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Cannes 2024

Was kann Cannes 2024?

Worauf freuen wir uns am meisten bei den 77. Filmfestspielen in Cannes?

Meinungen
Cannes Vorfreude 2024

Die 77. Internationalen Filmfestspiele von Cannes stehen an — und damit eines der wichtigsten Filmfestivals der Welt. Kino-Zeit wird auch in diesem Jahr vor Ort sein. Weil aber Vorfreude bekanntlich die schönste aller Freuden ist, haben wir vorab schon mal das Programm durchwühlt und präsentieren euch hier die Filme, auf die wir am meisten gespanntest sind.
 

The Seed of the Sacred Fig von Mohammad Rasoulof

Man darf nie aufhören, zu betonen, wie beindruckend die Präsenz und Qualität des iranischen Kinos auf den Festivals der Welt ist, obwohl Filmemacher*innen in dem autokratischen „Gottesstaat“ unter schwersten Zensurbedingungen arbeiten. In den Filmen von Mohammad Rasoulof muss man auch kaum zwischen den Zeilen lesen: Sein letztes Werk Doch das Böse gibt es nicht (2020) verhandelt die Todesstrafe, etwa anhand eines Henkers, der für das iranische Regime arbeitet.

"Mohammad Rasoulof / © Cosmopol Film"
Mohammad Rasoulof / © Cosmopol Film

Sein neuer Film The Seed of the Scared Fig ist wohl in Reaktion auf die landesweiten Proteste und Forderungen nach einem Regimewechsel entstanden, die 2023 durch den Mord der iranischen Sittenpolizei an Jina Mahsa Amini ausgelöst wurden und noch härtere Gängelungs- und Überwachungsmaßnahmen der Regierung gegen das Volk nach sich zogen. Der Film soll von einem Ermittlungsrichter am Revolutionsgericht Teheran handeln, der in Folge der Proteste immer misstrauischer und paranoider wird, sogar gegenüber seiner eigenen Familie.

Wie Rasulof den Film überhaupt drehen und dieser seinen Weg nach Cannes finden konnte, ist erneut unklar. Spätestens seit Bekanntgabe der Teilnahme am Wettbewerb sind alle an der Produktion Beteiligten mit Ausreiseverboten belegt. Rasulof selbst ist, wie letzten Mittwoch bekannt wurde, zu acht Jahren Gefängnis sowie Peitschenhieben verurteilt worden. Begründet wird dies mit einer fehlenden Genehmigung für die Produktion sowie damit, dass Schauspielerinnen ohne Hijab gefilmt worden seien, so sein Anwalt gegenüber dem Guardian. Aus seiner letzten Haft im für Folter und Hinrichtungen berüchtigten Evin-Gefängnis war Rasulof erst im Februar 2023 entlassen worden.

Mathis Raabe

The Apprentice von Ali Abbasi

„You’re fired!“ war bis zu seiner Nebenbeschäftigung als US-Präsident so etwas wie die Catch-Phrase von Donald Trump, die er in der Reality-Serie The Apprentice mit größter Freude den Kandidat*innen entgegenschleuderte. Doch keine Angst, der gleichnamige Film ist keine Neuauflage der Serie, sondern tatsächlich ein Biopic über Donald Trump. Und wo es sich mit Biografiefilmen über noch lebende Persönlichkeiten ansonsten immer etwas schwierig verhält, dürfen wir in diesem Fall hoffen. Regie führt schließlich Ali Abbasi, der zuletzt mit Border und Holy Spider zwei ganz und gar unterschiedliche, aber doch beide äußerst düstere, verstörende Filme inszenierte und dabei ein gutes Gespür für Sozialkritik bewies.

© Apprentice Productions / Tailored Films

The Apprentice soll sich um Trumps Immobilientätigkeiten in den 70er und 80ern drehen, die Hauptrolle spielt Sebastian Stan, und der zeigte zuletzt in Dumb Money, dass er durchaus Talent dafür besitzt, windige Geschäftsmänner zu portraitieren. Ob das Ganze eher in Richtung Krimi oder Satire geht, ist noch unklar. In jedem Fall aber sind wir gespannt.

Christian Neffe

Bird von Andrea Arnold

Nachdem die letzte Festivalsaison Sandra Hüller zum Weltstar gemacht hat – könnte dieses Jahr Franz Rogowski dran sein? Seit Passages hat man den Mann mit der ureigenen Art zu artikulieren auch international auf dem Zettel. In Cannes wird er in der titelgebenden Rolle des neuen Films von Andrea Arnold zu sehen sein.

"© Atsushi Nishijima / BFI"
© Atsushi Nishijima / BFI

Die Britin scheint sich in Bird, wie schon in ihren Wettbewerbsbeiträgen Fish Tank (2009) und American Honey (2016), mit einem vergessenen Prekariat zu beschäftigen: Ein alleinerziehender Vater (Saltburn-Star Barry Keoghan) und seine beiden Kinder leben in einem besetzen Haus im Südosten Englands. Unter diesen Umständen müssen die Kinder sich ihre eigenen Abenteuer suchen, wobei Peyton (Jasmine Jobson) wohl auf Rogowskis Figur trifft. Wenn Arnold an vorherige Arbeiten anschließen kann, darf man ein ebenso raues wie dennoch poetisches Update des britischen Sozialrealismus erwarten.

Mathis Raabe

Marcello Mio von Christophe Honoré

Der französische Drehbuchautor und Regisseur Christophe Honoré hat im Laufe seiner Karriere schon ein paar äußerst radikale Filme geschaffen, darunter Meine Mutter (2004) und Mann im Bad – Tagebuch einer schwulen Liebe (2010). Seine weniger sperrig, gar fluffig daherkommenden Arbeiten, wie zum Beispiel die Musical-Tragikomödien Chanson der Liebe (2007) und Die Liebenden (2011), konfrontieren uns hinter ihrer gefälligen Erscheinung oft mit noch Heftigerem – so wie bittere Pralinen in trügerisch hübscher Glitzerverpackung. Ob uns dies nun auch bei Marcello Mio erwartet?

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Seine Hauptdarstellerin Chiara Mastroianni, Tochter von Marcello Mastroianni und Catherine Deneuve, hat Honoré schon durch einige emotionale Abenteuer geschickt, zuletzt in der surrealen Tragikomödie Zimmer 212 – In einer magischen Nacht. Die beiden erneut vereint zu erleben in einem Meta-Plot um eine Identitätskrise der Schauspielerin Chiara Mastroianni (mit der berühmten maman und weiteren Arthouse-Stars wie Fabrice Luchini und Melvil Poupaud an ihrer Seite), versetzt uns in Vorfreude!

Andreas Köhnemann

The Substance von Coralie Fargeat

Coralie Fargeat ist recht neu auf der Bühne der großen Filmfestivals. Ihr Debüt feierte sie 2018 mit dem heftig diskutierten Revenge, der (der Name deutet es bereits an) einen frischen und unerschrockenen Blick auf das Subgenre der Rape-Revenge-Filme warf. Darin treffen sich drei wohlhabende, verheiratete Männer in einem Anwesen in der Wüste für einen Jagdausflug. Doch die Anwesenheit von Jen, der Geliebten des einen, führt zu einem anderen Verlauf als ursprünglich vorgesehen. Als einer der Männer die vergewaltigt und sie Konsequenzen fordert, wird sie buchstäblich zum Freiwild, bis es ihr gelingt, die Männer einen nach dem anderen zu töten, um ihr eigenes Leben zu retten.

Revenge war harter Tobak: rasend spannend, mit heftigen Gewaltspitzen und voller Lust an der Umkehr traditioneller Rollenbilder bildete der Film „den wohl blutigsten Beitrag zur #MeToo-Debatte“ (so schrieb die CINEMA) und war nach seinem Debüt beim Filmfestival in Toronto in der Reihe Midnight Madness auf zahlreichen weiteren Festivals zu sehen.

© Universal / Working Title

Über The Substance ist bislang nicht allzu viel bekannt, einen Trailer gibt es bisher nicht, doch bereits die Besetzung mit Margaret Qualley, Dennis Quaid und Demi Moore lässt aufhorchen. Vielversprechend ist insbesondere die Wahl von Benjamin Kracun als Kameramann. Der hat bislang unter anderem die Bildsprache von Filmen wie Promising Young Woman und Beast verantwortet, sodass sich langsam zumindest eine Ahnung einstellt, wohin das Ganze sich bewegen könnte.

Noch näher kommt man dem Film womöglich, wenn man sich vor Augen führt, wen Coralie Fargeat als Inspirationsquellen für ihre Arbeit bezeichnet: Es sind Regisseure wie Michael Haneke, David Cronenberg, David Lynch und John Carpenter – aber auch das Stilbewusstsein des südkoreanischen Kinos. Und natürlich muss man unwillkürlich auch und vor allem an Julia Ducournau denken, deren Titane 2021 das Festival an der Croisette rockte.

Bahnt sich hier etwas Ähnliches an wie vor drei Jahren? Dem Festival täte ein wenig frischer Wind sicherlich gut. Count me in!

Joachim Kurz

Parthenope von Paolo Sorrentino

Im Gegensatz zu Coralie Fargeat ist Paolo Sorrentino ein alter Hase und stellt auch sonst einen Gegenpol zum wütenden, heftigen und von Auseinandersetzungen um Geschlechterrollen geprägten Kino unserer Tage dar. Etwas bösartiger könnte man formulieren: Die Filme Paolo Sorrentinos wirken ein wenig aus der Zeit gefallen. Sie entführen in ein mystisches Gestern, sind durchtränkt von Nostalgie und einer melancholischen Sehnsucht nach Orten und Lebensabschnitten, die allesamt irgendwie verlorene gegangen sind. Und ja, ich gestehe, manchmal brauche ich genau so etwas. Die Gegenwart und die Zukunft, wie man sie aus den Nachrichten vorausahnen kann, sind nicht gerade rosig. Da hilft so ein wenig in Erinnerungen schwelgender Eskapismus durchaus.

© Gianni Fiorito / Fremantle

Das neue Werk Sorrentinos (Il Divo, Cheyenne — This Must Be the Place, La Grande Bellezza, Ewige Jugend, The Young Pope) verspricht jedenfalls genau das: Im Mittelpunkt steht Parthenope (der Name geht zurück auf eine der Sirenen aus Homers Odyssee), eine junge Frau, die in den 1950er-Jahren in Neapel geboren wird. Oder gab es sie vielleicht schon immer? Ist sie überhaupt eine reale Person, oder vielmehr eine Sagengestalt? Sehr viel mehr ist über den Film derzeit (noch) nicht bekannt, außer, dass es sich um eine Art Liebeserklärung an Sorrentinos Heimatstadt Neapel handeln muss. Allein schon deshalb bin ich sehr gespannt auf diesen Film, alles Weitere muss man ohnehin sehen.

Joachim Kurz

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