Hochschule Konstanz: Wie könnte das Leben im Jahr 2054 aussehen? Wie könnte das Leben im Jahr 2054 aussehen? - HTWG
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Wie könnte das Leben im Jahr 2054 aussehen?

13.05.2024

Überwachter Verzicht, obligatorische körperliche Betüchtigung oder neue Wohnformen? Drei Architekturstudentinnen der HTWG wagen in ihrem preisgekrönten Entwurf „EXPERIMENTIER QUARTIERE“ einen Blick in die Zukunft.

Mit einer im Masterstudium Architektur an der HTWG entstandenen Projektarbeit haben die Studentinnen Nora Hippe, Selina S. Reinhardt und Lena Spengler am renommierten AIV Schinkelwettbewerb teilgenommen. Unter dem Motto „über:morgen“ haben sich die Architektinnen mit der Frage beschäftigt, wie der Berliner Stadtteil Spandau im Jahr 2054 aussehen könnte.

Ausgangspunkt der drei Architektinnen war folgender: Spandau in 30 Jahren. Es ist das Jahr 2054 und auf der Welt läuft es gerade nicht so gut. Dafür muss es einen Lösungsansatz geben, um die Stadt zukunftsfähig zu gestalten. In ihrem Entwurf steckt nicht nur Zukunftsvision, sondern auch ein bisschen Politikkritik, verraten die drei Architektinnen. „Aktuell läuft es häufig so: wir haben ein Problem, wir brauchen eine Sofortlösung. Die wird vielleicht kurz besprochen, aber eigentlich nie wirklich überprüft. Ein Beispiel: Man wollte vorschnell und unbedingt dämmen. Jetzt hat man Menschen mit Asbestvergiftung dasitzen, das Problem also nur verändert und vertagt, aber nicht gelöst.“

Hippe, Reinhardt und Spengler wählen einen anderen Ansatz. Bei ihnen gibt es keine vorschnellen Entscheidungen, sondern Spandau wird zum Experimentierquartier, zum Probierfeld, an dem Lösungen für die ganze Welt zunächst erprobt werden können.

In ihrem Entwurf haben die drei Studentinnen fünf Experimentierquartiere innerhalb des Stadtteils entworfen, in denen Formen des Zusammenlebens und –wirtschaftens erprobt werden. Für ihre Visionen zwischen Utopie und Dystopie haben Hippe, Reinhardt und Spengler im März 2024 den begehrten Schinkelpreis in der Kategorie Städtebau gewonnen.


Die Schinkelpreisträgerinnen Städtebau 2024 (v.l.r.): Selina S. Reinhardt, Nora Hippe, Lena Spengler

Um die Zukunftsvision eines Stadtteils entwickeln zu können, der rund 800 Kilometer vom Studienort entfernt ist, kamen zunächst digitale Werkzeuge zum Einsatz, erzählt Lena Spengler. Über Google Maps und Google Earth haben sich die Studentinnen unterschiedliche Gebiete in Berlin/Brandenburg angeschaut und dabei zwei Flächen favorisiert. Eine im ostberliner Stadtteil Köpenick, eine im westberliner Stadtteil Spandau. Das Rennen hat am Ende Spandau gemacht, ein Bezirk, der durch seine heterogene Struktur heraussticht. Hier befinden sich ein großes Industriegebiet, Kleingartensiedlungen, Plattenbauten, Einfamilienhaussiedlungen und Luxuslofts mit Zugang zur westlichen Havel. Nicht zuletzt bildet Spandau eines der Tore zwischen dem urbanen Berlin und dem ländlicheren Brandenburg. Spandaus Mischung macht den Bezirk interessant und inspirierend.

„Normalerweise sucht man sich für den Wettbewerb ein kleines Gebiet oder ein Grundstück mit ungefähr einem Kilometer auf einen Kilometer aus. Unsere Professoren Oliver Fritz und Leonhard Schenk hatten anfangs auch Bedenken, weil eine große Fläche natürlich auch viele Probleme aufweist. Aber uns hat das große Ganze interessiert, die verschiedenen Themen, an denen der Bezirk Spandau reibt sowie die unterschiedlichen Punkte mit ihren unterschiedlichen Architekturen und ökonomischen Typologien und Formen“, erklärt Selina Reinhardt. Nora Hippe ergänzt, „es ging uns darum, alle diese Bereiche einmal durchzubürsten, wie es Oliver Fritz einmal nannte.“


Der preisgekrönte Entwurf experimentiert mit dem Berliner Bezirk Spandau

„Für die unterschiedlichen Viertel in Spandau sind am Ende dann fünf Quartiere entstanden. Sowohl von der sozialen Herangehensweise also auch städtebaulich waren die Typologien sehr unterschiedlich“, sagt Lena Spengler. Die fünf Quartiere sind an den Bestand angelegt, das heißt, „wir haben geschaut, was gibt es da und wie kann man das vielleicht ins Extrem ziehen und optimieren“, erklärt Nora Hippe.

Das Optimierungsquartier

Wie kann man das Leben und die Stadt möglichst optimieren, das Leben leicht machen? Diese Frage war im sogenannten Optimierungsquartier zentral, das von sehr viel Struktur lebt, wie die drei Architektinnen sagen. Diese Struktur findet sich zum Beispiel in der Durchnummerierung von Alleen und Achsen sowie durch verpflichtende Gesundheitschecks. „Man kann diese Strukturiertheit negativ sehen, aber wir haben es eher sarkastisch und ironisch betrachtet“, erklärt Nora Hippe.

Der Glückskiez

Der Glückskiez, der heutige Altstadtkern Spandaus, funktioniert anders. Im Fokus steht nur eins, den Menschen soll es gut gehen. Sie sollen glücklich, körperlich und psychisch gesund sein. Für die Entwicklung des Glückskiez haben sich die Architektinnen Interviews mit den fiktiven Bewohner*innen ausgedacht. „Nach dem morgendlichen Sunrise Yoga ist sowieso niemand mehr schlecht drauf, haben wir eine Bewohnerin sagen lassen“, schmunzelt Lena Spengler. „Das gesamte Kollektiv, die gesamte Lebenseinstellung ist nur darauf ausgelegt.“ Natürlich wurde aber nicht nur spekuliert. „Im Glückskiez wurde städtebaulich ebenfalls aufgeräumt, aber eher in der Form, dass die alten Strukturen wiederhergestellt und z.B. die Innenhöfe, die typisch für die Altstadt sind, für die Öffentlichkeit wieder geöffnet wurden“, so Spengler.

Das Autarkiefeld

Das Autarkiefeld steht unter dem Motto Back to Basics. Hier wird von Grund auf alles selbst produziert und auch hergestellt, also Energie, aber auch Nahrung, Recycling bis hin zum Wassermanagement. Auch Gefährte, die einen von A nach B bringen, fahren mit selbst produzierter Energie. Der Name Autarkiefeld stammt von dem architektonischen Thema. Die Architektinnen haben ein Raster über den Bereich gelegt, wodurch die Fläche in viele kleine Felder eingeteilt wurde. Die kleinen Prozesse bilden gemeinsam das große autarke System.

Die Innovationsfabrik

In der Innovationsfabrik gibt es verschiedene Innovationszentren, Forschungslabore, alles, was es in Zukunft auf jeden Fall auch geben wird. „Das befindet sich in dem alten Industriegebiet, das natürlich auch schon heute sehr großteilige Strukturen hat. Die wollen wir natürlich behalten und mit denen arbeiten“, erklärt Selina Reinhardt. Die Idee, „hier wird vor allem aufgestockt und überbaut, mit verschiedenen Ebenen, wodurch die Gebäude miteinander verbunden sind.“ Das Wohnen wird ebenfalls eingestreut. „Man stolpert von der Wohnung direkt ins nächste Labor“, so Reinhardt.

Das Wohnlabor

„Das ist so ein bisschen der wilde Süden von unseren Experimentierquartieren, was man gesellschaftlich und auch architektonisch spürt“, sagt Nora Hippe. „Die ganzen Einfamilienhäuser zum Beispiel, die werden verbunden, weil es darum geht, dass man im Kollektiv lebt und alles teilt. Sogar den Partner. Die Idee ist, dass man ein bisschen freier daran geht und das in der Stadt wirklich auch lebt und fühlt.“

Austausch ist das A und O

Wichtig für den Entwurf der Architektinnen ist, dass die Quartiere miteinander verbunden sind. Die Quartiere sind städtebaulich mit einem übergeordneten grünen Aktivwegennetz verbunden. Zusätzlich gibt es dann noch eine unterirdische Bahn. „Und auch der Austausch nach außen ist uns ziemlich wichtig gewesen. Spandau soll kein abgeschlossenes System werden. Deswegen haben wir auch noch eine – wir haben sie liebevoll die exklusive Ex Line getauft – eingeplant. Das ist eine Schnellbahnstrecke, die auch unterirdisch nach Berlin ins Zentrum führen würde, um so auch einen Tourismus zu fördern“, sagt Lena Spengler.

Der Entwurf „EXPERIMENTIER QUARTIERE“ hat beim Schinkelwettbewerb die Jury überzeugt. Sowohl mit der Idee, der städtebaulichen Herangehensweise als auch der comichaften Darstellungsform, die den Ton des Entwurfs ideal einfängt. „Die Verfasserinnen konfrontieren uns hier auf ironische und sarkastische Weise mit einer Welt, in der diese und weitere Trends auf die Spitze getrieben und zum unhinterfragten Dogma erhoben worden sind“, sagte die Jury des Schinkelwettbewerbs. Die skizzierte Stadt erscheine viel zu nahe, viel zu vorstellbar, viel zu sehr im Heute angelegt, um als ferne Dystopie abgetan werden zu können, heißt es in der Jurybegründung außerdem.

Und wie sehen es die Planerinnen? Sind die Experimentierquartiere Utopie oder Dystopie? „Kommt auf den Betrachter und das Mindset an“, sagt Lena Spengler. „Für mich ist es aber schon eher Utopie“, ergänzt Selina Reinhardt und Nora Hippe stimmt ihr zu.

Über die Zukunft Spandaus können wir nur spekulieren, wir sind uns jedoch sicher, dass auf die innovativen und engagierten Architektinnen Selina Reinhardt, Nora Hippe und Lena Spengler eine vielversprechende Zukunft wartet. Erste Wettbewerbsluft haben sie nun im Rahmen ihres Studiums erfolgreich schnuppern dürfen, wir sind gespannt, womit die drei in Zukunft experimentieren werden.


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