Kreuzberger Chronik: Pepito oder Pepita - Sie lesen das Original! aus Berlin-Kreuzberg
Kreuzberger Chronik
Oktober 2023 - Ausgabe 253

Geschäfte

Pepito oder Pepita


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von Ina Winkler

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Little Italy




Die zwei kleinen Läden in den alten und kaum renovierten Häusern am Wassertorplatz ziehen unweigerlich die Blicke der Passanten auf sich. Hier sieht alles noch ein bisschen anders aus, hier hat sich noch kein Jungunternehmer aus Barcelona oder London in eine »Althausperle« eingemietet, um seine moderne Geschäftsauslage zwischen bröckelnde und besprayte Gründerzeitfassaden zu platzieren. In anderen Gegenden Berlins wäre hier jetzt das hell beleuchtete Schaufenster eines Designerschuhgeschäftes oder eines exklusiven Weinladens zu sehen, aber die Lädchen am Wassertorplatz fügen sich so harmonisch in die Berliner Besetzerzeit-Fassade ein, dass sie beinahe unsichtbar sind.

So unsichtbar wie die vielleicht vor fünfzehn oder zwanzig Jahren zum letzten Mal braun lackierte und heute komplett mit buntem Graffiti übersprühte Haustür, die sie flankieren. Die Schriften der jugendlichen Fassadensprayer scheinen sich auch auf der Tafel an der Wand neben der Tür wiederzufinden, wo ebenso bunt und vielfarbig ein Mittagstisch mit Pasta Fresca, Gnocchi und Ravioli angekündigt wird. Und es ist gerade Mittag!

Doch ein erster Blick durch die Scheibe irritiert: Da sind weder Tische noch Stühle, da ist kein Gastraum, kein Tresen, kein Bild einer Küstenlandschaft an der Wand, keine mit tiefem Ausschnitt über die Spaghetti gebeugte Sophia Loren.

Stattdessen stehen dort eine Wurstschneidemaschine und eine Waage. Ein Blick in die Auslage rechts neben der Tür bestätigt: Hier gibt es keinen italienischen Mittagstisch, sondern italienische Lebensmittel oder italienisches Küchenzubehör. Da stehen in allen Größen die unsterblichen sechseckigen Espressokocher, da warten emaillierte Kochtöpfe und langstielige Kasserollen auf Feuer, da hängen Nudelsiebe und Kochlöffel griffbereit und dekorativ an der Wand.

Die Rahmen des Schaufensters hat die Besitzerin – es kann sich nur um eine Besitzerin handeln! Kein männlicher Besitzer würde derart verspielt und so wenig ernsthaft an die Gestaltung seines Schaufensters herangehen! – nicht etwa weiß oder blau, sondern abwechselnd in Rot, Gelb, Grün und Violett angepinselt hat. Ebenso die Eisenträger des Glasdaches, das sich vor langer Zeit vielleicht einmal weit über das Straßenpflaster am Wassertorplatz hinauswagte, um die Kundschaft eines Fischhändlers vor dem Regen zu schützen, die an den tropfenden Holzkisten mit Eis und Heringen oder Karpfen vorüberflanierten.

Im zweiten Schaufenster stehen der unerlässliche Limoncello und der Kaffee von Mehari mit der 60er-Jahre-Zeichnung eines gefiederten und von Kolonialisten ausgebeuteten Indianerjungen auf der Vorderseite und eines Kaffeefrachters auf der Rückseite.

Alles zusammen genommen muss der Betrachter der Schaufenster zu dem Schluss kommen, dass es sich leider nicht um keine Trattoria mit Mittagstisch handelt, sondern einen Laden, der den Namen »Little Italy« tragen könnte. In allen Hafengegenden dieser Welt gibt es Auswandererviertel wie Little Italy, Little China, Little England… . Doch ganz oben, über all den unerlässlichen Zutaten des italienischen Lebens, hängt ein hölzernes Namensschild. Darauf steht Pepito. Und Pepito ist ein südamerikanisches Sandwich. Handelt es sich eventuell doch um einen südamerikanischen Imbiss?

Die Tür öffnet sich, ein Mann tritt ein. »Ich hätte gern ein Pepito!« - »Ein Pepito? Was ist das?«, fragt die Frau hinter der Theke. »Ein Sandwich. Ihr Laden heißt doch Pepito.« - »Mein Laden heißt Pepita!«, sagt die Frau streng. »Ich hätte schwören können, da draußen steht...« Dann entscheidet er sich für Gnocchi mit Salbeipesto und steigt eine winzige Wendeltreppe hinauf. Und da stehen tatsächlich Tische.

Denn der winzige Laden beim ehemaligen Hafenbecken ist so hoch wie lang, also mindestens vier Meter hoch! Und diese vier Meter hat der Buchladenbesitzer, der vor Pepita hier war, genutzt, um in luftiger Höhe eine begehbare Galerie mit Bücherregalen zu installieren, die einmal ringsum führt und in deren Mitte sich eine schmale Brücke auf die andere Seite schwingt, damit der Leser auf der Suche nach Tolstoi oder Beckett nicht die gesamte Bibliothek umrunden muss. Als letzte Reminiszenz hängen drei schmale Bücherborde an der Wand.

Ansonsten stehen auf der schmalen Balustrade sechs Tische mit rotkarierten Tischdecken, an denen Einheimische und Touristen sitzen und wie von der Theaterloge aus durch das offene Viereck in der Mitte neugierig auf die kleine italienische Welt hinabschauen: Auf die vielen hübschen Verpackungen mit Keksen und Pasta und Polenta, die bunten Konservendosen mit Fisch und Artischocken, die Tütchen mit Gewürzen und Kräutern, die Gläschen mit Oliven und Pesto, die Fläschchen mit Öl und Wein, denn ohne Wein kann Italien nicht sein.

Die Touristen oben kichern, wenn der zwei Meter lange Basketballer unter ihnen sich den Kopf am Zwischenboden stößt, und die Einheimischen verdrehen die Augen, wenn Amerikanerinnen in Entzücken ausbrechen: »Thats magic! How beautiful! Amazing!«

»Hat es Ihnen geschmeckt?« - »Ja, es war phantastisch! Sie müssen Italien lieben! Kommen Sie von dort?« - »Ja, ich bin gerade da gewesen. Im Urlaub. Aber ich wäre gern länger geblieben!«

»Sie heißen bestimmt Pepita?« - Dieser Gast ist entschieden zu neugierig. Sie schweigt, aber draußen vor der Tür dreht der Gast sich noch einmal um und nickt: Ganz am rechten Rand der Holztafel ist tatsächlich noch ein schmaler Balken am vermeintlichen »o«.




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