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Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Das jüdische Lemberg und das himmlische Jerusalem

Hauptwege, Seitenwege, Schlupfwinkel

von Christian Weise

„Sende mir dies und jenes Buch aus Lemberg“, schrieb in den 20er Jahren der junge Gerschom Scholem an seine Mutter in Berlin. Als ich in dem Briefwechsel der beiden darüber vor 30 Jahren las, war ich ebenso erstaunt wie begeistert. Mutter Scholem orderte von Berlin aus bei Fränkel in Lemberg Bücher – vielleicht zur jüdischen Mystik? – und expedierte sie weiter an ihren Sohn nach Jerusalem. Welch ein Netzwerk!


Vladimir Melamed,
Juden in Lemberg.

Vom 13. Jahrhundert
bis zur Mitte des
20. Jahrhunderts

„Aus Lemberg kam mit ungeheurem Strafporto eine Büchersendung, die ich an Ostertag zur Spedition an Dich gab. 4 Tage später kam, mit noch größerem Strafporto, der dazu gehörige Brief mit gänzlich unverständlicher Rechnung, nur Zahlen ohne Währungsangabe. Ich fragte nun erst zurück u. habe noch keine Antwort, also diese Sache klappt nicht, mit Galizien ist nichts zu machen. Wenn die Sache erledigt ist, schicke ich Dir den Brief von dem Fränkel ein.“ (Betty Scholem / Gerschom Scholem. Mutter und Sohn im Briefwechsel 1917–1946. München 1989, S. 81 [Brief vom 21.9.1923])

Interessant ist, was jüngst zur Geschichte jüdischer Menschen in Lviv in der Zeit bis 1939 erschienen ist. Drei Publikationen sind zu nennen, ein Archivführer und zwei umfangreiche thematische, berufsspezifische Handbücher: zu jüdischen Fotografen samt Fotostudios und zum jüdischen Architekturerbe Lembergs. Zur Erinnerung: Juden machten einst mit rund 100.000 Menschen 38 % der Bevölkerung von Lemberg aus.

Archivführer Jüdische Dokumente in Lemberg

Archivare beschäftigen sich intensiv publizierend schon seit der Unabhängigkeit der Ukraine mit der jüdischen Seite der Geschichte der Ukraine. Unablässig und beharrlich hat sich vor allem Efim Melamed (1951–2021) um das die Juden betreffende Archivgut in der Ukraine gesorgt. Die Darstellung eines Namensvetters, Wladimir Melamed, über „Juden in Lemberg“ war eines der ersten Bücher, die ich 1994 in den damals traurig-leeren Buchhandlungen Lembergs erwarb.

Dokumente zur Geschichte und Kultur der Juden

Wie gut Efim Melamed sich auskannte und wie intensiv er arbeitete, sah man 2006, als der erste Band erschien, „Dokumente zur Geschichte und Kultur der Juden Kiews. Ein Handbuch“. Auf 749 Seiten geballtes Wissen! Zwei weitere Bände folgten: „Dokumente zur Geschichte und Kultur der Juden in den regionalen Archiven der Ukraine – ein Handbuch. Zu den Gebieten Wolynien, Schytomyr, Rowno, Tscherkassy.“ (2009) und „Dokumente zur Geschichte und Kultur der Juden in den regionalen Archiven der Ukraine – ein Handbuch. Zu den Gebieten Nikolajew, Odessa, Cherson“ (2014).

Der neue Archivführer

Veröffentlicht wurden die drei russischsprachigen Bände im größeren Kontext des internationalen Projekts „Dokumente zur jüdischen Geschichte und Kultur aus den Archiven Russlands, der Ukraine und Belarus“. Dieses startete 1991. Die ukrainischen Bände erschienen ein Dutzend Jahre später in den Verlagen „Duch i Litera“ (Geist und Buchstabe) bzw. „Feniks“. Ein Glücksfall war, dass Leonid Finberg, der bereits in Sowjetzeiten Samizdat-Verleger war, seit Anbeginn als Editor im Verlag „Geist und Buchstabe“ Konstantin Sigovs mitarbeitete. Er schuf 1994 das als „Institut für Judaistik“ gegründete, in die Mohyla-Akademie integrierte „Zentrum für das Studium von Geschichte und Kultur des Osteuropäischen Judentums“.

Melamed, „Poet der Archive“, hatte zunächst mehrfach zum amerikanischen Forschungsreisenden George Kennan (1845–1924) publiziert und hatte dabei an der Arbeit in Archiven Gefallen gefunden, die er fortan dokumentierend analysierte. Posthum ist nun der ihm gewidmete Archivführer zu Lemberg erschienen. Anders als die vorherigen Archivführer erschien dieser nun auf Englisch. Als Herausgeber wirkten Alexander Ivanov, inzwischen in Dortmund lebend, und David E. Fishman, Professor für jüdische Geschichte am Jewish Theological Seminary of America in New York.

Der neue Archivführer

Was findet der Benutzer? Der 560-seitige Band beschreibt 235 Fonds oder Bestände mit jüdischen Inhalten der Archive, Bibliotheken und Museen Lembergs. Aufgeschlüsselt präsentiert werden sie nach den verschiedenen Zeitperioden und innerhalb dieser institutionengeschichtlich. In numerischer Reihenfolge sind die Fonds der beiden Archive, des Historischen Staatsarchivs Lemberg und des Staatsarchivs der Oblast Lemberg, sowie der anschließenden Fonds auf 25 Seiten am Ende des Führers.

Die Fonds zweier Großbibliotheken, der Bibliothek des Oblastarchivs und der der Iwan-Franko-Universität schließen sich an, gefolgt von denen des Instituts für Buchwissenschaften der dritten Bibliothek, der Stefanyk-Bibliothek, die man mit den beiden deutschen Staatsbibliotheken vergleichen könnte. Anschließend folgen noch Fonds von vier Museen und der Lemberger Nationalgalerie.

Abgeschlossen wird der Band mit einer Bibliografie (von ursprünglich deutschen Buchtiteln werden englische oder ukrainische Ausgaben aufgelistet: Kuzmany, Woldan; hier und da gibt es Schreibfehler; Petrovsky-Shtern fehlt, ebenso Zborowskis ältere Schtetl-Monographie, Hausmann gäbe es auch in englischer oder polnischer Übersetzung), einem Namens- und Ortsnamenindex sowie einem Index jüdischer Institutionen, Organisationen und Periodika. Im Index findet sich dann auch wohl Scholems Fränkel, hier fälschlich Frenkel transliteriert, vielleicht eher ein politischer Aktivist und kein Buchhändler, nicht aber der bei uns bekannte industrielle Mangager von Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Berthold Beitz, der Seite 337 beiläufig nur im kommentierenden Text, Nichtaber  als Archivquelle erwähnt ist.

Die beschriebenen Dokumente beziehen sich nicht nur auf das seit Mitte des 14. Jahrhunderts in „Lemperg“ (so die jiddische Schreibweise) ansässige Judentum, sondern ebenso auf benachbarte Gebiete wie Wolynien, Podolien, Bukowina und überhaupt auch nord- und südwestliche Nachbarländer. Forscher sollten Sprachkenntnisse des Lateinischen, Polnischen, Deutschen, Ukrainischen, Russischen, Hebräischen und Jiddischen mitbringen.

In den aufgeführten Archiven haben immer wieder schon in vergangenen Jahren nichtukrainische Wissenschaftler gearbeitet. Um 2000 konnte man einen Mitarbeiter von Yad-va-Shem beispielsweise im Historischen Staatsarchiv Lemberg antreffen, der wenig später den „Transfer“ der Wandmalereien von Bruno Schultz nach Israel veranlasste. Auch Tarik Amar, zeitweiliger Leiter des „Instituts für Stadtgeschichte“ (Ostmitteleuropas), befragte hier Quellen. Ebenso Dieter Pohl und Kai Struve.

Entstanden ist der Band als Koproduktion. Eine Reihe von Stiftungen und selbst das deutsche Bundesfinanzministerium haben die Arbeit gefördert, gedruckt wurde der Band in der Zusammenarbeit der Wrocław University Press mit dem Kyjiver Verlag „Duch i Litera“.

Im Vorwort, niedergeschrieben bereits nach dem Großangriff Russlands auf die Ukraine, vermerken die beiden Herausgeber: „There is no doubt that the Jewish documentary collections described in this guide are an integral part of the Ukrainian cultural heritage as a whole, just as the history and culture of Galician Jews cannot be seen as separate or apart from the history of Galicia, the ‚core‘ of Western Ukraine. Study and reflection on the historical and cultural heritage of all ethnic groups helps promote the consolidation of the Ukrainian polity and the further development of civil society in contemporary Ukraine.“ (S. 9, was nebenbei auch ein hübscher Kommentar zur gegenwärtigen Diskussion um Frau Roths Kulturpolitik wäre).

Für ein breiteres Publikum zugänglicher – weil auch mit zahlreichen Schwarzweißfotos versehen – sind zwei weitere Bände, erschienen im Lemberger „Verlag des Alten Löwen“.

Architekturführer Jüdisches Architekturerbe Lembergs

Der erste reiht sich ein in das Regal ähnlicher Nachschlagewerke: So gibt es, wieder vom Verlag „Duch i Litera“ verlegt, bereits seit 2020 den 650seitigen gesamtukrainischen Reiseführer „Jüdische Adressen der Ukraine“, herausgegeben von Marharyta Jehortschenko. Zu Prag, einer mit Lemberg vergleichbaren Stadt, gibt es gleich mehrere vielbändige umfangreiche, vom Gewicht her erschlagende Darstellungen zu den einzelnen Straßen, freilich nicht unter dem Aspekt jüdischer Hausbesitzer oder Architekten.

Jurij Birjul’ov, Lemberger Kunsthistoriker, hat sein Material in fünf Kapiteln arrangiert: 1. 34 Synagogen 2. 40 Öffentliche Gebäude, 3. 26 Gewerbe- und Finanzinstitutionen, 4. 21 Industrieanlagen und 5. 319 Wohngebäude. Vorgeschaltet ist dem Katalog mit oft zeitgenössischen Fotos der betreffenden Gebäude eine Einleitung. Angehängt ist ein konzises biografisches Verzeichnis von fast 90 jüdischen Architekten. Nicht unerwartet enden die meisten Biografien derjenigen, die ihre Schaffenszeit in der Zeit Lembergs der 2. Polnischen Republik hatten, mit dem Hinweis „umgekommen-umgebracht“. Zuvor vermerkt der Katalog bei den offiziellen jüdischen Gebäuden oft die entsprechende Formulierung „abgerissen“. Ein Index mit der hinzugefügten polnischen (lateinischen) Schreibweise nach einer längeren Bibliografie und Hinweisen auf Archivalia schließt den Band ab.

Ju. Birjul’ov, Das jüdische Architekturerbe Lembergs. L’viv 2024.

440 Architekturwerke sind durchnummeriert erfasst, über 500 Fotos, davon 32 Farbseiten, illustrieren sie. Abgerissene Gebäude können manchmal nur als Skizze gezeigt werden. Oft werden neue Fotos aus den letzten Jahren verwendet. Die städtische Expansion Lembergs in allen Bereichen entsteht vor dem Auge des Lesers: In den Bereichen Finanzsektor, Institutionen, Wirtschaft und Kultur wächst die Nachfrage nach Gebäuden. Seit dem 17. Jahrhundert bereits entstehen Bauten jüdischer Architekten und Besitzer außerhalb der Stadtwälle, beschleunigt ab dem 19. Jahrhundert. Sie spiegeln die Architekturentwicklung wider: Bis heute findet man noch alte Apotheken mit unterschiedlichem Holzinterieur; moderne Architektur des 20. Jahrhunderts, Jugendstil (Art Nouveau), worüber der Autor mehrfach publiziert hat, Neobarock und Neo-Romantik prägen das Antlitz der Stadt. Die Einordnung wird angedeutet: „Lemberg wurde mit den neuen Unterhaltungszentren, Geschäften und Hotels eine genuine jüdische Megapolis.“.

Manche Gebäude gewinnen nach der Lektüre von Birjul’ovs Band an Tiefe. Das jetzige „Theater des Bieres“, davor das Kaufhaus „Univermah“, entpuppt sich als jüdisches Kaufhaus „Zipper“, und wo sich heute, unweit der Universität, das Selbstbedienungsrestaurant „Pusata chata“ befindet, war einst das Restaurant „Renesans“, nach 1919 unter dem Namen „Louvre“. Das Schmuckstück der „Haussmann-Passage“ war geplant als Anlehnung an die Berliner „Kaisergalerie“… Tiefe gewinnt die Stadt sehr vieler Kirchen aber auch durch ihre nun ersichtlichen weißen Flecken: Einst gab es ebenso viele Synagogen und Bethäuser wie Kirchen. Über die Kerben für die Mesusas an den Haustüren kann noch die Hand streichen, die Leere hingegen erfasst nur noch die Imagination. Was sehen wir im Spiegel, der teilweise blind ist? Das Fehlen historischer Fotos in dem Katalog ist Ergebnis der Vernichtung bzw. der Umsiedlungen und Deportationen.

Auf den Spuren bedeutender jüdischer Einwohner blättert man den umfangreichen Teil über die Wohnhäuser durch. Villen und Wohnhäuser des Dichters und Politikers Alfred Nossig, des Fotografen Mark Münz, des Architekten Michał Ulam und des Historikers Adam Ulam, des jüdischen Gelehrten Salomon Buber und seines Enkels Martin Buber, der Autoren Józef Wittlin und Stanisław Lem, der Sammler Maksymilian Goldstein und Mark Reichenstein sowie vieler anderer weniger bekannter Einwohner lassen sich entdecken.

Als Aufgabe gibt der Katalog die Frage der Einordnung an die Leser, künftige Forscher und Betrachter des Architekturerbe Lembergs mit. Wie verhält sich die jüdische Architektur zu der der Armenier, Polen und aller anderen Einwohner der Stadt Lemberg? Künftige Stadtführungen werden von dem Katalog profitieren.

Nach Mayer Balaban (1877–1942) ist Birjul’ov (* 1952) mit seinem Katalog und all seinen früheren Arbeiten, die in Serhij Fruchts „Zentrum Europas“ erschienen, einem gewissen Vorgänger des von Harald Binder gestifteten „Institut für Stadtgeschichte“, zu einem der wichtigsten Autoren zur Architekturgeschichte Lembergs avanciert.

Leider enthält Birjulows Katalog kein Straßenverzeichnis, keine Synopse alter (polnischer) und neuer (ukrainischer) Straßennamen und auch keine Karte. Digital natives würden vermutlich eine interaktive Webseite starten, ähnlich wie diejenige, die ich kürzlich bei https://war.in.ua sah. Für den Index, in dem übrigens fast ein Dutzend Mitglieder der Familie(n) Fränkel auftauchen, hätte man sich in Klammern außerdem noch die (ungefähren) Lebensdaten gewünscht.

Sich durch all die genannten und weiteren Häuser – heute große und kleine architektonische Relikte jüdischen Lebens – zu bewegen, und die großen Spielstätten gesellschaftlichen Lebens aufzusuchen, war damals nicht jedem vergönnt. Wer aus dem Schtetl kam – Manès Sperber hat beispielsweise das Leben dort in seinem ersten Erinnerungsband „Die Wasserträger Gottes“ beschrieben – konnte kaum auf eine gesellschaftliche Karriere hoffen. Eine Seitentür über Seitenwege, um am Leben der Gesellschaft – beobachtend – teilzunehmen, öffnete sich allerdings Künstlern, „Luftmenschen“, darunter auch Fotografen.

Jüdische Fotografen Lembergs

So gilt der zweite Band Fotografen und Fotostudios. Ein großartiger Einfall. Manch einer kennt vielleicht noch Schwarzweiß-Fotos von den Urgroßeltern, auf denen ein Fotoatelier kunstvoll seine Adresse eingeprägt hat. Selten sind großformatige Bilder im A 3-Format – ich sah zufällig vor einem Jahr solche Aufnahmen der ungarischen Familie Sarkozy auf einem Frankfurter Flohmarkt.

Iryna Kotlobulatova, Jüdische Fotografen und Fotostudios Lembergs (1860–1939). L’viv, 2024

Der neue Beruf des Fotografen, der seine Ursprünge in Frankreich in einer zweiten Löwenstadt – Lyon – hatte, fand viele Adepten unter den Lemberger jüdischen Stadtbewohnern. Auch hier waren die gesellschaftlichen Außenseiter Neuerungen nicht abhold. Wo manche Aufstiegschancen verbaut waren, gab es doch das Eintritts-Billet, die Teilnahme als Voyeur. Einerseits den Blicken und Wünschen der Kunden nach Selbstdarstellung oder Neuerfindung folgend, andererseits aber explorierend, „lasen“ jüdische Fotografen ihre Stadt. Fotografen als Komplizen oder Stilberater, Forscher oder Demaskierer.

Der Zeitraum der von Iryna Kotlobulatova dokumentierten jüdischen Fotografen und Fotostudios umfasst die Jahre 1860 bis 1939. Die Autorin hat wie der vorige Autor eine langjährige Erfahrung in ihrem Thema, besitzt eine große Fotosammlung und hat seit 20 Jahren eine Reihe von Fotobüchern und Untersuchungen zu Lemberg publiziert, darunter auch eine zu Buchhändlern und Buchhandlungen. In irgendeiner oder mehreren von diesen hatte Betty Scholem 1923 für den filius Judaica bestellt.

Von den kurzen Einleitungskapiteln vermerkt die Autorin die Ambivalenz des neuen Berufs: Einerseits bot er offene Türen für „newcomer“, andererseits wurde seine Ausübung durch Vorgaben wie: die Registrierung eines Gewerbes reglementiert. Auch dies führte dazu, dass in der 2. Polnischen Republik zahlreiche Fotografen als Straßenfotografen arbeiteten, was aus den letzten Jahrzehnten Besuchern etwa Kiews oder Lembergs vertraut sein dürfte.

Mit Staunen liest man, dass sich auf den Boulevards zwischen Passagen und Hotels ein Dutzend von Fotoateliers einreihte, die in Pavillons den Flaneuren ihre Dienste anboten. Ob wohl dem Flanieren das Posieren entspricht, zumal meist ohne Blickkontakt mit dem Fotografen oder Bildbetrachter?

Allein von Porträts auf flauschigen Teppichen oder Fellen, an Tischchen und auf ziselierten Stühlen ließ es sich für professionelle Fotografen schlecht leben. Ergänzend bot sich die Mitarbeit in Zeitungen und Zeitschriften an, die damals blühten. Auf diese Weise betrieben Fotografen „Feldforschungen“ und dokumentierten die Moderne, den Wandel des Lebens.

Einige Fotografen wurden zu städtischen Institutionen, verdienten viel Geld und besaßen große Fotoateliers: Einer der bekanntesten war Dawid Mazur (1859–1916). Eine besonders umfangreiche Tätigkeit übte später Marek Münz (1872–1936) aus, dessen Arbeiten auf 90 Seiten des Katalogs präsentiert werden, was vom Umfang her bereits eine eigene kleine Monografie wäre.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurden Kameras erschwinglich und Amateure begannen zu fotografieren. Dies ermöglichte auch emanzipierten Frauen, sich mit dem Fotoapparat die Welt zu erschließen. Fotografieren als eine demokratische Kunst, „the camera … a kind of passport, that annihilates moral boundaries and social inhibitions“ (Susan Sonntag, On photography – auf Ukrainisch bereits 2002 erschienen). Trotz einigen Widerstands wurden auch die Frauen professionelle Fotografen und fanden neben den Starfotografen ihren Platz. Illegal, ohne Lizenz, musste Helena Maurer wirken, Amalia Oszlanyi besaß ein eigenes Fotostudio, „Flora“.

Beobachten lässt sich ein „Wetterhäuschen-Effekt“: Männer entwickeln als Fotografen stärker ästhetische und weichere Seiten, Frauen treten aus dem Schatten ihres Frauendaseins und interessieren sich für männlichere Seiten des Lebens wie schnellen Sport, riskante Seiten des Lebens. „Ich ist ein anderer!“

Wissen würde man gerne, ob sich Fotografen damals schon inszenierten oder sich irgendwie eine Aura zu verschaffen wussten. Bei Gesellschaftsfotografen heute gehört das zum Stil.

Kotlobulatovas Katalog enthält zwei große Abschnitte: Den umfangreichste davon stellen 330 Seiten Biogramme von 158 professionellen Fotografen und 55 Straßenfotografen dar. Ihm folgt ein 160 Seiten-Werkverzeichnis zu den in Periodica publizierten Fotos. Für die Autorin des Katalogs war es ein Glücksfall, dass die polnischen Zeitungen alle in der Lemberger Stefanyk-Bibliothek erhalten sind (Digitalisierungsprojekte laufen noch).

Von den Daguerrotypen, also nicht reproduzierbaren Fotos, arbeitet sich der Katalog vor zu den professionellen und Amateurfotografen, anschließend den Straßenfotografen. Zwei Abschnitte mit Fotos unbekannter Fotografen (S. 363) bzw. nichtjüdischer Fotografen jüdischen Lebens (S. 373) beenden den Katalog.

Das Spektrum der Motive ist breit: Nach Porträts finden sich „Klassenfotos“ (Gruppenfotos) von Gesellschaftsfotografen, Genreszenen von der Straße vor dem Hintergrund des Stadtlebens, später Fotos von Gebäuden und deren Interieur (Restaurants, Bibliotheken, Betriebe), Panoramen, Szenen des Berufslebens (etwa von der Tätigkeit von Chirurgen, die für die Allgemeinheit unsichtbar war) und schließlich auch von jüdischen Grabsteinen und Kultgegenständen.

Ein Highlight ist das Foto des Besuchs von Schah Muzaffar ad-Din, der im Juni 1905 bei seinem Besuch eines Teehauses im Stryjsker Park im Kreise seiner Kinder und Begleitung aufgenommen wurde (S. 239).

Die Gliederung des Materials hat sich mir bislang nicht völlig erschlossen. Im Hintergrund befinden sich jedenfalls große Sammlungen, wie sie ähnlich auch das „Centr Jevropy“ und die daraus hervorgegangene, bislang unvollendet gebliebene „Encyklopedija L’vova“ zusammengetragen und publiziert haben. Es geht um das Glück des Findens! Auch die Nutzer des Katalogs bleiben Flaneure, oder bewegen sich zwischen den beiden Idealtypen des fotografierenden „Ethnologen“ und heutigen „Kulturarchäologen“, wie es das Nachwort formuliert

Der Katalog illustriert die sozialen Dimensionen des reichen und intensiven Lebens im Lemberg zwischen den Kriegen, nicht nur die Institutionen, die das Strukturierungskriterium des zuerst genannten Archivführers sind.

Die Zunahme der Straßenfotografen gipfelte schließlich darin, dass 1938 der jüdische „Fotoklub“ aus Protest gegen antisemitische Stimmungen in der „Gesellschaft Lemberger Fotografen“ gegründet wurde.

Wer 1941 von den professionellen Lemberger Fotografen die Pogrome und das Straßenleben dokumentierte, ist bislang unbekannt und nicht erforscht.

Kotlobulatova, die zeitweilig für das „Institut für Stadtgeschichte“ arbeitete, vergleicht in der englischen Zusammenfassung die „dichte Stadtbeschreibung“ der Fotografen mit Joyce’s Beschreibungen von Dublin, unsereiner denkt mehr noch an die Beschreibungen eines Freundes von Scholem, den Berliner Schriftsteller Franz Hessel. Gemeinsam hatten beide Proust übersetzt, „À la recherche du temps perdu“.

Adressat der beiden Kataloge dürfte das Lesepublikum zunächst in Lemberg sein, einer Stadt, in der seit über 30 Jahren eine wichtige ukrainische Buchmesse, das Book Forum, stattfindet und in der sich nun viele Flüchtlinge aus der Ostukraine aufhalten. Die englischen Zusammenfassungen und die Abbildungen öffnen die Bände darüber hinaus einem größeren Kreis von Interessierten – den Flaneuren, seien sie Fotografen, Architektur- oder Buchliebhaber.

Denn: In glücklichen Momenten, im Anhalten und Aufheben der Zeit, stellt sich allen Flaneuren ein, was auch Scholem interessierte: die unio mystica.

Das jüdische Maksymilian-Goldstein-Museum in Lviv

Beide Kataloge stellen sich vor als Teile einer neuen Serie „Jüdisches Maksymilian-Goldstein-Museum in Lviv“. Neben dem 2009 auf Initiative des Stadtrates von Lemberg gegründeten Museum „Territorium des Terrors“ – hier wurden unlängst Fotografien des Anfang Januar umgekommenen ukrainischen Dichters Maksym Krywzow ausgestellt – wird seit 2017 in Lemberg darüber gesprochen, das einst von Goldstein (1880–ca. 1942) gegründete „Jüdische Museum“ wiederzubeleben. In dem Fotografen-Band ist der Bankier und Sammler wie auf einem Renaissancegemälde inmitten seiner Sammlungen sitzend auf einem Foto zu finden (S. 22).

Maksymilian-Goldstein – Bankier und Sammler

Einer der wichtigen Unterstützer dieses Museumsprojekts ist der inzwischen in Chicago lehrende Judaist Yohanan Petrovsky-Shtern. Sein Vater Myron war seit 1995 Herausgeber der bei „Duch i Litera“ erscheinenden Kyjiwer judaistischen Zeitschrift „Jehupez“. Er selbst hat unter anderem eine interessante Monographie zu den Schtetls und eine gemeinsam mit Paul Robert Magocsi verfasste populärwissenschaftliche schöne bebilderte Darstellung zu „Juden und Ukrainer: Tausend Jahre der Koexistenz“ publiziert und nun die Arbeit an beiden Katalogen betreut. Die Serie soll fortgesetzt werden.

Juden und Ukrainer – Ein Jahrtausend der Koexistenz

Wer sich etwas in das Ukrainische einarbeitet, und dazu gibt es ja inzwischen einigen Anlass, wird aus allen genannten Bänden seinen Gewinn ziehen. Auch die Zusendung aus der Ukraine sollte, ähnlich wie vor hundert Jahren, problemlos gelingen, von Kiew über Lemberg und Przemysl beispielsweise nach Frankfurt, Berlin, München, London, New York oder Jerusalem.

Ein Schlupfwinkel jenseits der Hauptstraßen und Seitenwege bei alledem bleibt indes sicherlich das Thema, mit dem Gerschom Scholem sich intensiv beschäftigte: Die jüdische Mystik.

Der mystische Messias von Gershom Scholem

Arthur Scholem, schrieb seinem Sohn zum 24. Geburtstag 1921: „Hebraica und Judaica in Ehren, aber nicht als Lebensaufgabe! Glaube mir, Du erleidest schweren Schiffbruch und wer weiß, ob es dann nicht zu schwer für Dich sein wird, ein rettendes Gestade zu erreichen, denn die kräftigen Arme hierzu fehlen Dir.“ (Betty Scholem / Gerschom Scholem. Mutter und Sohn im Briefwechsel 1917–1946. München 1989, S. 80 [Brief vom 3.12.1921])

Zwei Jahre später wanderte Gerschom Scholem aus, fuhr per Schiff nach Palästina, nach Jaffa, um sich in Jerusalem niederzulassen. Wie der Ruderer Kierkegaards blickte er dabei zurück, zurück auf Berlin und zurück auf die Stadt, aus der auf Umwegen die jüngste Büchersendung zu ihm kam, auf Lemberg.

Literaturangaben:

Jewish Documentary Sources in Lviv Archives: A Guide. Edited and combiled by Alexander Ivanov und David E. Fishman. Wroclaw University Press in Cooperation with Dukh i Litera Press, Kyiv 2023. ISBN 978-83-229-3798-3 (hardback), 978-83-229-3815-7 (PDF). 560 S.

Iryna Kotlobulatova, Jevrejski fothrafy ta fotostudii Lvova (1860 – 1939). Vyd. Staroho Leva, Lviv 2024. ISBN 978-966-448-148-6. 664 S.

Jurij Birjulov, Jevrejska architekturna spadschtschyna Lvova. Vyd. Staroho Leva, Lviv 2024. ISBN 978-966-448-014-4. 628 S.

Jevrejski adresy Ukrajiny. Putivnyk. Hrsg. von Marharyta Jehortschenko. Duch i Litera, Kyjiv 2020. 650 S.

Andrij Kozyckyj, Tini Jewrejskoho mista. Putivnyk Lwowom. Litopys, Lviv 2019. ISBN 978-966-8853-90-6. 217 S.

Paul Robert Magocsi / Yohanan Petrovsky-Shtern, Jews and Ukrainians. University of Toronto Press, Toronto 2016. ISBN 978-0-7727-5111-9. 320 S. [Auslieferung über ibidem-Verlag]

Weiterführende Links:

https://ukrainianjewishencounter.org/en/jewish-museum-lviv-needs-revived/

https://lia.lvivcenter.org/en/themes/reherit/goldstein/

https://risu.ua/en/exhibition-of-galicia-jews-to-be-opened-in-lviv_n89971

Balaban https://de.wikipedia.org/wiki/Majer_Balaban

Birjul‘ov

https://uk.wikipedia.org/wiki/%D0%91%D1%96%D1%80%D1%8E%D0%BB%D1%8C%D0%BE%D0%B2_%D0%AE%D1%80%D1%96%D0%B9_%D0%9E%D0%BB%D0%B5%D0%BA%D1%81%D0%B0%D0%BD%D0%B4%D1%80%D0%BE%D0%B2%D0%B8%D1%87

Hotels – Hotels von Lemberg – Denys Mandzjuk, Hoteli staroho L’vova.

Iryna über Buchläden 2015

https://www.youtube.com/watch?v=WDI0IVjzHf0

Книгарі та книгарні в минулому Львова

 

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