Einleitung

In Kliniken werden Personen vorübergehend behandelt, in Einrichtungen der stationären Altenpflege leben sie dauerhaft. Daraus ergeben sich spezifische normative Spannungsverhältnisse und ethische Fragen für diesen Einrichtungstyp. Diese werden seit der Gründung des ersten Gremiums für Ethikberatung in einem Altenpflegeheim in Frankfurt am Main 2006 zunehmend systematisch reflektiert. Ein häufig eingesetztes Format ist die Ethik-Fallberatung. In Ethik-Fallberatungen werden durch spezifisch geschulte Moderator:innen (z. B. nach dem Curriculum der Akademie für Ethik in der Medizin (Akademie für Ethik in der Medizin 2022)) ethische Problemstellungen bei der Betreuung und Versorgung einer Person diskursiv bearbeitet. Eine Ethik-Fallberatung verläuft typischerweise in drei Phasen: (1) Vorbereitung des moderierten Diskurses, (2) moderierter Diskurs und (3) Nachbereitung mit Ergebnissicherung (May 2013). Zur Moderation des Diskurses in Phase zwei werden häufig Strukturinstrumente genutzt. Neben der Strukturierung des Diskurses unterstützen sie die inhaltliche Fokussierung und Orientierung, können aber ethische Kompetenzen nicht ersetzen.

Ein spezifisches Strukturinstrument für die Ethik-Fallberatung in der Altenpflege ist das Modell nach EMMA. Da andere Strukturinstrumente für den Einsatz in der Klinik durch die andersartigen normativen Spannungen und ethischen Fragestellungen in der Altenpflege nicht einfach übernommen werden konnten, wurde EMMA 2011 von einer Arbeitsgruppe von Ethikberater:innen in der Altenpflege konzipiert (Sauer et al. 2012).

Nun wurde EMMA durch diese Arbeitsgruppe grundlegend überarbeitet. Erfüllt EMMA die Erwartung, die Kontextfaktoren der Ethik-Fallberatung in der stationären Altenpflege aufzugreifen? Um diese Frage zu beantworten, werden zunächst die besonderen Rahmenbedingungen für die Ethik-Fallberatung in der stationären Altenpflege nach heutigem Erkenntnis- und Erfahrungsstand systematisch dargestellt und ein Überblick über die dort relevanten ethischen Fragestellungen gegeben. Ausgehend davon werden Anforderungen an ein Strukturinstrument für die Ethik-Fallberatung in diesem Setting entwickelt. Nach Vorstellung des Strukturinstruments EMMA 2023 wird es auf den Anwendungsgegenstand überprüft und eine Perspektive auf weitere Einsatzmöglichkeiten eröffnet.

Rahmenbedingungen für die Ethik-Fallberatung in der stationären Altenpflege

Für die Moderation des Diskurses in Phase zwei der Ethik-Fallberatung sind jene Rahmenbedingungen interessant, die inhaltlich und methodisch bedeutsam und damit für das Ergebnis der Ethik-Fallberatung relevant sind. Die Besonderheiten der Organisation des außerklinischen Ethikberatungsgremiums oder der organisatorischen Abläufe einer Ethik-Fallberatung werden in diesem Beitrag nicht aufgegriffen (vgl. dazu Taupitz 2020).

Im Folgenden werden die drei Punkte dargestellt, in denen sich diese Rahmenbedingungen von denen der Klinik unterscheiden: (1) die Merkmale der Personen, um die es in der Ethik-Fallberatung geht, (2) der Kreis derjenigen Personen, die möglicherweise an der Ethik-Fallberatung teilnehmen und (3) die strukturellen Gegebenheiten des Einrichtungstyps.

Merkmale der Personen, um die es in der Ethik-Fallberatung geht

Personen, die in Einrichtungen der Altenpflege leben, sind ausgesprochen vulnerabel (Schlögl-Flierl und Schneider 2021, S. 233–235). Sie sind aus verschiedenen Gründen nicht mehr in der Lage, alleine in der Häuslichkeit zu leben und sich selbst zu versorgen: Sie leben wegen ihres Assistenz- und Pflegebedarfs aufgrund von Einschränkungen physischer und/oder psychischer Natur in der Einrichtung (Schlögl-Flierl und Schneider 2021, S. 249) und sind in besonderem Maße von dieser Einrichtung abhängig (Bockenheimer-Lucius 2007). Diese Angewiesenheit auf die Unterstützung durch Andere ist kein Zustand, der selbst gewählt wurde (Riedel 2015, S. 57): Häufig ziehen die Menschen unfreiwillig nach einem Klinikaufenthalt ein, was teils zu Resignation führt (Bockenheimer-Lucius und May 2007; Heinemann 2010, S. 163; Sauer et al. 2012, S. 158; Schlögl-Flierl und Schneider 2021, S. 97–99). Natürlich gibt es auch gute Gründe für einen Einzug in eine Einrichtung der Altenpflege, und die Betreuung rund um die Uhr kann als Entlastung erlebt werden (Bockenheimer-Lucius 2007). Dagegen werden Patient:innen in Kliniken bei akut behandlungsbedürftigen Erkrankungen versorgt, die zwar auch mit Einschränkungen einhergehen können, aber meist nur vorübergehend auftreten. Viele Bewohner:innen von Altenpflegeeinrichtungen haben kognitive Einschränkungen oder psychische Erkrankungen und zeigen Verhaltensauffälligkeiten wie lautes Rufen, Bewegungsdrang oder Aggressionen.

Kreis der an einer Ethik-Fallberatung potenziell teilnehmenden Personen

Der dauerhafte Aufenthalt in der Einrichtung als Lebensmittelpunkt und nicht nur vorübergehender Ort der Behandlung wirkt sich auf die Beziehungen zu den versorgenden Fachpersonen aus. Pflegefachpersonen sind Hauptversorgende und erste Ansprechpartner:innen. Oft bestehen ein Vertrauensverhältnis und eine persönliche Bindung zwischen Bewohner:innen und Pflegenden auf Basis der langen gemeinsamen Geschichte (Bockenheimer-Lucius 2015, S. 21; Haas 2015, S. 39; Riedel 2015, S. 57; Sauer et al. 2012, S. 163). Gleiches gilt für weitere Mitarbeiter:innen wie Seelsorgende, Angehörige von Sozialberufen, Therapeut:innen der verschiedenen Fachrichtungen und Leitungskräfte, welche die Menschen langfristig begleiten (Bockenheimer-Lucius und May 2007). Rechtliche Vertreter:innen (Vorsorgebevollmächtige und rechtliche Betreuer:innen) unterstützen oftmals als Entscheidungsträger über einen langen Zeitraum. An- und Zugehörige erzeugen in der Triade Bewohner:in – Pflegende – An- und Zugehörige oft zusätzliche Spannungen und üben so Einfluss auf den Alltag der Bewohner:in aus, ohne gleichzeitig beauftragte rechtliche Vertreter:innen zu sein (Bockenheimer-Lucius und May 2007; Heinemann 2010, S. 163; Riedel 2015, S. 57). Dagegen sind Ärzt:innen kaum präsent, so dass Pflegende oft weder die Möglichkeit noch die Zeit zur Abstimmung und zum kritischen Hinterfragen der medizinischen Maßnahmen haben (Heinemann 2010, S. 173). Ärzt:innen nehmen selten an Ethik-Fallberatungen teil (Sauer 2015). Mitunter gibt es mehrere betreuende Ärzt:innen (Hausärzt:in und Fachärzt:innen) mit oft mangelhafter Abstimmung untereinander (Bockenheimer-Lucius und May 2007), und teils wird das langjährige Vertrauensverhältnis zur Hausärzt:in durch einen (oft von der Einrichtung initiierten) Arztwechsel beim Einzug zerstört (Bockenheimer-Lucius 2007).

Strukturelle Besonderheiten des Einrichtungstyps

Der Einrichtungstyp ist auf einen dauerhaften Aufenthalt angelegt: Dort liegt der Lebensmittelpunkt der Bewohner:innen, und sie verbringen dort dauerhaft den größten Teil ihrer Zeit (Bockenheimer-Lucius 2007, 2015, S. 21). Begrenzungen und Zwänge durch die Einrichtung müssen sie dauerhaft hinnehmen und ertragen. Sie sind Teil einer Wohn- und Lebensgemeinschaft, deren Alltag auf einem begrenzten, oft sehr engen Raum und in lauter Umgebung stattfindet und Rücksichtnahme auf (zunächst) fremde Menschen erfordert (Bockenheimer-Lucius 2007; Heinemann 2010, S. 163). Eine Vielzahl rechtlicher und fachlicher Vorgaben, z. B. des medizinischen Dienstes oder Expertenstandards für die Pflege, müssen erfüllt werden (Heinemann 2010, S. 164; Sauer et al. 2012, S. 163; Riedel 2015, S. 45). Dazu kommen Leitbild und Wertesystem der Einrichtung selbst (Schlögl-Flierl und Schneider 2021, S. 250). Zugleich müssen komplexe medizinische, pflegerische und therapeutische Abläufe gelingen (Bockenheimer-Lucius 2015, S. 20). Dies führt zu einem „durchgetakteten“ Tagesablauf mit einer dem reibungslosen Ablauf dienender Ausrichtung auf Funktionalität (Riedel 2015, S. 58). Die Erfordernisse der Versorgung und der Alltagsorganisation bedingen die Ausübung von Kontrolle und Überwachung, wenn es beispielsweise um die Beurteilung der Trinkmenge, nächtliche Rundgänge oder die Verwaltung des Barbetrages geht (Bockenheimer-Lucius und May 2007; Sauer et al. 2012, S. 159). Beobachtung und Bewertung durch Mitarbeitende sind notwendig, um adäquate Versorgung leisten zu können. Diese Beobachtungen der Mitarbeitenden werden dokumentiert und damit teil-öffentlich (Sauer et al. 2012, S. 160). Gleiches gilt auch für die Biographiearbeit oder im Rahmen von Advance Care Planning (Gesundheitliche Versorgungsplanung nach § 132g Sozialgesetzbuch (SGB) V) bekannt gewordene sehr intime Details (Sauer 2018, S. 129; Schlögl-Flierl und Schneider 2021, S. 244–245): einerseits Grundlage guter Versorgung, andererseits höchst private Information, so dass hier Vertraulichkeit eine wichtige Rolle spielt (Sauer et al. 2012, S. 159). Die Angewiesenheit der Bewohner:innen auf die Einrichtung schafft ein Machtgefälle (Heinemann 2010, S. 162; Bockenheimer-Lucius 2015, S. 23), welches die Abhängigkeit der Bewohner:innen weiter akzentuiert. Die Einrichtung ist gleichzeitig Zuhause für die Bewohner:innen und professioneller Betrieb und ist somit eine „Zwitter-Institution“ (Schlögl-Flierl und Schneider 2021, S. 255). Die Institution selbst ist in die Rahmenbedingungen der Makro-Ebene (Organisation des Gesundheitswesens) eingebettet, und das professionelle Handeln steht möglicherweise durch Einschränkungen wie Ressourcenknappheit, Personalmangel, Zeitnot oder ökonomische Vorgaben unter Druck (vgl. dazu Schiller 2022; Wöhlke und Riedel 2023). Die architektonische Gestaltung ist an Abläufe und Versorgungsaufgaben angepasst, sowohl in Gemeinschaftsräumen als auch in den privaten Räumen mit ihrer funktionalen Einrichtung. Das Lebensumfeld der Bewohner:innen ist vom Zusammenleben mit den Mitbewohner:innen geprägt, spielt sich doch ein großer Teil ihres Lebens in Gemeinschaftsräumen, also in der Öffentlichkeit ab (Bockenheimer-Lucius 2007).

Spezifische ethische Fragestellungen

Aus den oben dargestellten Rahmenbedingungen ergeben sich spezifische normative Spannungsverhältnisse. Im Folgenden werden die in den Berichten von Ethikberatungsgremien dargestellten (Heinemann 2010; Bockenheimer-Lucius 2015; Haas 2015; Kreft et al. 2015; Riedel 2015; Sauer 2015, 2018; Scholz 2015; Simon 2015; Baumann-Hölzle et al. 2018; Seifart et al. 2018, 2020; Thiersch et al. 2019; Schlögl-Flierl und Schneider 2021; Schiller 2022) Themenbereiche verschiedenen Spannungsfeldern zugeordnet:

  • Im Spannungsfeld institutionelle Bedingungen der Gemeinschaft/Selbstbestimmung der Bewohner:innen werden Fragen der Begrenztheit der Autonomie des Einzelnen durch die Autonomie der Anderen, der Alltagsgestaltung und des Zusammenlebens und des Lebensstils beraten.

  • Im Spannungsfeld Fürsorge/Selbstbestimmung wird abgewogen, inwieweit die Einschränkung selbstbestimmten Entscheidens und Handelns durch fürsorgemotiviertes professionelles Handeln und institutionelle Vorgaben zulässig sein kann, z. B. bei fehlender Therapieadhärenz und Selbstvernachlässigung oder beim Umgang mit gesundheitsschädlichem Verhalten und Sucht. Auch wird über Beratungen zum Umgang mit „schwierigen“ und „herausfordernden“ Bewohner:innen berichtet. Wieviel „Regulierung“ durch die Organisation Bewohner:innen im Namen ihrer eigenen Sicherheit und der aller Mitbewohner:innen möglicherweise akzeptieren müssen, wird anhand des Themenkomplexes freiheitsentziehende Maßnahmen besprochen.

  • Im Spannungsfeld Professionalität/Grenzen professionellen Handelns werden Fragen zu (subtiler) Gewalt (vgl. Filbert 2018) von oder gegen Bewohner:innen aufgeworfen. Weiterhin wird Sexualität als Frage der „Zulässigkeit“ von Sexualität überhaupt und bei Übergriffigkeit von und gegen Bewohner:innen die Verpflichtung der Einrichtung zum Schutz Betroffener diskutiert.

  • Im Spannungsfeld therapeutischer Anspruch/Wille der Person wird darüber gesprochen, ob Ziele und Durchführung der Versorgung im medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Bereich den Zielen, Werten und Wünschen der Bewohner:in entsprechen. Im medizinischen Bereich kommen Fragen der Therapiezieländerung oder Therapiebegrenzung bei langjähriger Behandlung chronischer Erkrankungen oder langsam fortschreitendem Funktionsverlust (antibiotische Therapie, Infusionstherapie, Ernährung, Dialyse, Langzeit-Beatmung etc.), der maßvollen Therapie zur Vermeidung von Über- aber auch Untertherapie, nach lebensverlängernden Therapiemaßnahmen, (wiederkehrenden) Klinikeinweisungen, Schmerztherapie und dem Einsatz von Psychopharmaka zur Sprache. Bei kognitiven Einschränkungen der Bewohner:innen muss ggf. der mutmaßliche Wille ermittelt werden. Fragen zum Umgang mit und Konflikte bei der Umsetzung von Patientenverfügungen sind häufige Themen in den Berichten.

  • Das Spannungsfeld Verpflichtung zum Lebenserhalt/Ende des Lebens umfasst Fragen des Umgangs mit Sterbewünschen, rechtliche Unsicherheiten zur Sterbehilfe/-begleitung sowie die Etablierung einer Abschieds‑, Palliativ- und Hospizkultur.

  • Organisationsethische Fragen werden in einigen Berichten ohne Spezifizierung genannt.

Privatheit als Schlüsselbegriff für die Ethik-Fallberatung im außerklinischen Setting

Als Schlüsselbegriff zum Verständnis der normativen Spannungen in der stationären Altenpflege greift Privatheit zahlreiche der dargestellten Faktoren auf und soll im Folgenden ausgeführt werden.

Privatheit wird im Allgemeinen als Bestandteil eines nicht auf Körperlichkeit reduzierten Begriffs der Lebensqualität verstanden (z. B. Linde 2022). Privatheit kann deskriptiv als Sphäre bezeichnet werden, die dem physischen oder kognitiven Zugang Dritter unzugänglich ist (Geuss et al. 2013, S. 107), und evaluativ als ein schützenswertes Gut, dessen Schutz einem entsprechenden Bedürfnis entgegenkommt. Autonomie und Privatheit sind wichtige Werte, was sich u. a. in Rechtsnormen zeigt (vgl. Artikel 13 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 7 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Artikel 8 Europäische Menschenrechtskonvention oder Artikel 3 Charta der hilfe- und pflegebedürftigen Menschen). Wie weit Bedürfnisse des Einzelnen gehen und wie die Sphäre der Privatheit jeweils ausgestaltet werden soll, unterliegt hingegen einer großen Varianz.

Dimensionen der Privatheit

Rössler begreift Privatheit als Ermöglichungsbedingung für autonomes Handeln und Leben, d. h. es bedarf eines physischen oder metaphorischen Raums, so dass das moralische Recht auf Selbstbestimmung überhaupt erst zur Entfaltung kommen kann. Sie unterscheidet drei Aspekte der Privatheit (Rössler 2001, S. 25 f.): den Aspekt des Raums (lokale Privatheit), den Aspekt der Handlungs- und Verhaltensweisen (dezisionale Privatheit) und den Aspekt des Wissens (informationelle Privatheit). Alle drei Aspekte können unmittelbar auf die hier angestellten Überlegungen angewendet werden:

  • Lokale Privatheit: Hierbei geht es um den physischen Raum, der nicht nur Rückzugsort ist, sondern über die spezifische Anordnung von persönlichen Gegenständen (Möbel, persönliche Gebrauchsgegenstände, Erinnerungsgegenstände etc.) gewissermaßen auch als räumlich-materieller Ausdruck der Identität zu betrachten ist. Ein solcher Raum hat grundlegende, identitätsstützende Bedeutung für Personen und ist durch die strukturellen Bedingungen einer stationären Einrichtung als besonders fragil einzuschätzen.

  • Dezisionale Privatheit: Der Begriff beschreibt einen metaphorischen Schutzraum für persönliche Entscheidungen. Er ist nicht als Synonym für das moralische Recht auf Selbstbestimmung zu verstehen. Es geht darum, dass bestimmte (für Dritte folgenlose) Entscheidungen, Handlungen, Verhaltens- und Lebensweisen nicht (ungefragt) kommentiert, interpretiert, kritisiert oder anderweitig eingeschränkt werden dürfen. Auf die Realität einer Pflegeeinrichtung bezogen bedeutet dies: Die (formale) Möglichkeit beispielsweise in therapeutisch-pflegerische Maßnahmen einzuwilligen, gehört nach einem den kognitiven Fähigkeiten und dem Informationsbedarf der Person angepassten Aufklärungsprozess zu den selbstverständlichen Rechten von Bewohner:innen im Sinne von shared decision making. Entscheidend ist dabei aber, dass dies unbehelligt durch Meinungen, Beurteilungen oder ggf. sogar soziale Sanktionen durch andere Personen geschieht, insbesondere dann, wenn es nicht um Leben und Tod geht (Therapiezieländerungen), sondern „nur“ um scheinbar weniger relevante Entscheidungen des täglichen Lebens.

  • Informationelle Privatheit: In juristischen Diskussionen findet sich auch die Bezeichnung informationelle Selbstbestimmung. Diese ist unter dem Begriff der Schweigepflicht insbesondere in § 203 Strafgesetzbuch (StGB) für Berufe im Gesundheitswesen rechtlich normiert. Der Schutz persönlicher Informationen ist auch beim Einsatz von Tracking‑, Monitoring- und Assistenztechnologien relevant (vgl. Brukamp 2022). Routinen in der Altenpflege wie ggf. das unreflektierte bzw. unregulierte Erheben von Daten (etwa in semiprivaten oder informellen Kommunikationssituationen) zum Zwecke der Biographiearbeit (Sauer et al. 2014) müssen ebenso überprüft werden wie das systematische Beobachten des Verhaltens von Bewohner:innen in Gemeinschaftsräumen (vgl. Sauer 2018, S. 127), die architektonisch so gestaltet sind, dass sie für das Personal von verschiedenen Seiten einsehbar sind.

Rösslers Ausdifferenzierung zeigt zweierlei: zum einen, dass Privatheit ein komplexer Begriff mit einem deskriptiven und einem evaluativen Anteil und drei praktischen Dimensionen ist. Zum anderen macht er das unhintergehbare normative Spannungsverhältnis in der stationären Altenpflege besser verständlich. Dieses besteht in dem Anspruch, gleichzeitig ein Zuhause und eine versorgende Institution zu sein, so dass dort Privatheit grundsätzlich und aufgrund der sich häufig immer weiter reduzierenden Fähigkeiten der Bewohner:innen in zunehmenden Maß bedroht ist.

Wie stark der Einfluss der Institution auf das (private) Leben von Bewohner:innen sein kann, zeigt sich an den seit Jahren immer wieder aufkommenden Diskussionen um den von Goffman (Goffman 1973) geprägten Begriff der totalen Institution (Heinzelmann 2004; Bockenheimer-Lucius et al. 2012, S. 229–239; Urban 2020; Schlögl-Flierl und Schneider 2021, S. 40 ff.). Auch in modernen Pflegeeinrichtungen lassen sich „totalisierende“ Effekte nur schwer ausschließen.

Anforderungen an ein Strukturinstrument für die Ethik-Fallberatung in Einrichtungen der stationären Altenpflege

Für eine kompetente Ethik-Fallberatung gelten unabhängig vom Anwendungssetting die gleichen Grundbedingungen (Perspektivenvielfalt, Multiprofessionalität, Herrschaftsfreiheit). Ein Strukturinstrument muss die spezifischen normativen Spannungen und ethischen Fragen der Anwendungssituation berücksichtigen. Aus den oben dargestellten Rahmenbedingungen für Ethik-Fallberatungen in der Altenpflege lassen sich folgende Anforderungen an ein Strukturinstrument für dieses Setting ableiten:

  • Prozess- und Teilnehmerorientierung: Das Vorgehen nach dem Prozessmodell ermöglicht den Diskurs mit allen Beteiligten (Neuhäuser et al. 2023, S. 687). Damit können die an dem Fall beteiligten Personen als Informationsquellen, aber auch als Reflexionsraum einbezogen werden. Um allen gleichberechtigt die aktive Beteiligung zu ermöglichen, muss die Beratung teilnehmerorientiert sein. Die gemeinsame Ergebnisfindung erhöht die Umsetzungsbereitschaft und berücksichtigt, dass die Ethik-Fallberatung Auswirkungen auf die langfristige Beziehungsgestaltung haben kann (Riedel 2015, S. 58).

  • Perspektivenvielfalt: Die für die Ethik-Fallberatung relevanten Fakten und Informationen sollen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden (Baumann-Hölzle et al. 2018, S. 35). Dadurch kann erstens Informationsgleichheit unter den Teilnehmenden hergestellt und zweitens ein besseres Verständnis einzelner Informationen erreicht werden. Insbesondere bei Fragen, welche die Lebensführung und Privatheit betreffen, kann hier durch Offenheit für alle Perspektiven die ethische Problemlage erst verstanden werden.

  • Kontextsensibilität und -spezifität: Kennt die Moderator:in die institutionellen Rahmenbedingungen und stellt den Bezug zum Beratungskontext her, kann sie die Wahrnehmung der Rahmenbedingungen in der Ethik-Fallberatung und damit das Sichtbarwerden von ethischen Konflikten fördern (Bockenheimer-Lucius 2015, S. 31).

  • Ansatzvarianz (Baumann-Hölzle et al. 2018, S. 35): Die Gleichrangigkeit aller Positionen ermöglicht den Perspektivwechsel durch das Kennenlernen der Vielfalt an persönlichen (Wert)vorstellungen und (professionellen) Haltungen. In der Altenpflege sind häufig An- und Zugehörige beteiligt, denen die Gleichrangigkeit auch ihrer Werte und Haltungen vermittelt werden muss. Hier besteht die Gefahr, dass An- und Zugehörige ihre Positionen hinter die der Professionellen stellen.

  • Zulassen narrativer Elemente und Raum für Emotionen: Moralische Intuitionen, die in Narrative einbettet sind, können dadurch zugänglich gemacht werden (Steinkamp und Gordijn 2003). Sie bringen Aspekte des „gelebten Lebens“ zur Sprache, die für ein gemeinsames Verständnis essentiell sind (Schuchter und Heller 2018, S. 59). Somit ermöglichen sie eine erste Annäherung an das Problem, das dann im weiteren Verlauf der Ethik-Fallberatung argumentativ bearbeitet werden kann.

  • Förderung eines graduellen Abwägens zusätzlich zur dichotomen Entscheidungslogik klinischer Fragen (Sauer 2018, S. 132): Die Zielsetzung der Ethik-Fallberatung richtet sich neben der Lösung eines (medizinischen, pflegerischen, therapeutischen) Dilemmas an der Gestaltung des täglichen Lebens aus (Schuchter und Heller 2018). Es geht also vorrangig um das Ausbalancieren moralischer Verpflichtungen und das Finden von Wegen zu einem guten Leben.

EMMA: Ethik Multiprofessionell Methodisch Anwenden

Das Strukturinstrument EMMA ist als Instrument zur Moderationsunterstützung für Phase 2 der Ethik-Fallberatung konzipiert, mit dem die Lebenswirklichkeit Altenheim möglichst differenziert adressiert werden kann. Im Zuge der Überarbeitung wurden Erfahrungen aus dem Einsatz in Ethik-Fallberatungen und Moderationstrainings für Ethikberater:innen analysiert. EMMA wurde durch das Einfügen des Themenfeldes Therapeutische Aspekte strukturell angepasst und die Unterpunkte begrifflich geschärft und neu angeordnet.

Anwendung von EMMA

In der Vorbereitung (Phase 1 einer Ethik-Fallberatung) wird sorgfältig erwogen, welche Personen an der Beratung teilnehmen. Die Phase 2 (moderierter Diskurs) beginnt bei EMMA (siehe Abb. 1) mit Schritt 1, welche eine Informationssammlung in den Themenfeldern (A) umfasst. Als Einstieg in die Beratung kann eine „intuitiv-emotionale Beschreibung der Problematik durch einen Teilnehmenden der ratsuchenden Gruppe“ (Sauer et al. 2012, S. 156) ermöglicht werden. Die Äußerungen der Teilnehmenden werden immer wieder einem der Themenfelder (A) zugeordnet. Da diese gleichberechtigt nebeneinanderstehen, kann die Moderator:in je nach konkreter Situation entscheiden, welche Themenfelder mit einer Impulsfrage eröffnet werden sollen.

Abb. 1
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Das Strukturinstrument EMMA (Ethik Multiprofessionell Methodisch Anwenden) 2023 für den moderierten Diskurs (Phase 2) einer Ethik-Fallberatung. Die drei Schritte der Beratung sind mit Großbuchstaben gekennzeichnet: (A) Zunächst werden die für die Situation relevanten Informationen in den für diese Anfrage wesentlichen Themenfeldern zusammengetragen, (B) im zweiten Schritt werden ethische und rechtliche Fragen abgewogen, (C) um daraus im dritten Schritt ein Beratungsergebnis zu entwickeln

Im zweiten Schritt (B) des moderierten Diskurses werden die gesammelten Aspekte zusammengeführt und einer ethischen und rechtlichen Abwägung unterzogen. Welche Optionen stehen überhaupt zur Verfügung? Wird eine Spannung zwischen ethischen Prinzipien sichtbar? Können aus den in (A) möglicherweise aufgekommenen Emotionen Erkenntnisse über dahinter verborgene Wertvorstellungen oder ethische Konflikte herausgearbeitet werden? EMMA lässt offen, welche Prinzipien wie beispielsweise Würde, Verantwortung und Dialog (Rabe 2017) zur Abwägung herangezogen werden, und öffnet damit einen Raum über die häufig abschließend betrachteten vier Prinzipien nach Beauchamp und Childress (2019) hinaus. Der Abgleich mit spezifischen Wertvorgaben der Einrichtung kann in diesem Schritt wegweisend sein.

Im letzten Schritt bewegt sich der Gesprächsverlauf zum Beratungsergebnis (C). Sollten die Therapie- und Pflegeziele revidiert werden? Stehen die Ziele im Einklang mit dem, was die Person möchte? Ist das bisherige Vorgehen adäquat, oder hat sich die Situation geändert? Sind die regulativen Eingriffe in die Privatheit angemessen? Der moderierte Diskurs endet mit der Formulierung des gemeinsam getragenen Beratungsergebnisses, und die Moderator:in fokussiert dabei eventuelle unterschiedlichen Aufgaben für das konkrete weitere Vorgehen.

Erfüllt EMMA die Anforderungen an ein Strukturinstrument in der stationären Altenpflege?

EMMA ist für den Einsatz in der Ethik-Fallberatung nach dem Prozessmodell vorgesehen, bei dem alle Beteiligten diskursiv die relevanten Informationen sammeln, reflektieren und ethisch abwägen und zu einem gemeinsamen Ergebnis zusammenführen. In der Informationserhebung gibt es keine vorgegebene Reihenfolge der Themenfelder. Dies ermöglicht Teilnehmerorientierung einerseits dadurch, dass die Moderator:in die von den Teilnehmenden angesprochenen Themenfelder aufgreifen kann. Andererseits können sich alle Teilnehmenden niedrigschwellig beteiligen, da keine Hierarchie zwischen den Themenfeldern oder Personengruppen suggeriert wird. Es entsteht Offenheit für Werte und Einstellung aller beteiligten Personen. Der Einstieg über ein narratives Element (die „intuitiv-emotionale Beschreibung der Situation“) holt diejenigen aktiv in die Beratung, die sich sonst möglicherweise zurückhalten würden.

EMMA enthält zwei Themenfelder, welche die vier üblichen Themenfelder Medizin, Pflege, Wille und psychosozial-kulturelle Aspekte sinnvoll ergänzen: Aspekte der Privatheit und des Lebensstils und Therapeutische Aspekte. Letzteres wurde im Zuge der Überarbeitung eingefügt. So wird die Perspektive von Gesundheitsfachberufen (wie Physio- und Ergotherapie, Logopädie), Psychotherapie und Pädagogik (z. B. Heilerziehungspflege) aktiv aufgegriffen. Dies trägt nicht nur der besonderen Beziehung auch dieser Berufsgruppen zu den Bewohner:innen Rechnung, sondern der auch der Tatsache, dass diese Berufsgruppen aktuell eigene Berufsethiken ausdifferenzieren (Schiller 2022). Das Themenfeld Privatheit greift die spezifischen normativen Fragestellungen auf, die sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen institutioneller Regulation und Privatheit ergeben. So stellt EMMA Kontextsensibilität und -spezifität her.

Die Nennung von Unterpunkten ohne vorgegebene Reihenfolge lässt Raum für Narration und freien Sprachfluss der Beteiligten und ermöglicht Partizipation. Die Wahrnehmung der involvierten Personen prägt die Beratung, ohne dass das professionsspezifische Expertenwissen die Diskussion dominiert. Die einzelnen Unterpunkte erfassen das gesamte Spektrum möglicherweise relevanter Themen sowohl für die Alltagsgestaltung als auch für die medizinisch-pflegerisch-therapeutische Versorgung und stellen somit die gesamte Lebenswirklichkeit der Bewohner:innen dar.

In der Ergebnisfindung lässt EMMA der beratenden Gruppe Freiheit und fördert graduelles Abwägen. So erfüllt EMMA die oben postulierten Forderungen an eine Ethik-Fallberatung im Setting der stationären Altenpflege.

Fazit und Anwendungsperspektiven

In Einrichtungen der Altenpflege gibt es ein breites Spektrum möglicher normativer Fragestellungen. Neben der im klinischen Kontext häufigen Frage des Unterlassens oder der Durchführung von medizinischen Maßnahmen können Problemstellungen aus der Lebenswelt eines Altenpflegeheims besprochen werden. Die Bearbeitung in einer Ethik-Fallberatung setzt voraus, dass die Ethikberater:innen neben der Ethik-Kompetenz über Kenntnis der Rahmenbedingungen und ein Bewusstsein für derlei spezifische Fragestellungen verfügen. EMMA kann als Strukturinstrument in der Moderation von Ethik-Fallberatungen genau dabei unterstützen.

In den letzten Jahren nimmt die Professionalisierung der außerklinischen Ethikberatung zu. Die Überarbeitung von EMMA ist einerseits Ausdruck dessen, kann aber durch den Einsatz diese Professionalisierung weiter vorantreiben. Eine wissenschaftliche Evaluation in der Anwendung wäre sicherlich hilfreich.

Durch die Überarbeitung wurde EMMA so angepasst, dass das Strukturinstrument in der Ethik-Fallberatung in einer Vielzahl anderer Einrichtungen, die ähnliche Rahmenbedingungen aufweisen, eingesetzt werden kann: besondere Wohnformen der Eingliederungshilfe, Hospize, Einrichtungen der außerklinischen Intensivpflege, ambulante Pflege zu Hause oder in Pflege-Wohngemeinschaften. Dies betrifft alle Situationen, in denen Menschen an ihrem Wohnort unterstützt und versorgt werden. Voraussetzung für eine verantwortungsvolle Ethik-Fallberatung ist allerdings immer die Auseinandersetzung der Moderator:innen mit diesen spezifischen Strukturen.