8. Mai, Tag der Befreiung in Berlin: „Die Rolle der Sowjetunion ist nicht aufgearbeitet“

Tag der Befreiung in Berlin: „Die Rolle der Sowjetunion ist nicht aufgearbeitet“

Kateryna Rietz-Rakul ist die Leiterin des Ukrainischen Instituts in Deutschland. Sie findet die russischen Kriegsdenkmäler in Berlin „schwierig“.

Kateryna Rietz-Rakul (45), Leiterin des Ukrainischen Instituts in Deutschland
Kateryna Rietz-Rakul (45), Leiterin des Ukrainischen Instituts in DeutschlandMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Am Tag der Befreiung, der in Deutschland am 8. Mai gefeiert wird, wird der Opfer des Zweiten Weltkrieges gedacht. Doch das ist schwer in Zeiten des Krieges in der Ukraine.

Kateryna Rietz-Rakul stammt aus der Ukraine und arbeitet in Berlin als Leiterin des Ukrainischen Instituts in Deutschland. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung erzählt sie über die Kriegserinnerungen ihrer Großeltern und warum Ukrainer in Berlin keinen passenden Ort zum Gedenken haben.

Frau Rietz-Rakul, zunächst einmal: Wie ist es Ihrer Familie im Zweiten Weltkrieg ergangen?

Meine Familie hat sehr viel erlitten im Zweiten Weltkrieg. Nicht nur unter der deutschen Besatzung, sondern auch unter der russischen. Zu einem Teil meiner Familie, die aus dem Westen der Ukraine stammt, kam der Krieg schon 1939. In dem Jahr, als die Sowjetunion Osteuropa mit den Deutschen aufgeteilt hat. Meine Großmutter war die Tochter eines sogenannten Kulaken von Großbauern. Die Besatzungsmacht in der Ukraine hat sie enteignet. Ihr Vater wurde von den Russen umgebracht, und sie schloss sich der Roten Armee an. Mein Großvater wurde von den Sowjets zwangsrekrutiert und war Offizier in der Roten Armee. Sein Weg begann in Sibirien und endete dann in Mukatschewo in der Westukraine, wo er meine Mutter traf. Die beiden Rotarmisten haben dann in der Ukraine geheiratet und sind dort geblieben. Mein Großvater väterlicherseits überlebte den Holocaust im Konzentrationslager Sobibor, nachdem sein Vater an der Front umgekommen war. 

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Markus Wächter/Berliner Zeitung
Kateryna Rietz-Rakul
Sie stammt aus Lwiw in der West-Ukraine. Vor 20 Jahren kam die heute 45-Jährige für ihr Anglistik-Studium nach Berlin.

Mittlerweile ist sie die Leiterin des Ukrainischen Instituts in Deutschland und arbeitet auch als Autorin, Dolmetscherin und Kulturmanagerin.

Welche Erinnerungen verbinden Sie mit der Geschichte und wie wurde sie in Ihrer Familie thematisiert?

Meine Großmutter hat mir mal erzählt, dass sie auf einem Floß über den Dnipro gefahren sind und von der deutschen Artillerie beschossen wurden. Sie haben angefangen zu singen und in diesem Moment fühlte sie sich glücklich. Es war eine einzigartige Geschichte. Ansonsten wurde die Vergangenheit sehr wenig thematisiert. Meine Großeltern wollten selbst nicht viel darüber sprechen.

Ihre Großmutter hat Ihnen nicht mehr erzählt?

Nein. Ich habe einen Artikel über die Behandlung von Frauen in der Roten Armee gelesen. Darin stand, dass die weiblichen Soldaten erst Jahre nach dem Krieg Auszeichnungen und Medaillen erhielten und dass sie während des Krieges grausam behandelt wurden. Ich habe meine Großmutter darauf angesprochen, sie entgegnete, dass sie nicht darüber sprechen werde.

„Denkmäler zu propagandistischen Zwecken vereinnahmt“

Wie haben Sie bis zum russischen Überfall auf die Ukraine der Opfer des Großen Vaterländisches Krieges gedacht?

Solange meine Angehörigen noch lebten, gingen wir bei ihnen vorbei, brachten ihnen Blumen und aßen gemeinsam. Als sie starben, gingen wir zum Friedhof und legten Blumen auf den Gräbern nieder. Nichtsdestotrotz bleibt die Rote Armee eher negativ in Erinnerung. Obwohl die beiden Söhne, wie auch viele andere aus dem Dorf, in der Roten Armee waren, lebte das Dorf ohne große Probleme unter den deutschen Besatzern weiter. Doch als die Russen kamen, wurde alles konfisziert und das Dorf niedergebrannt. Es hatte dann nicht viel von einer Befreiung. Die Geschichte ist sehr verflochten und kompliziert.

Hatte der heutige Ukrainekrieg Auswirkungen auf Ihr Gedenken?

Heute haben wir keine Gedenkrituale mehr. Denn alle, die den Krieg erlebt haben, sind tot, und es gibt niemanden, den ich anrufen oder besuchen kann. Am 8. Mai trage ich eine kleine Mohnblumenbrosche, die ich mir an meine Kleidung stecke. Früher war es Tradition, den ukrainischen Kriegsgefallenen an dem Kriegsdenkmal in Berlin zu gedenken. Heute finde ich das schwierig. Die Russen haben die Denkmäler zu propagandistischen Zwecken vereinnahmt, deswegen gibt es keinen Ort, den Ukrainer am 8. Mai mit reinem Gewissen besuchen können. Das macht ein Gedenken schwierig.

Sollen die Denkmäler weg?

Viele finden, dass die Denkmäler martialisch wirken, und die Abschaffung der Denkmäler wird immer mal wieder gefordert. Welche Haltung haben Sie dazu?

Das Propagandistische daran stört mich. Dort stehen die Kriegsdaten und die Zitate Stalins. Wenn wir bedenken, was in meinem Land, in Polen und in anderen Ländern Osteuropas nach der sogenannten Befreiung passiert ist, wie dort die Repressionen weitergingen, ist ein Denkmal wie dieses geradezu zynisch. Es wurde zu wenig aufgearbeitet, und wir in der Ukraine beschäftigen uns erst jetzt damit. Denn wir waren – so wie alle anderen – Opfer und Täter zugleich, und so etwas muss erst einmal verarbeitet werden. Die Denkmäler lassen keinen Platz für Schmerz und Gedenken. Um diesen Schmerz zu verarbeiten, braucht es andere Denkmäler ohne Panzer und ohne Stalin-Zitate.

Was würden Sie sich denn für Denkmäler wünschen?

Krieg ist immer nur Schmerz, Leiden und Schmutz. Meine Großmutter hat immer gesagt: „Krieg ist Schmutz, Krieg ist dreckig.“ Egal, ob du gewinnst oder verlierst, du verlierst sowieso. Deswegen brauchen wir Orte, die zum Gedenken einladen. Mahnmäler wie in Deutschland. Orte, an denen du erfährst, welche Kosten so ein Krieg trägt und was für Auswirkungen dieser hat.

Wie empfinden Sie das getrennte Gedenken von Russen und Ukrainern zum Kriegsende?

Ich denke, dass diese Spaltung, die heute sichtbar ist, deckt nur das auf, das längst hätte thematisiert und angesprochen werden müsste. Die Ukraine hat von den Sowjetländern die meisten Menschen im Krieg verloren. Die Ukrainer waren die Menschen, die den Orden des Roten Sterns am häufigsten erhalten haben. Trotzdem sind die Russen die Haupthelden des Krieges. Es ist eine gute Zeit, um über kritische Sachen zu sprechen. Die Rolle der Sowjets wurde nie richtig verarbeitet, auch in Deutschland nicht. Es fehlt an Aufarbeitung. Damals teilten sich Deutschland und die Sowjetunion Osteuropa untereinander auf und terrorisierten es. Deutschlands Rolle wurde aufgearbeitet, aber nicht die Rolle der Sowjetunion.

Und die Rolle Deutschlands dabei?

Deutschland scheint kein Verantwortungsgefühl gegenüber der Ukraine gehabt zu haben, sondern nur gegenüber Russland. Deshalb ist es wichtig, dass es jetzt thematisiert wird. Es muss darüber gesprochen werden, wie komplex diese Geschichte ist, wo die Verantwortungen liegen, wie die Erwartungen sind und was es heute bedeutet, Frieden in Europa zu wahren.