Eingeha(r)kt: Jörg van Nordens Spaten als materiell-diskursive Assemblage. Zu Jörg van Nordens „Verlust der Vergangenheit“ – Geschichtstheorie am Werk

Eingeha(r)kt: Jörg van Nordens Spaten als materiell-diskursive Assemblage. Zu Jörg van Nordens „Verlust der Vergangenheit“

Wall in Melon Ground, Lacock Abbey, William Henry Fox Talbot, 1840, Salzdruck nach dem Negativ einer fotogenischen Zeichnung, J. Paul Getty Museum; gemeinfrei (https://www.getty.edu/art/collection/object/104JH7#full-artwork-details)

Der Titel sagt es bereits: Dieses Buch handelt vom Verlust. Jörg van Norden vertritt in „Verlust der Vergangenheit. Historische Erkenntnis und Materialität zwischen Wiedererkennen und Befremden“ die These, dass der Zugang zur „Vergangenheit“ denjenigen, die sich damit befassen wollen, speziell Historiker*innen, verlustig geht. Dieser Zugang – und damit historische Erkenntnis an sich – ist nicht einfach so zu haben, sondern muss zunächst hergestellt werden. Eine Möglichkeit der Herstellung dieses Zugangs bieten für van Norden Dinge, Gegenstände und Artefakte, die vermittels ihrer Dinglichkeit und Materialität nach einer spielerischen Auseinandersetzung verlangen. Sie machen die Vergangenheit buchstäblich be-greifbar und werden damit zu Medien derselben. Als solche Medien schreiben sie sich allerdings selbst in die Übertragung ein und unterliegen besonderen Umständen und Be-dingungen.

Wie der Untertitel verrät, setzt van Norden ein Wiedererkennen der Gegenstände gepaart mit einem Befremden für die historische Erkenntnis voraus.1 Das Wiedererkennen ist notwendig, um überhaupt einen historischen Erkenntnisprozess in Gang zu setzen: Was nicht erkannt werden kann, kann auch nicht sinnvoll in größere Kontexte eingebunden werden. Das Befremden ist hingegen notwendig, um den Gegenstand als historischen Gegenstand erkenntlich zu machen, es markiert den epistemischen Abstand zwischen dem Ding und der (er)forschenden Person. Wo man, so van Norden, kein Befremden empfindet, ist der Gegenstand zu nahe, um historisch zu sein. In einer Formulierung, die fast schon dekonstruktivistisch anmutet, verschränkt van Norden Wiedererkennen und Befremden miteinander: „Befremden und Wiedererkennen sind insofern aufeinander angewiesen, als erst das Befremden, die Störung, deutlich macht, was ich an dem betreffenden Ding wiedererkenne. […] Befremdliches widersetzt sich den Routinen und macht sie erst sichtbar.“2 Mit diesem Zitat aktiviert van Norden gängige Topoi medienwissenschaftlicher Forschung und Studien zur Infrastruktur, wie erst kürzlich von Gabriele Schabacher formuliert: „Sind im ungestörten Zustand alle für das Funktionieren einer Infrastruktur notwendigen Akteure unter großem Kosten- und Arbeitsaufwand an einem Ziel orientiert und funktionieren im Sinne wohlausgerichteter Intermediäre, bricht dieses alignment im Moment der Störung auf: Die beteiligten Entitäten zeigen sich nun als Mediatoren, die das Geschehen aktiv transformieren und ihren eigenen Richtungen folgen.“3

Als eingängiges Beispiel verwendet van Norden einen Spaten, der sich in seiner Familie befunden hat, um seine Theorie von den Begriffen „Zuhandenheit“ und „Vorhandenheit“ des Philosophen Martin Heideggers zu erklären. Mit der Zuhandenheit der Dinge bezeichnet van Norden im Anschluss an Heidegger ihre Verfügbarkeit in alltäglicher Praxis, also der Spaten, der „mir“ gute Dienste leistet, indem er für einen spezifischen Zweck, für den er hergestellt wurde, funktioniert: in diesem Fall, um Erde umzugraben. Wenn die Dinge zuhanden sind, sind sie für van Norden dezidiert ahistorisch, sie haben keine Geschichte bzw. ist ihre Geschichte für mich als Benutzer*in im Moment des Gebrauches irrelevant. Wenn ich das Beet umgrabe, so van Norden, muss ich nicht wissen, in welchem Jahr beispielsweise der Spaten hergestellt wurde oder welche Prozesse der Herstellung, der Optimierung und der Normierungen in ihn eingeflossen sind.

Aber auch in diesem idealisierten Setting lässt die Störung nicht lange auf sich warten: Van Norden beschreibt den Moment, in dem der Spaten durch den jahrelangen Gebrauch an ebenjener Stelle auseinanderbricht, an der er zuvor aus (hölzernem) Stiel und (metallenem) Spatenblatt zusammengesetzt wurde. Dieser Bruch ist für van Norden nicht nur materieller, sondern auch epistemischer Natur, da der Spaten nun, seiner Zuhandenheit enthoben, für ihn vorhanden ist. Van Norden beschreibt daraufhin den Prozess, in dessen Verlauf er herausfindet, dass es sich bei diesem Spaten nicht um einen beliebigen Baumarktspaten handelt, sondern einen Reicharbeitsspaten, der offensichtlich von einem Onkel zur Zeit des Zweiten Weltkriegs entwendet wurde.4 Das Auseinanderbrechen des Spatens offenbart hier zweierlei: Zum einen macht es uns darauf aufmerksam, dass der Spaten auch vorher, wie bereits angedeutet, kein in sich selbst geschlossenes Objekt war, sondern uns bereits als materielles Gefüge entgegengetreten ist. Zusätzlich – und keineswegs abgetrennt davon – wird die „Vergangenheit“ des Spatens sichtbar und entfaltet eine Geschichte von Personen und Institutionen, von der Beteiligung deutscher Familien am Nationalsozialismus und nicht zuletzt auch von Hörigkeit und Devianz.

An dieser Stelle gilt es kritisch nachzufragen: Denn auch wenn man die These verfolgt, dass die Prozesse der Herstellung oder andere, die man historische nennen könnte, für den*die Benutzer*in im Moment der Verwendung nicht relevant sind, so formieren sie doch den Gegenstand, der zur Hand ist, und damit auch letzten Endes die Benutzer*innen. Länge, Größe und Gewicht des Spatens beeinflussen die Handhabung; ein normierter Gegenstand normiert die Körper, die mit ihm interagieren. Eine Person, die 1,50 m groß ist, wird anders mit dem Spaten agieren als eine Person, die 2,00 m groß ist, Körperschwerpunkt und die Kräfteverteilung sind anders gelagert. Einige Werkzeuge, der Spaten sei hier mal ausgenommen, schließen eine linkshändige Benutzung aus, von einer einhändigen Benutzung einmal ganz abgesehen. Das wäre auch im Sinne der von van Norden zugrunde gelegten Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT): Nicht nur die menschlichen Subjekte handeln mit den Dingen, sondern die Dinge handeln auch mit und durch die Subjekte. Deutlich wird dies an der von Bruno Latour und Michel Serres entwickelten Theorie des „Quasi-Objekts“.5 Quasi-Objekte „nehmen weder die für sie von der Verfassung vorgesehene Position von Dingen ein, noch die von Subjekten“.6 In dem von Latour und Serres häufig verwendeten Beispiel der wandernden Münze im Spiel „Taler, Taler du musst wandern“ wird die Bedeutung des Quasi-Objekts deutlich: Seine Handhabung verleiht der Person, die den Taler gerade in der Hand hält, einen privilegierten Status vor den anderen Mitgliedern der Runde. Die Person und der Taler bilden eine menschliche und nicht-menschliche Assemblage, die Bedeutung und sozialen Status generiert. Besonderes Augenmerk legen Latour und Serres darauf, dass diese Assemblage nicht von Dauer ist, sondern eingegangen und wieder aufgelöst werden kann. Es geht hier konkret nicht um die Stabilisierung von sozialen Verhältnissen, sondern um deren Volatilität und darüber hinaus das Zutun der Dinge an eben diesen Verhältnissen.

Darüber hinaus trägt die ANT – ebenso wie die von van Norden aufgerufenen Theorien des Neuen Materialismus – auch dem Umstand Rechnung, dass Handlungen und Praktiken, Objekte und Subjekte nicht allein einem puren Pragmatismus unterliegen, sondern meist eine komplizierte Gemengelage aus Symbolik und Materie aufweisen. Karen Barad nennt dies „materiell-diskursive Intraaktionen“7 und verweist damit auf die gegenseitige Einflussnahme von materiellen Qualitäten und diskursiven „Verzeichnungen“.8 Die historischen Dinge sind selbst in symbolische Formationen eingebunden, die sich nicht allein aus einer – im affirmativen Sinne – spielerischen Auseinandersetzung ergeben, sondern einer diskursiven Einhegung bedürfen.

Die angesprochenen Theorien der ANT oder des Neuen Materialismus gehen von einem offenen Begriff des Objekts oder Dings – und im Sinne der Symmetrie damit auch eines Subjekts – aus. Dies schließt ebenso Praktiken der kreativen Umnutzung, des Re- und Upcyclings, des Reparierens und Instandsetzens, kurz, der Bricolage oder Assemblage ein, die in van Nordens Überlegungen bislang kaum eine Rolle spielen. Zwischen dem Modus des Funktionierens und dem Modus des Kaputtseins, der „Störung“ in van Nordens Worten, existieren zumeist durchaus einige Abstufungen und auch das Objekt im Gebrauch ist nicht frei von materiellen Spuren des Gebrauchs und Zerfalls, man denke hierbei nur an Rost, Löcher, Flecken usw. Damit wären sie in ihrer Zuhandenheit auch bereits „verzeichnet“, um in der Terminologie des Buches zu bleiben, allerdings mit einer Zeichenform, die nicht menschlich und nicht intentional ist. Der zerbrochene Spaten, hier das Emblem des Erkenntnisprozesses, wird zu einem späteren Zeitpunkt von van Norden übrigens wieder in den Gebrauch überführt. Das verrostete Spatenblatt wird so zum historischen Artefakt, der „noch brauchbar[e]“9 Stiel wird mit einem anderen Blatt kombiniert und somit wieder zuhanden. Der spezifische Gebrauch dieses spezifischen Werkzeugs ist bei van Norden allerdings streng teleologisch und limitiert gedacht. So hat der Spaten, sowie jedes andere von van Norden aufgezählte Werkzeug, lediglich eine ihm zugedachte Funktion: Der Spaten gräbt, der Hammer hämmert, der Bohrer bohrt. Es wäre zu fragen, ob das an anderer Stelle so produktiv gemachte „Spiel“, im Sinne einer kreativen Aneignung und eines explorativen Gebrauchs, nicht auch auf Ebene des Objekts einen epistemischen Prozess zwischen Wiedererkennen und Befremden anstoßen könnte? Intra-Aktion also statt anthropozentrischem und einseitigem Gebrauch. Das von van Norden recycelte Objekt des neuen/alten Spatens verweist ja gerade darauf, wie viel komplizierter – und damit spannender – eine solche historische Assemblage sein könnte.



Dieser Blogbeitrag ist die überarbeitete Fassung des Kommentars, den die Autorin bei der Präsentation des Buches Verlust der Vergangenheit (Frankfurt a.M. 2022) von Jörg van Norden am 17. Januar 2024 im Zentrum für Theorien in der historischen Forschung (Universität Bielefeld) vorgestellt hat. Weitere Informationen finden Sie hier.


Maja-Lisa Müller ist Lehrkraft für besondere Aufgaben am Arbeitsbereich Historische Bildwissenschaft/Kunstgeschichte der Universität Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Verknüpfung von Bildlichkeit mit Materialitäts- und Medialitätsdiskursen sowie Bildern als epistemischen Objekten.


Creative Commons License
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Attribution-NonCommercial-ShareAlike 4.0 International License.

Cite this blog post
Maja-Lisa Müller (2024, May 14). Eingeha(r)kt: Jörg van Nordens Spaten als materiell-diskursive Assemblage. Zu Jörg van Nordens „Verlust der Vergangenheit“. Geschichtstheorie am Werk. Retrieved May 14, 2024, from https://gtw.hypotheses.org/27372

  1. Vgl. dazu auch Lisa Regazzoni: Die Vergangenheit darf an der Geschichte nicht verarmen. Zu Jörg van Nordens „Verlust der Vergangenheit“, in: Geschichtstheorie am Werk, 23.04.2024, DOI: https://doi.org/10.58079/w9ea (05.05.2024). []
  2. Jörg van Norden: Verlust der Vergangenheit. Historische Erkenntnis und Materialität zwischen Wiedererkennen und Befremden, Frankfurt a. M. 2022, S. 55. []
  3. Gabriele Schabacher: Infrastruktur-Arbeit, Berlin 2022, S. 150. []
  4. Van Norden: Verlust der Vergangenheit, S. 140-144. []
  5. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008; Michel Serres: Der Parasit, Frankfurt a. M., 1987. []
  6. Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 70. []
  7. Karen Barad: Verschränkungen, Berlin 2015, S. 130. []
  8. Van Norden, Verlust der Vergangenheit, passim. []
  9. Ebd., S. 143 []

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.

Search OpenEdition Search

You will be redirected to OpenEdition Search