“Fluchtburg” – Warum totalitäre Systeme funktionieren | Evangelische Zeitung

“Fluchtburg” – Warum totalitäre Systeme funktionieren

Biografisch-literarische Reflexion über den Schriftsteller Gerhart Pohl (1902-1966), der sich in der NS-Zeit, aber auch in Ost- wie Westdeutschland nicht den Zeitläuften anpasste.

Geschichte ist komplex. Für viele zu komplex. Um das auszuhalten, funktioniert manchmal ein kontemplativer Ansatz. Etwa in der Art, wie ihn Bernhard Sallmann in seinem neuen Kinofilm “Fluchtburg” vorschlägt, der von dem Schriftsteller und Lektor Gerhart Pohl (1902-1966) handelt.

In dem gleichnamigen Roman “Fluchtburg” (1955) beschrieb Pohl akribisch, warum und wie totalitäre Systeme im Kleinen funktionieren. Dabei hatte er nicht nur das Terrorregime der Nazis im Sinn, sondern auch die Vertreibung der Deutschen aus Schlesien.

Sein Holzhaus im skandinavischen Stil, das im Schatten der Schneekoppe im damals zu Deutschland gehörenden Riesengebirge lag, erwarb Pohl 1932 von der jüdischen Witwe Charlotte Citron. Vielleicht ein Notverkauf, da sich das braune Unheil schon abzeichnete und die Familie Citron ihre Emigration aus Deutschland vorbereitete.

Dem Schriftsteller diente das Haus als Rückzugsort. Er war von den Nachwehen der Wirtschaftskrise angeschlagen, in der nicht nur eine seiner Stammpublikationen, die angesehene Zeitschrift “Neue Bücherschau”, eingestellt wurde, für die er zeitweise als Herausgeber fungierte.

Inmitten einer Atmosphäre politischer und gesellschaftlicher Polarisierung fühlte er sich zunehmend fremd. Kurz nach der Machtergreifung der Nazis wurde er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, was einem Berufsverbot gleichkam. Gerhart Hauptmann und andere setzten sich diskret für Pohl ein, und so durfte er ab 1939 wieder publizieren.

Das Haus in Krummhübel-Wolfshau, heute Karpacz, wurde zum Ort, an dem sich oppositionelle Intellektuelle trafen. Später versteckten Pohl und seine Frau Marte hier zahlreiche Flüchtlinge auf dem Weg in die bis zur Besetzung durch Deutschland demokratische Tschechoslowakei. Herkunft und Ideologie spielten dabei keine Rolle.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Ehepaar im Zuge der von Stalin initiierten “Westverschiebung” Polens zusammen mit den meisten anderen Deutschen aus Schlesien vertrieben. Pohl ging nach West-Berlin und schrieb unter dem Pseudonym Silesius alter dagegen an, dass seine Heimat jetzt zu Polen gehörte. Er wehrte sich gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, war aber gleichzeitig eng mit dem späteren DDR-Kulturminister Johannes R. Becher befreundet.

Heute würde man sagen, dass Pohl den Dialog mit allen Seiten gepflegt hat. Dass auf mehreren Stühlen zu sitzen aber immer auch bedeutet, zwischen den Stühlen zu leben, zeigt sich in der geradezu verzweifelten Sprache seines zentralen Romans “Fluchtburg”. Darin beschrieb er zehn Jahre nach Kriegsende, wie sich die Mechanismen eines totalitären Staates in die Gesellschaft hineinfressen.

Bemerkenswert ist, dass dieses Buch nur zehn Jahre nach dem Ende des Nazi-Terrors erschien. Die politische Kultur in Deutschland hat länger gebraucht, um sich der Erinnerung zu nähern. Dass Pohl auch über polnische Rache an Deutschen schrieb, dürfte ihn ein paar Jahre später seinen angemessenen Platz in der Ahnengalerie der Erinnerungskultur in der DDR gekostet haben.

Bernhard Sallmann, ein Meister des kontemplativen Dokumentarfilms, zitiert ganze Passagen aus dem Roman, ergänzt um biografische Details. Bebildert ist das mit Eindrücken aus dem Riesengebirge. Schnee, dunkle Wälder, hohe Fichten, tauendes Eis, Hochnebel. Eine düstere Landschaft, mit der “Fluchtburg” wie einem Hexenhaus dazwischen.

Sallmann, der sich mit seiner Kamera auf Wanderung begibt, ruft die Geschichte in Erinnerung, im Andenken an den 1966 verstorbenen Protagonisten Gerhart Pohl, der für die einen Volksfeind, für die anderen ein Revanchist war. Er war seiner Zeit voraus, um kurz darauf in ihr zu verschwinden. Einer, der nicht schwarz-weiß denken wollte, weil er miterlebt hatte, wozu das führt.