen Iran womöglich mit eigenen Nuklearprogrammen begegnen.

Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine Reihe von Forschungsdesideraten. Was die Zukunft der nuklearen Abschreckung betrifft, so kann es nicht reichen, die ausgetrampelten Pfade des so offensichtlich defizitären, aktuell gültigen theoretischen Paradigmas stoisch weiter zu verfolgen, etwa indem man die gewachsene Rolle nicht staatlicher Akteure in selbiges einzubetten versucht, wie unter anderem im Rahmen der vierten Welle der Abschreckungstheorie diskutiert (Trager und Zagorcheva 2005/06; Levi 2007; Knopf 2010; Lupovici 2010). Vielmehr müsste, was zugegebenermaßen eine deutlich anspruchsvollere Operation darstellt, das rationalistische – oder besser: entscheidungstheoretische – Fundament der Abschreckungstheorie grundlegend überdacht und in Einklang mit den Einsichten aus dem emotional turn in den IB gebracht werden (Crawford 2000, S. 116; Sauer 2015, S. 178–179).Footnote 14 Im Lichte der fortschreitenden Stigmatisierung von Nuklearwaffen (zumindest in Teilen der Welt bzw. der Zivilgesellschaft) bedarf zudem das Wechselspiel zwischen nuklearem Tabu, der Praxis der nuklearen Abschreckung und der Rolle der Atomic Anxiety weiterer Forschung (Sauer 2015, S. 179–180), um die Überlegung, dass „[strengthening] inhibitions on the use of nuclear weapons […], if too successfully pursued, is inimical to nuclear deterrence“ (Walker 2010, S. 875) genauer auf den Prüfstand zu stellen und auf ihre praktischen Konsequenzen hin abzuklopfen. Zu guter Letzt ist auch die Forschung zur Proliferation weiter gefragt, nicht zuletzt mit Blick auf konkrete Handlungsempfehlungen, wie die Anreizstrukturen von Staaten mit nuklearen Ambitionen in der diplomatischen Praxis so beeinflusst werden können, dass sie auf die Bombe verzichten. Fest steht in Summe also, dass Nuklearwaffen sowohl die internationale Politik als auch die Internationalen Beziehungen weiter beschäftigen werden.