Das „Monster“ Bürokratie
  1. Startseite
  2. Meinung

Das „Monster“ Bürokratie

Plakat für die Europawahl: Der Gegensatz, den die FDP zwischen Richtlinien und Freiheit aufmacht, ist künstlich und unsinnig.
Plakat für die Europawahl: Der Gegensatz, den die FDP zwischen Richtlinien und Freiheit aufmacht, ist künstlich und unsinnig. © IMAGO/Fotografie73

Die FDP stellt staatliche Regulierung gern unter den Verdacht der Gängelung. Genehm sind ihr Gesetze aber, wenn sie der freien Entfaltung des Kapitals und dem Wettbewerb dienen.

Es ist in Wahlkämpfen nicht unüblich, dass politisch Verantwortliche ihr eigenes Intelligenzniveau mehr oder weniger knapp unterschreiten. Das gilt nicht nur für die FDP. Aber zumindest mit einer ihrer Parolen hat sie den Kern der gegenwärtigen Auseinandersetzungen über Wirtschaft und Haushalt perfekt banalisiert: „Europa lebt von Freiheit. Nicht von Richtlinien“, ist auf Plakaten zur Europawahl am 9. Juni zu lesen.

EU-Richtlinien sind so etwas wie Gesetze, übersetzt auf eine Bundestagswahl, könnte es also heißen: „Deutschland lebt von Freiheit. Nicht von Gesetzen.“ Was soll das dem verwaltungsgeschädigten Wahlvolk sagen? Demokratisch vereinbarte Regeln des Zusammenlebens, des Arbeitens und Wirtschaftens stehen im Gegensatz zur Freiheit, so die Botschaft. Denn Regeln und Regulierung, hier sind wir beim Lieblingsmotiv der „liberalen“ Propaganda, bedeuten „Bürokratie“.

Auf der Homepage der Partei ist zu lesen: „EU-Lieferkettenrichtlinie, EU-Verbrennerverbot, EU-Heizungsverbot, EU-Sanierungszwang – während die FDP in Deutschland den größten Bürokratieabbau in der Geschichte auf den Weg bringt, überzieht EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) mit ihren Unterstützern aus CDU und CSU unser Land mit immer neuen Bürokratiemonstern.“

Der Vorwurf richtet sich auch gegen die rot-grünen Partnerparteien in der deutschen Ampel

Will heißen: Wenn Unternehmen verpflichtet werden, bei der Herstellung ihrer Produkte auf soziale und menschenrechtliche Mindeststandards zu achten; wenn die Umstellung des Klimatreibers Straßenverkehr auf weniger Emissionen angestrebt wird; wenn der Treibhausgas-Ausstoß von Gebäuden durch bessere Dämmung und erneuerbare Heizenergie reduziert werden soll – dann sind die entsprechenden Richtlinien, obwohl gemessen am Bedarf oft noch ziemlich zahm, für die „Liberalen“ gefährliche Bestien. Dass sich dieser Vorwurf nicht nur gegen die Christdemokratin von der Leyen richtet, sondern auch gegen die rot-grünen Partnerparteien in der deutschen Ampel, liegt auf der Hand.

Richtlinien versus Freiheit: Das ist natürlich Unsinn, zumal niemand den Vize-Staatsmann Lindner für einen Anarchisten halten würde. Der künstlich erzeugte Gegensatz ist nicht einmal mit der ideologischen Grundausstattung der FDP vereinbar. Die von ihr gern zitierte „Freiburger Schule“ der Wirtschaftswissenschaft setzte zwar vorrangig auf Markt und Wettbewerb, allerdings in einem staatlich gesetzten Rahmen, der zum Beispiel übermäßige Konzentration verhindern sollte.

Die FDP weiß, dass die Bevölkerung bürokratische Anforderungen oft als Zumutung empfindet

Für die gegenwärtige FDP heißt das: Solange Gesetze und Richtlinien der freien Entfaltung des Kapitals und dem Wettbewerb dienen, genießen sie Sympathie. Das von Lindner vorangetriebene „Wachstumschancengesetz“, das die Förderung von Unternehmen regelt, wird ohne Verwaltungsakte kaum zu praktizieren sein, aber das stört ihn natürlich nicht. Den bürokratischen Aufwand für Sanktionen gegen Arbeitslose, die nicht willig genug jeden Billigjob annehmen, nimmt der FDP-Chef gern in Kauf, ebenso wie die mühselige Arbeit an Bezahlkarten, die die Freiheit Geflüchteter einschränken, oder das Grübeln fleißiger Menschen über örtliche Tempolimits, das durch eine bundesweite Geschwindigkeitsbegrenzung sicher leicht zu „entbürokratisieren“ wäre.

Nein, es sind ganz bestimmte Regeln und Richtlinien, die die FDP stören. Der „Zehn-Punkte Plan gegen den Bürokratie-Burnout“, den sie im April veröffentlichte, macht die Zielrichtung klar: „Insbesondere Unternehmen leiden unter dem ungebremsten Aufwuchs an EU-Regelungen.“ Aber im Wahlkampf darf man auch mal verkürzen, und das hat für die FDP durchaus einen Sinn: Sie weiß ja, dass bürokratische Anforderungen in der Bevölkerung oft als Zumutung empfunden werden, nicht selten zu recht. Da liegt es nahe, jede staatliche Regulierung unter den Verdacht bürokratischer Gängelung zu stellen. Es müssen ja nicht alle gleich merken, dass die Freiheit, die da als Gegensatz zu „Richtlinien“ postuliert wird, „insbesondere Unternehmen“ zugedacht ist.

Die Serie

FR-Autor Stephan Hebel kommentiert an dieser Stelle alle 14 Tage aktuelle politische Ereignisse. Wenn Sie Kritik, Lob oder Themenhinweise haben, schreiben Sie an stephan.hebel@fr.de. Bitte merken Sie dabei auch an, ob Sie mit einer Veröffentlichung einverstanden wären.

fr.de/hebel-meint

Live erleben können Sie den Autor bei „Hebels aktueller Stunde“ mit Vortrag und Diskussion zu aktuellen Themen am Donnerstag, 11. Juli, 19 Uhr, Club Voltaire, Kleine Hochstraße 5 in Frankfurt. www.club-voltaire.de, Livestream: www.fr.de/hebelsstunde.

Was die FDP plakatiert, lässt sich also als populistische Version ihrer Position in einer grundsätzlichen Auseinandersetzung verstehen. Christian Lindner hat das vor ein paar Wochen in der „Zeit“ wie folgt beschrieben: In Sachen Wirtschaft gebe es „unterschiedliche Denkschulen“, so der Minister. „Die eine Schule besagt, wir müssen mehr Schulden machen und den Unternehmen, die wir aussuchen, Subventionen geben, damit sie erfolgreich sind. Da entscheidet dann die Politik, welche Branche, welche Technologie und welcher Betrieb Zukunft haben soll. Und nimmt dafür steigende Zinslasten in Kauf. Ich hingegen bin dafür, bessere Rahmenbedingungen für alle zu schaffen, weil sich dann im freien Wettbewerb eine Wirtschaftsstruktur herausbildet, die wirklich nachhaltig erfolgreich ist. Und die mit ihren Erfolgen den Staat finanziert.“

Da ist sie, die alte Lehre vom „Trickle-down-Effekt“, nach der eine von Steuer-, Abgaben- und Rechenschaftslasten möglichst freie Entfaltung des Kapitals den Reichtum irgendwann auch nach unten durchsickern lässt, weshalb die Entlastung „der Wirtschaft“ allemal Vorrang hat, zum Beispiel vor Sozialleistungen. An dieser Ideologie fasziniert besonders, dass sie immer noch erhebliche politische Wirkung entfaltet, obwohl fast ein halbes Jahrhundert Neoliberalismus sie vielfach widerlegt hat.

Unter die Räder kommt das Konzept einer nachfrageorientierten Politik

Und die Gegenposition? Tatsächlich geht die Debatte in der Koalition um die Frage, ob Unternehmen pauschal entlastet oder nach bestimmten Vorgaben (Klimaschutz) subventioniert werden sollen. Richtig ist auch, dass außer den Grünen selbst die Sozialdemokratie eine Reform der Schuldenbremse fordert, wenn auch nur in Papieren und nicht in der Wirklichkeit des Olaf Scholz.

Was aber immer mehr unter die Räder kommt, ist das Konzept einer nachfrageorientierten Politik. In den Ampelgesetzen, die die SPD und die Grünen durchgesetzt haben, ist sie zwar noch erkennbar, etwa bei Mindestlohn und Bürgergeld. Aber je enger die finanziellen Möglichkeiten werden, weil sowohl deutlich mehr Kredite als auch höhere Steuern auf Spitzeneinkünfte und -vermögen tabu sind, desto mehr geraten Initiativen unter Druck, die die Kaufkraft der unteren und mittleren Einkommensschichten stärken könnten.

Das zeigt sich beispielhaft am Thema Kindergrundsicherung, die bekanntlich der FDP ein Dorn im Auge ist. Was Lindners Partei dagegen in Stellung bringt, verwundert nicht. Es ist der Verwaltungsaufwand für die Entlastung von Bürgerinnen und Bürgern, auf FDP-Deutsch: die „Bürokratie“.

Keine Profite mehr für private Unternehmen

Als praktizierender Gesundheitsminister hat Dr. med. Karl Lauterbach zweifellos zuerst das Wohl kranker Menschen im Blick, und deshalb will er die „Revolution“ im deutschen Krankenhauswesen. Nur gilt es leider als normal, dass Koalitionen, Lobbygruppen, Länder und Kommunen der politischen Fantasie Grenzen setzen. So kommt es, dass Lauterbachs Klinikreform zwar Schritte in die richtige Richtung enthält, aber den revolutionären Anspruch weit verfehlt.

Von einer Revolution ist Karl Lauterbach noch weit entfernt. afp
Von einer Revolution ist Karl Lauterbach noch weit entfernt. afp © AFP

Dass nicht mehr jede Klinik alles machen soll, sondern das, was sie besonders gut kann, ist ein Fortschritt. Auch dass die „Fallpauschalen“, die das Operieren auf Teufel komm raus belohnten, nicht mehr allein über die Ausstattung entscheiden, ist gut (auch wenn ihre komplette Abschaffung konsequenter gewesen wäre). Aber wie sieht es mit der wohnortnahen Grundversorgung aus, etwa bei Notfällen oder Geburten? Da sollen kleine Häuser Hilfe bekommen, wenn „Bedarf“ besteht. Aber ob das reicht, wenn sie nicht mal eigene Ärzte haben, ist fraglich.

Worüber kaum jemand redet: Ein Großteil der Krankenkassenbeiträge fließt in die Profite privater Unternehmen. Ihr Anteil an den deutschen Kliniken ist von 1992 bis 2022 von 15,5 auf 39,9 Prozent gestiegen. Aber wer sich wirklich am Bedarf orientieren wollte, müsste die Privatisierung im Bereich öffentlicher Daseinsvorsorge weitgehend rückgängig machen. Mag sein, dass das revolutionär klingt. Aber eigentlich will Lauterbach ja die „Revolution“. Sagt er.

Auch interessant