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In Ostpreußen 1934 geboren, verbrachte Oskar Negt seine Kindheit im bäuerlichen Milieu. Die Flucht führte die Familie 1945 erst in den Osten Deutschlands, später folgte die zweite Flucht aus der DDR nach Westdeutschland.

Negts Weg in die Universität führte zunächst zum Jurastudium nach Göttingen, das er aber nach kurzer Zeit abbrach, um nach Frankfurt zu wechseln. Doch bereits in Göttingen hatte er begonnen, sich für Karl Marx zu interessieren. Dort hatte es jedoch weder eine Vorlesung noch ein Seminar zu dessen Schriften oder zu sozialgeschichtlichen Themen gegeben. »Die während der Nazi-Zeit von marxistischer Literatur ›gesäuberten‹ Bibliotheken waren angesichts des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts und der Ideologie des Antikommunismus auch nicht aufgefüllt worden.« (Negt 2019, S. 47) Also begann er die damals noch spärlich im westdeutschen Buchhandel vorhandenen Texte zu lesen. Besonders inspirierten ihn die 1953 von Siegfried Landshut herausgegebenen Marx’schen Frühschriften.

Nach dem Wechsel nach Frankfurt studierte Negt Philosophie und Soziologie bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Dort hatte er erste Kontakte zu Jürgen Habermas, der Adornos Assistent war. Negt trat in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) ein, der damals noch als Organisationsteil der SPD bestand. Der von Negt begründete Marx-Arbeitskreis betrat Neuland und wurde zu einem politisch-theoretischen Zentrum des Frankfurter SDS. Als die Partei im Zusammenhang der Verabschiedung des Godesberger Programms 1959 den SDS als zu weit links stehend ausschloss, tat das seiner Entwicklung zu einem einflussreichen Kern marxistisch orientierter Theoriebildung indes keinen Abbruch.

Negt knüpfte Verbindungen zu den Gewerkschaften und insbesondere zur IG Metall, die in zweifacher Hinsicht Bedeutung erlangten. Zum einen wurden die Gewerkschaften für die Opposition gegen die geplanten »Notstandsgesetze« wichtig, die von einer breiten politischen Kraft, die sich Kampagne für Demokratie und Abrüstung (Otto 1977, S. 145−171) nannte, getragen wurde. Tatsächlich hatte es des »Druckes von außen« bedurft, »um nachhaltige Veränderungsprozesse anzustoßen«, die Korrekturen der ursprünglich obrigkeitsstaatlichen Ausrichtung für Zivilverteidigung sowie Notstandsverfassung bewirkten (Diebel 2019, S. 195). Zum anderen eröffneten Negt diese Kontakte einen Einstieg in die gewerkschaftliche Bildungsarbeit. Dem Angebot eines IG-Metall-Funktionärs folgend übernahm er, eigentlich noch mit dem Studienabschluss beschäftigt, die Stelle eines Assistenten an der DGB-Bundesschule in Oberursel. Mit dieser Tätigkeit entstand sein Konzept des Lernens. Nach anderthalb Jahren der willkommenen Gelegenheit, Theorie und Praxis zu verbinden, ging es schließlich an den Abschluss des Studiums.

Als Habermas 1961 nach Heidelberg berufen worden war, wählte er Negt als Assistenten. Beide verband eine lebenslange freundschaftliche Verbindung. Doch niemand steht außerhalb der Gesellschaft  −  die Frage ist nur, wie man sich in ihr verortet. So nötigten gesellschaftliche Unruhen, insbesondere weil sie die akademische Welt aufwirbelten, sowohl Habermas als auch Negt zu Stellungnahmen.

Im Frühjahr 1968 hatte die bundesrepublikanische Protestbewegung einen Siedepunkt erreicht. Nach dem Attentat des rechtsradikal beeinflussten Josef Bachmann am 11. April auf Rudi Dutschke, das medienbekannte SDS-Mitglied, kam es an den darauf folgenden Ostertagen zu schweren Unruhen. Danach kam die Verabschiedung des 17. Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes (Notstandsgesetze) die von der Studentenbewegung als NiederlageFootnote 1 betrachtet wurde. Nachrichten aus dem Nachbarland Frankreich von landesweiten Streiks und der Pariser Revolte des Mai ‘68 (Gilcher-Holtey 2008) fachten Phantasien an. So ergriff auch die Frankfurter Universität eine Radikalisierung. Habermas und Negt schätzten den Gang der politischen Ereignisse in dieser turbulenten Zeit unterschiedlich ein. Ihre Kommunikation bekam einen Knick, den sie jedoch später wieder überwanden. Habermas reagierte am 2. Juni 1968 mit harscher Kritik an den vor allem vom SDS getragenen Aktionsformen mit seiner Rede Die Scheinrevolution und ihre Kinder, die er auf dem vom Verband Deutscher Studentenschaften einberufenen Schüler- und Studentenkongress hielt. Seiner Ansicht nach verwechselten die SDS-Mitglieder, wie Geistesgestörte, Realität und Wunschvorstellung. Habermas charakterisierte, ohne sie namentlich zu nennen, einzelne Leitfiguren. Er sprach vom Agitator, der den Realitätssinn verloren hat und »von kurzfristigen narzisstischen Befriedigungen lebt und die Aktion von einer Bestätigung zur nächsten treibt«, er sprach vom Mentor, »der, weil er gegen Erfahrungen immunisiert ist, eine Orthodoxie mit grauen Vokabeln allen Bewusstseinstrübungen aufprägt, um das zu rationalisieren, wozu anderen die Worte fehlen«, und schließlich vom Harlekin am Hof der Scheinrevolutionäre, der »nun flugs sich zum Dichter der Revolution sich aufschwingt« (Habermas 1969, S. 199). Die Zuhörer wussten, wer jeweils damit gemeint ist, und die Frankfurter Allgemeine Zeitung brachte umgehend die Namen: der Agitator war Hans-Jürgen Krahl, der Mentor war Oskar Negt, und der Harlekin war Hans Magnus Enzensberger (Kraushaar 1998, S. 343). Wenige Monate später kam die Replik mit dem von Negt herausgegebenen Aufsatzband Die Linke antwortet Habermas. In seiner Einleitung betont Negt, das Buch »ist kein Anti-Habermas. Es enthält eine öffentlich ausgetragene Kontroverse innerhalb der Neuen Linken, die in erster Linie ihrer politischen Selbstverständigung dient« (Negt 1968a, S. 32). Habermas vollzog nach der Publikation des Bandes nicht den Bruch mit Negt, und Negt beendete diesen Zwist, indem er sich später von der Publikation des Bandes distanzierte. Damit hätte die politische Auseinandersetzung beendet sein können, doch sie warf lange Schatten. Zum 80. Geburtstag schrieb Detlev Claussen für die Süddeutsche Zeitung eine Würdigung der Arbeit Negts, in der er bemängelte, Negt habe den Widerruf getan, »ohne die übrigen Beteiligten zu fragen« (Claussen 2014). Doch eine Stellungnahme ist ein Markstein in einem aktuellen Disput, sie kann eben auch revidiert werden. Negt meinte zu dieser Bemerkung in Claussens Artikel lapidar »das hätte er durchaus lassen können«,Footnote 2 womit er darauf anspielte, Jahrzehnte später könnte unter einen vorübergehenden Zwist doch wohl ein Schlussstrich gezogen worden sein. Neben anderen Prominenten war Jürgen Habermas zur Feier des 80. Geburtstags Negts nach Hannover gekommen.

Der akademische Werdegang Negts nahm neben den politischen Ereignissen der späten 1960er Jahre seinen weiteren Lauf. Im Jahre 1970 erfolgte, unter direkter Mitwirkung des niedersächsischen Ministerpräsidenten Kubel, seine Berufung nach Hannover. Unter den Werken, die nun entstanden, zählten vier in enger Zusammenarbeit mit Alexander Kluge geschriebene Bücher:

  • in Öffentlichkeit und Erfahrung, 1972, geht es um proletarische und bürgerliche Öffentlichkeit

  • in Geschichte und Eigensinn, 1981, um politische Ökonomie lebendiger Arbeit,

  • in Maßverhältnisse des Politischen, 1992, um die Tendenz des nach der Wiedervereinigung einsetzenden Privatisierungswahns,

  • und schließlich folgt Suchbegriffe, 2001, eine Sammlung von Fernsehdialogen.

Mittlerweile liegen diese und alle anderen Schriften Negts als 20-bändige Werkausgabe vor.

1 Kritische Theorie

In seinem Buch Erfahrungsspuren (2019) betont Negt die Bedeutung der Kritischen Theorie. Was das bedeutet, zeigte sich beim Aufbau des Instituts für Soziologie in Hannover unter seiner Ägide. Bei der Besetzung von Stellen ging es nicht um eine bestimmte soziologische Schule, sondern um gesellschaftliche Relevanz des Arbeitsgebietes und des Erfahrungshintergrundes. Die Herkunft von Mitarbeitern repräsentierte ein breites Spektrum,Footnote 3 darunter evangelische Theologie, Wirtschaftswissenschaften, Elementarteilchenphysik, Lateinamerikastudien, Tätigkeit als Gewerkschaftsfunktionär. Tatsächlich entfaltete sich für viele Jahre eine lebendige Diskussionskultur, die allerdings um die Mitte der 1980er Jahre zum Erliegen kam.

Max Horkheimer hatte 1937 in seinem Text »Traditionelle und kritische Theorie« auf die Feststellung wert gelegt, es gebe keine »Theorie der Gesellschaft, auch nicht die des generalisierenden Soziologen, die nicht politische Interessen mit einschlösse, über deren Wahrheit nicht selbst wieder handelnd und denkend, eben in konkreter geschichtlicher Aktivität, entschieden werden müsste« (Horkheimer 1988, S. 196). Wahlmöglichkeiten kann sich niemand entziehen. Dennoch bilden sich Lager. Auf der einen Seite steht die traditionelle Gesellschaftswissenschaft, deren Vertreter − ungeachtet der unhintergehbaren Verflochtenheit ihrer Forschung in soziale Prozesse − um Objektivität bemüht sind, und sich als Fachgelehrte einer neutralen Betrachtung der gesellschaftlichen Realität mitsamt ihren Produkten aus einer Außensicht widmen. Diesem Typ setzt Horkheimer das kritische Denken entgegen, das bestrebt ist, sich selbst in seinen konkreten Beziehungen mit dem gesellschaftlichen Ganzen zu reflektieren. Dieses Denken ist durch den Versuch motiviert, »den Gegensatz zwischen der im Individuum angelegten Zielbewusstheit, Spontaneität, Vernünftigkeit und der für die Gesellschaft grundlegenden Beziehungen des Arbeitsprozesses aufzuheben« (Horkheimer 1988, S. 183). Jean-Paul Sartre prägte später für den erstgenannten Typus den Begriff des »Theoretikers des praktischen Wissens«, der »in seiner Arbeit von einem Wissen« ausgeht, lediglich »mit der Perspektive, zusätzliches Wissen zu erlangen«; was dagegen einen »Intellektuellen ausmacht, ist der tiefe Widerspruch zwischen der Allgemeingültigkeit, die die bürgerliche Gesellschaft seinem Wissen zugestehen muss, und dem besonderen ideologischen und politischen Rahmen, in dem er dieses Wissen anzuwenden verdammt ist«; und da der Intellektuelle den Widerspruch erkennt, bekämpft er »im Namen des Allgemeinen das Besondere« (Sartre 1971, S. 12 f.).

Die traditionelle Richtung der »Wissenschaften von Mensch und Gesellschaft« sieht Horkheimer im Bestreben verwurzelt, »dem Vorbild der erfolgreichen Naturwissenschaften nachzufolgen« (Horkheimer 1988, S. 164). Tatsächlich jedoch ahmt traditionelle Theorie ein längst veraltetes Bild der Physik nach. Den alten Wissenschaftsbegriff hatte Descartes geprägt, der in seinen Prinzipien der Philosophie (1644) von zwei obersten Gattungen ausgeht, nämlich zum einen die der »geistigen oder denkenden Dinge, d. h. die, welche zum Geiste oder zur denkenden Substanz gehören«, und zum anderen die der »körperlichen Dinge oder der zur ausgedehnten Substanz, d. h. zum Körper gehörenden« (Descartes 1955, S. 16). Für ihn liefert das Objekt die Daten, aus denen der Intellekt auf Gesetze schließt. Diese Auffassung begründet das Ideal neutraler Beobachtung. Descartes‘ Wissenschaftstheorie war jedoch bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts überholt. Physikalische Tatsachen wiesen darauf hin, dass Descartes die Vermittlung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem untersuchten Objekt übersehen hat. In der Quantenmechanik war das Problem aufgetreten, dass Licht – je nach experimenteller Anordnung – sowohl als elektromagnetische Welle auftritt, also über einen Raumbereich verteilt, wie auch als Korpuskel, also auf einen Punkt konzentriert. Darin besteht eine logische Disjunktion. Doch nur das Wellenbild und das Teilchenbild zusammengenommen erlauben die vollständige Beschreibung (Bohr’sches Komplementaritätsprinzip). Um Experimente zu ermöglichen, müssen »eventuelle Wechselwirkungen mit geeigneten, nicht zum System gehörigen, äußeren Messungsmitteln zu[gelassen]« werden, und deshalb »ist der Sache nach eine eindeutige Definition des Zustandes des Systems nicht mehr möglich« (Bohr 1928, S. 245). Die Descartes’sche Unterscheidung von res cogitans und res extensa hat ihre Gültigkeit verloren. Die Begriffe der modernen Physik tragen der Vermittlung zwischen erkennendem Subjekt und dem zu erkennenden Objekt Rechnung, indem das gewählte Messverfahren theoretische Relevanz gewinnt. »Wenn von einem Naturbild der exakten Naturwissenschaft in unserer Zeit gesprochen werden kann, so handelt es sich also eigentlich nicht mehr um ein Bild der Natur, sondern um ein Bild unserer Beziehungen zur Natur.« (Heisenberg 1965, S. 21)

Die Physik hat das Ideal der neutralen und unbeeinflussten Beschreibung ad acta gelegt. Ohne Analogien zu strapazieren kann man sagen, dass sich die Kritische Theorie auf dem wissenschaftstheoretischen Niveau des naturwissenschaftlichen Fortschritts bewegt. Auch sie geht von der Tatsache aus, dass sozialwissenschaftliche Theorie stets die Dialektik von Forschenden und untersuchten Sachverhalten beinhalten muss.

2 Arbeitsfelder Negts

Als Soziologe und Philosoph, der sich auf dem Niveau der Kritischen Theorie bewegt, hat sich Oskar Negt − neben seiner Tätigkeit an der Universität − vier Arbeitsfeldern gewidmet, um Theorie und Praxis in emanzipatorischem Sinne zusammenzubringen (Negt 2019, S. 251). Zwei davon organisieren sich um Erfahrung und Öffentlichkeit, die beiden anderen liegen im Gebiet des Lernens und der Bildung. Die ersten beiden möchte ich nur kurz ansprechen, um danach auf Lernen und Bildung ausführlicher einzugehen.

2.1 Erfahrung und Öffentlichkeit

Zu Negts Tätigkeit im Feld Erfahrung und Öffentlichkeit zählen zum einen Gesprächskreise mit Politikern und zum anderen das Engagement im Sozialistischen Büro. In beiden Fällen ist eine Orientierung bemerkenswert, die mit der »Neuen Linken« entstand und mit ihr verbunden bleibt.

Die Bezeichnung »Neue Linke« stammt aus England, wo sich eine politisch-intellektuelle Bewegung um die Zeitschrift »New Left Review« entwickelt hatte, und aus Frankreich, wo sich eine sozialistisch und links-katholische Bewegung als »La Novelle Gauche« gebildet hatte. In der Bundesrepublik entstand die Neue Linke als außerparlamentarische Kraft in Reaktion auf bedenkliche Entwicklungen. Dazu zählten vor allem die Zunahme autoritärer Tendenzen in Staat und Gesellschaft, die Ignoranz der sozialdemokratischen Parteiführung gegenüber den Gefahren der Atomwaffen-Stationierung in Westeuropa und der durch staatliche Propaganda geschürte Antikommunismus, der dazu diente, jede Art ernsthafter Kritik mundtot zu machen. Ein Kern von Intellektuellen spielte in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle. »Aufklärung ist für diesen Teil der Neuen Linken, der durch die Publikationen des von Adorno und Horkheimer bestimmten ›Instituts für Sozialforschung‹ in Frankfurt – dabei besonders durch die älteren Schriften – entscheidend beeinflusst wurde, die eigentliche Aufgabe.« (Seifert 1963, S. 35)

Nun zum einen Schwerpunkt im Feld Öffentlichkeit und Erfahrung, in dem sich Negt engagierte, den Arbeitskreisen als Form der Diskussion mit Politikern. Diese unterscheiden sich von Fachberatung für Politiker oder politischen Institutionen. Fachberatung ist durch klare Aufträge derjenigen, die an den Hebeln der Macht sind, an die Fachwissenschaft strukturiert. Sie fügt sich in den Gang der politischen Kausalitäten ein. Dagegen kann keine politisch links orientierte Beratungstätigkeit auf Systemkritik verzichten. Negt engagierte sich gemeinsam mit weiteren Intellektuellen in mehreren derartigen Diskussionsgruppen um SPD-Politiker in Führungspositionen.

Ein solcher Kreis, dessen Ursprünge in einer Gruppe von niedersächsischen SPD-Wahlhelfern liegen, konstituierte sich um die Mitte der 1980er Jahre in Hannover um Gerd Schröder. Nachdem der konservative Ministerpräsident Ernst Albrecht im Jahre 1986 die Landtagswahl knapp gewonnen hatte, verzichtete die Diskussionsrunde auf strategische Erwägungen, die darauf zielten, in dessen Themenspektrum zu fischen. Stattdessen rückte sie die bestehenden gesellschaftlichen Krisenherde ins Zentrum. Negts 1984 erschienenes Buch Lebendige Arbeit, enteignete Zeit wurde eingehend diskutiert. Nachdem das Ergebnis der Landtagswahl des Jahres 1990 eine Koalition aus SPD und den Grünen ermöglichte, war das Ziel erreicht, Albrecht abzulösen. Schröder wurde niedersächsischer Ministerpräsident. Damit schwand jedoch die ursprüngliche Funktion des Zirkels als Diskussionsgruppe, weil nun Fragen des Machterhalts und der Verteilung von Karrieren eine Rolle spielten. Die Beratungstätigkeit schlief zwar auch dann noch nicht gänzlich ein, als Schröder später Bundeskanzler geworden war, aber je höher er aufstieg, »desto dünner wurde die Luft, in der ernsthafte politische Probleme zur Sprache gebracht werden konnten« (Negt 2019, S. 276). Gleichwohl blieb eine persönliche Freundschaft, die Negt mit Schröder seit dessen Jahren als Juso-Vorsitzender verband, ungeachtet verschiedener Einschätzungen politischer Fragestellungen auch während der Jahre bestehen, in denen Schröder das Amt des Bundeskanzlers innehatte (1998–2005) und SPD-Parteivorsitzender war (1999–2004). So besuchte Schröder selbstverständlich die Abschiedsvorlesung Negts am 10. Juli 2002 und war auf dem anschließenden Empfang (Abb. 1) zugegen. In diesem Jahr war allerdings noch nicht abzusehen, dass der Vollblut-Sozialdemokrat Schröder später tatsächlich der Politik den Rücken kehren würde, um sich der Arbeit für russische Unternehmen (Gazprom, Rosneft) zu widmen und sich in diesem Zusammenhang sogar in die politische Nähe zur autokratisch regierenden Führung Russlands zu begeben. Im Unterschied zu Schröder, der nach seiner Kanzlerschaft frühere Intentionen aufgab, arbeitete Negt seine Ideen in den Jahren nach seiner Abschiedsvorlesung weiter aus. Die Lebenswege nahmen unterschiedlichen Verlauf. Schröder erschien 2014 nicht auf Negts 80. Geburtstag.

Abb. 1
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[Foto: Archiv Oskar Negt]

Nach Negts Abschiedsvorlesung 2002; am Tisch v. l. n. r.: Paula-Irene Villa, Lutz Hieber, Oskar Negt, Gerd Schröder.

Ein zweiter Schwerpunkt lag für Negt in seiner Tätigkeit für das Sozialistische Büro, das von 1969 bis 1997 in Offenbach bestand. Es war aus dem Auflösungsprozess der Kampagne für Demokratie und Abrüstung entstanden, die seit den frühen 1960er Jahren eine tragende Säule der Opposition gegen atomare Rüstung und gegen die geplanten Notstandsgesetze war. Die Gründer verstanden das Büro-Projekt nicht als »Organisation im klassischen Sinne, sondern eher« als »ein Netzwerk von Basisgruppen und Aktivisten in verschiedenen sozialen Bewegungen und Arbeitsfeldern« (Becker 2017, S. 130). Sofern es die Organisation der Selbstorganisation übernehmen sollte, war es von einer Paradoxie geprägt, die sich indes für viele Jahre als produktiv erweisen sollte. Dies gelang, solange das Sozialistische Büro für Basisinitiativen in den Arbeitsfeldern Betrieb/Gewerkschaft, Schule, Sozialarbeit und Gesundheitswesen die Funktion als allgemeiner Rahmen für politische Reflexion und überhaupt als überregionale Kommunikationsplattform übernehmen konnte. Das Büro organisierte Kongresse, betrieb den Verlag 2000, der die Zeitschrift links herausgab, zu der später die Zeitschriften express und Widerstand kamen; getragen wurde es von Mitgliedern und Förderern (Mitte der 1970er Jahre, in der Glanzzeit, zählten rund 1.200 zahlende Einzelmitglieder und 40 Mitgliedsgruppen dazu).

Negt trat dem Sozialistischen Büro 1972 bei. Für ihn war wesentlich, dass hier Politik nicht »als eine Kalkulation im vordergründigen Rahmen von Machtfragen« verstanden wurde, »sondern als eigentümlicher Produktions- und Kommunikationsprozess […] als Organisationsform des überfraktionellen Bewusstseins«, und dazu gehört, dass auch »Nichtmitglieder zu Wort kommen, auch solche, die dieser Einrichtung eher feindlich gesinnt sind« (Negt 1995, S. 158). In diesem Zusammenhang möchte ich exemplarisch auf eine vielzitierte Rede Negts eingehen, die er auf der Eröffnungskundgebung bei dem vom Büro organisierten Angela-Davis-Solidaritätskongress am 3. Juni 1972 hielt. Außer ihm sprachen die Sozialwissenschaftler Wolfgang Abendroth und Herbert Marcuse sowie der Betriebsrat Willi Scherer vor über 10.000 Teilnehmern auf dem Frankfurter Opernplatz. Die afroamerikanische Bürgerrechtlerin und Kommunistin Davis stand in den USA vor Gericht, weil ihr vorgeworfen wurde, für einen missglückten Befreiungsversuch eines Mitglieds der Black Panther Party Waffen besorgt zu haben. Das FBI-Fahndungsplakat (Abb. 2) schreibt sie wegen Kidnappings und Mordes als Folge einer Entführung und Schießerei in Marin County, California, am 7. August 1970, aus, und weist darauf hin, sie sei möglicherweise bewaffnet und gefährlich. Negt ging in seinen Ausführungen allerdings nur am Rande auf Angela Davis ein. Stattdessen ergriff er die Gelegenheit, die Bombenanschläge der Baader-Meinhof-Gruppe zu thematisieren, die in den vorangegangenen Wochen die Öffentlichkeit der Bundesrepublik erschüttert hatten (Negt 2019, S. 115−131). Er legte eine pointierte Analyse der bundesrepublikanischen Gesellschaft vor, um Gewaltradikalismus »unter zum Teil heftigen Unmutsäußerungen der Zuhörer« (Kraushaar 1998, S. 522) als unvereinbar mit den Zielen der politischen Linken scharf zu kritisieren. Am Tag nach dieser Kundgebung erfolgte übrigens, womit in Frankfurt niemand gerechnet hatte, der Freispruch Davis‘ von allen Punkten der Anklage durch das zuständige Gericht im kalifornischen San José.

Abb. 2
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FBI-Fahndungsplakat: »Interstate Flight Murder Kidnapping Angela Yvonne Davis«. 1970

2.2 Lernen und Bildung I: gewerkschaftliche Bildungsarbeit

Den Einstieg in den Themenbereich des Lernens und der Bildung hatte für Negt die – bereits erwähnte − Erwachsenenbildung in der Bundesschule des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Oberursel gebildet. Die dortige Bildungsarbeit bestand damals in einer spezialisierten Funktionärsschulung, die der Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaft und sozialdemokratischer Partei entsprach, wobei freilich eine »selbstverständliche Verbindung zwischen den emanzipativen Zielen der Arbeiterbewegung und einer Theorie, die sie wissenschaftlich begründen könnte, […] nicht mehr vorauszusetzen« war (Negt 1971, S. 18). Entsprechend beschränkte sich diese Weiterbildung auf die Vermittlung von Faktenwissen. Die Kurse für Betriebsräte, die er kennen lernte, machten Negt, wie er später schreibt, fassungslos: »Wie im traditionellen Schulunterricht wurde der Stoff autoritativ diktiert […] Die Stofffülle erdrückte jede Form intensiven Lernens« (Negt 2019, S. 257). Der Unterrichtsstoff und der lebenspraktische Wissensbestand der Lernenden blieben ohne jeden Bezug nebeneinander stehen. In einer Veranstaltung eines ehemaligen Staatsanwalts zum Arbeitsrecht beobachtete er, wie ein großer Teil der Teilnehmer allmählich dem Schlaf verfiel. Für seinen erwachsenenpädagogischen Weg, der aus dieser unproduktiven Form der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit führte, griff Negt zum einen auf die Kritik der soziologischen Denkweise des Soziologen Charles Wright Mills zurück, und zum anderen auf den pädagogischen Ansatz von Martin Wagenschein.

Zunächst zum Soziologen Mills. Er entwirft in seiner Schrift The Sociological Imagination (1959) ein sozialwissenschaftliches Programm, das Menschen unterstützen soll, sich in den enormen gesellschaftlichen Umwälzungen ihrer Zeit zu orientieren. »Die geschichtliche Dynamik«, so seine Feststellung, »überfordert heute die menschliche Fähigkeit, sich an anerkannten Werten zu orientieren« (Mills 2016, S. 25). Die traditionellen Verhaltens-, Denk- und Wahrnehmungsweisen haben ihre Tauglichkeit für die Ära nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eingebüßt, und neuere Orientierungsansätze scheinen allenfalls schemenhaft auf. In einer Welt, in der viele Gewohnheiten durch Anforderungen politischer, industrieller und kultureller Neuentwicklungen entwertet werden, brauchen die Individuen nicht nur Informationen. Die Medien überhäufen sie zwar mit Fakten, aber die Vielfalt und Unverdaulichkeit der fragmentierten Informationen überfordern die Verarbeitungsmöglichkeiten. In der globalisierten und verwissenschaftlichten Welt müsste es nach Mills vielmehr um die Entwicklung von Kompetenzen gehen, die instand setzen, Informationen zu nutzen und Urteilsvermögen zu bilden, um ein Bild davon zu erschließen, was in der Welt geschieht und was davon den Einzelnen betrifft. Diese Qualifikation kann als »sociological imagination« (Mills 1959, S. 11) bezeichnet werden. Das Wort imagination kann mit »Vorstellungskraft« (was ich im Folgenden bevorzuge) oder mit »Phantasie« ins Deutsche übersetzt werden.

Mills war sich der gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft in einer demokratisch verfassten Gesellschaft bewusst. Um dieser gerecht zu werden, müssen sich die Gesellschaftswissenschaften der Aufgabe zuwenden, soziologische Vorstellungskraft zu kultivieren, um Menschen in die Lage zu versetzen, sowohl ihre eigene Lage zu reflektieren als auch gesellschaftliche Wege in die Zukunft angemessen einzuschätzen. »Sich für diese Ziele einzusetzen heißt, sich für Vernunft und Eigenständigkeit einzusetzen und sie zu vorherrschenden Werten einer demokratischen Gesellschaft zu machen.« (Mills 2016, S. 278).

Negt lag damals eine Übersetzung des Mills-Textes vor, die sociolgical imagination mit »Fähigkeit zu einem soziologischen Denken[…], das mit schöpferischer Phantasie begabt ist« umschrieb (Mills 1963, S. 41). Er wählte dagegen – wie es die spätere Übersetzung von 2016 ebenfalls tat − den Begriff der soziologischen Phantasie, und diese gedieh ihm zum Ausgangspunkt seines Konzepts der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit. Das gelang, weil er es mit dem exemplarischen Prinzip verband, das Martin Wagenschein für mathematisch-naturwissenschaftliche Pädagogik entwickelt hatte. Entsprechend wählte er für den Titel seines Modells der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit »Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen« (Abb. 3).

Abb. 3
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Oskar Negt: Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Erstauflage 1968, erweiterte Fassung 1971

Die zweite Säule des Negt’schen Ansatzes gewerkschaftlicher Bildungsarbeit, das exemplarische Prinzip, bietet einen Weg aus dem Stoffelend des Fakten-Lernens. Dieser Weg, den Wagenschein für die allgemeinbildende Schule gebahnt hatte, läuft allerdings jenseits des konventionellen Unterrichts, der sich am Fachbuch orientiert. Das Fachbuch des Schulunterrichts bildet ein Wissensgebäude im Kleinformat ab. Die daran ausgerichtete Bildungskonvention geht davon aus, dass Lernen am besten funktioniert, wenn der Stoff in kleine Happen aufgeteilt wird, und die Schülerinnen und Schüler ein Pensum nach dem anderen durchnehmen. Wenn alles geschafft ist, soll am Ende ein Verständnis für die Denkweise des betreffenden Faches stehen. Doch wie die Erfahrungen zeigen, ist das nicht der Fall. Betrachten wir zum Beispiel das Fach Mathematik: Das Pensum-Lernen erzeugt erfahrungsgemäß bei einem erheblichen Teil einer Schulklasse eine Abneigung, während sich nur ganz wenige für den Stoff begeistern und diesen Typ des Denkens goutieren. Um solche Folgen des Unterrichts zu vermeiden, setzt Wagenschein an die Stelle des konventionellen Unterrichts das exemplarische Prinzip. Den Bildungsprozess fasst er als einen Vorgang auf, in dem Schülerinnen und Schüler vor ein Problem gestellt werden, das sie in ihren Denkgewohnheiten herausfordert. Der exemplarische Fall gibt diesen Anstoß. Er ist nicht identisch mit einem der vielen Fakten aus dem Lernpensum, vielmehr muss er von der Art eines Pfeilers sein, der für das betreffende Wissensgebiet eine tragende Funktion hat. Dieses »Einzelne, in das man sich hier versenkt, ist nicht Stufe, es ist Spiegel des Ganzen« (Wagenschein 1975, S. 12).

Ein Schulbuch präsentiert ein widerspruchsfreies Gebäude eines Wissensbestandes auf dem Niveau, das Kindern zugänglich ist. Doch die kognitiven Lerninhalte der Schule sind abgehoben von der Lebenspraxis, da sie der fachlichen Logik folgen und insofern am Bestand des lebensweltlichen Orientierungswissens vorbeigehen. Das exemplarische Prinzip ist dagegen durch das Bemühen geprägt, nicht direkt in den Wissensbestand des Schulbuches zu springen, sondern vom Lernenden auszugehen (wovon im nachfolgenden Abschnitt zur Glocksee-Schule detaillierter gesprochen werden wird). An einem ausgewählten exemplarischen Fall kann der Bildungsgang schrittweise – und durchaus auch über Umwege − zu tragfähigem Wissen gelangen. Lehrerinnen und Lehrer, die sich auf diesen Weg begeben, sind in besonderer Weise gefordert. »Kein philosophisch nicht angerührter Lehrer ist imstande«, führt Wagenschein für diese Form des Unterrichts aus, »allgemeinbildend zu unterrichten« (Wagenschein 1975, S. 20).

Negt macht das exemplarische Prinzip Wagenscheins für die gewerkschaftliche Erwachsenenbildung nutzbar, indem er es für gesellschaftswissenschaftliche Fragestellungen neu konzipiert. Da die Idee des Exemplarischen auch in diesem Bereich seine Bedeutung für Bildungsprozesse verliert, wenn es lediglich in eine Methode der Stoffreduktion verwandelt wird, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: erstens »die Revision des auf die Vergangenheit beschränkten bürgerlichen Geschichtsbegriffs«, und zweitens »die Überwindung der traditionellen Arbeitsteilung zwischen den Einzelwissenschaften« (Negt 1971, S. 26). Unter dieser Voraussetzung kann es gelingen, an »soziologische Phantasie« anzuknüpfen, die Charles Wright Mills als Denkvermögen beschreibt, das befähigt, »strukturelle Zusammenhänge zwischen individueller Lebensgeschichte, unmittelbaren Interessen, Wünschen und Hoffnungen und geschichtlichen Ereignissen zu erkennen« (Negt 1971, S. 28).

Für Berufstätige hat Arbeit zentrale Bedeutung für Realitätsbezüge und soziale Kommunikation. In dem Maße allerdings, wie politische Parteien und der öffentliche Diskurs allein das Einkommen, also den Konsumentenstatus der Menschen, ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen, werden wesentliche Dimensionen ausgeblendet. Damit treten Möglichkeiten für die Industriearbeiterschaft in den Schatten, produktiv auf die Gestaltung ihrer unterschiedlichen Tätigkeiten und Existenzbedingungen Einfluss zu nehmen, um zu befriedigenden Arbeits- und Lebensverhältnissen zu gelangen. Unter solchen Voraussetzungen verwandelt sich die Zahlung für geleistete Arbeit faktisch zu einem Ausgleich für erfahrene Mangelsituationen. Sie ermöglicht Ersatzbefriedigung, während der für Arbeitszufriedenheit zentrale Bereich der materiellen Produktion ebenso wie überhaupt die Grundlagen des alltäglichen Seins unverändert bleiben wie sie sind. Negt kritisiert die Haltung, allein das Einkommen ins Zentrum zu stellen, aber er redet dabei die gewerkschaftlichen Kämpfe um die Lohnhöhe nicht klein. Er verweist indes darauf, dass mit der Verengung auf die ökonomische Dimension »die Ebene der Konflikte nicht erreicht wird, welche die Gesellschaft verdrängt und die sich der Arbeiter ohne soziologische und sozialpsychologische InterpretationshilfeFootnote 4 nicht bewusst machen kann« (Negt 1968b, S. 40). In dem Maße wie Gewerkschaftspolitik und Arbeiterbildung den Kern der Konflikte der sich in raschem Wandel befindlichen Arbeitswelt ausklammern, verstärken sie Desorientiertheit und Unsicherheit. »Das ist aber der traditionelle Nährboden für konformistische und autoritäre Einstellungen.« (Negt 1971, S. 55).

2.3 Lernen und Bildung II: Glocksee-Schule

Es geschieht so gut wie nie, dass ein Soziologe eine allgemeinbildende Schule gründet. Doch genau das tat Oskar Negt. Bildungseinrichtungen sind nicht nur ein Thema der pädagogischen und fachdidaktischen Wissenschaften, sie sind von gesellschaftswissenschaftlicher Relevanz.

Die Glocksee-Schule entstand als Schulversuch im Jahre 1972 für die Klassenstufen eins bis sechs in Hannover. Ihren Namen hat sie von ihrem ersten Standort im Zentrum der Stadt, einem früheren Fuhramt in der Glockseestraße. Im Frühjahr 1979 zog sie um in ein größeres Schulgebäude im Stadtteil Hannover-Kleefeld, wenig später kam die Erweiterung bis zur zehnten Klasse. Bis heute besteht die Glocksee-Schule als die einzige staatliche Schule in der Bundesrepublik, die den Konventionen der Regelschule eine Absage erteilt. Im Niedersächsischen Schulgesetz wurde sie 1994 als staatliche Angebotsschule mit besonderer pädagogischer Prägung verankert. Dieses Modell für eine Reform der Regelschule zeigt, dass Schule auch ohne Leistungszwang, Zensuren, Klassenarbeiten, Stundenplan und Versetzungen funktionieren kann. Sechs Jahre nach ihrer Gründung entstand der Dokumentarfilm von Günther Hörmann, der diese Schule ohne Zwang vorstellt (Abb. 4). Tatsächlich lernte die Pädagogik der Regelschulen im Laufe der Zeit ein – kleines − Stück weit von den alternativen Erfahrungen.

Abb. 4
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Dokumentarfilm zur Glockseeschule. Plakat, 1978

Negts Bildungsbegriff hat zwei tragende Säulen, die sich von der Tätigkeit in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit bis zur Glocksee-Schule durchhalten. Erstens geht es darum, den Weg zu »vollseitig entwickelte[n] Menschen« zu ebnen, den bereits Karl Marx als Ziel der »Erziehung der Zukunft« anstrebte (Marx 1962, S. 508). Fähigkeiten müssen gebildet werden, um Lebenspraxis produktiv zu gestaltenFootnote 5. Zweitens nimmt Negt das durch lebensweltliche Erfahrung begründete Denken ernst, über das Lernende verfügen, und vermeidet »Trichterpädagogik«, also Lehrmethoden, die Lernende als unbeschriebene Blätter betrachten, die mit kognitivem Wissen unterschiedlicher Art befüllt werden können. Kinder wie Erwachsene haben einen − wie auch immer gearteten – Bestand an lebenspraktischem Orientierungswissen, und daran sollten Lernprozesse ansetzen. Lernen ist Wissen wechseln. Deshalb erscheint es sinnvoll, Lernprozesse gemäß der Pädagogik Wagenscheins zu strukturieren. Beide Aspekte werde ich nun behandeln, die Schritte zu einer selbstbestimmteren Lebenspraxis zuerst.

Im Unterschied zu den Alternativschulen, die als Privatschulen zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden, beruht das Glocksee-Konzept auf Erkenntnissen, die ehedem noch nicht vorhanden waren. Dazu zählen Faschismus-Analysen die gezeigt hatten, dass der autoritäre Charakter für das Funktionieren der Diktatur wesentlich war. Bei einem großen Teil der deutschen Bevölkerung war die Persönlichkeitsstruktur in hohem Maße darauf ausgerichtet, sich an Direktiven von außen zu orientieren und Fremdzwängen zu gehorchen, und selbst wiederum andere – sowohl Erwachsene als auch Kinder − gemäß dem Schema von Befehl und Gehorsam zu behandeln. Diese Menschen hatten einen Führer gesucht und gefunden. Solche autoritären Charaktere entwickeln sich in entsprechenden Sozialisationsprozessen, also in einer »autoritäre[n] Familienstruktur«, die selbst »in engstem Zusammenhang mit der autoritären Struktur des Staates« steht (Elias 2005, S. 426 f.). Die nationalsozialistische Diktatur wurde 1945 zwar militärisch vernichtet, aber alte Denk- und Verhaltensweisen wirkten in Familien und Bildungsinstitutionen weiter. »Die Entwöhnung von einer Ordnung der Dinge, bei der eine symbolische Herrscherfigur die Verantwortung für ein Volk von Untertanen trägt, und die Umstellung auf ein Regime, das dem Einzelnen selbst eine, wie immer begrenzte, Verantwortung auferlegt«, ist »ein langwieriger Prozess« (Elias 2005, S. 429). Das anti-autoritäre Konzept der Glocksee-Schule verfolgte das Ziel, diesen Prozess als modellhafte Bildungsinstitution voranzubringen.

Ähnlichkeiten der Glocksee-Schule bestehen zur Laborschule in Bielefeld, die 1974 nach Ideen des Pädagogen Hartmut von Hentig gegründet wurde. Doch beide unterscheiden sich in ihrer Entstehungsgeschichte. Die Gründung der Glocksee-Schule verdankt sich Initiativgruppen, die im kulturellen Aufbruch der späten 1960er Jahre wurzeln. Kinderläden waren gegründet worden, die versuchten, den Kindern einen Freiheitsspielraum zu verschaffen, der Selbstregulierung ermöglicht. Die Voraussetzung dafür »ist ein liebevolles Klima, wo affektive Zuwendung möglich ist, in dem keine festen rigiden Deutungsmuster von den erwachsenen Bezugspersonen vorgegeben sind, sondern der Erfahrungsspielraum für das Kind in jeder Hinsicht offen gehalten wird« (Bott 1970, S. 50). Außerdem gab es die Aktion Kleine Klasse, eine Bürgerinitiativbewegung, die sich für bessere Verhältnisse in den Schulen engagierte. In diesen Bezügen entstand Negts Idee, eine antiautoritäre Schule zu gründen. Ein Initiativkreis aus Lehrern und Eltern bildete sich, um das Vorhaben voranzubringen. Da Negt stets Wert darauf legte, das Projekt nicht in den Zusammenhang von Privatschulen (Waldorfschulen, Montessorischulen) schieben zu lassen, konnte die Glocksee-Schule dank einer günstigen Ausgangslage als Schulversuch etabliert werden (was auch den Vorteil einer staatlich finanzierten wissenschaftlichen Begleitung brachte). Zu dieser Konstellation zählten institutionelle Entscheidungsträger, von denen einige zu erwähnen sind (Negt 2014, S. 50 f.): erstens der soeben als 28-jähriger Sozialdemokrat zum Oberbürgermeister Hannovers gewählte Herbert Schmalstieg, der, was für die städtische Schulverwaltung wesentlich war, das Projekt unterstützte; zweitens der niedersächsische Kultusminister Peter von Oertzen, der zwar ein alter politischer Freund Negts war, aber erst seine Zustimmung gab, als Negt zusicherte, dass ein Aufnahmeschlüssel von wenigstens 50 % Arbeiterkindern für die Schule verbindlichFootnote 6 sei; dazu kommen als Förderer drittens Ernst Gottfried Mahrenholz, Leiter der Staatskanzlei, und schließlich viertens Rolf Wernstedt, Landtagsabgeordneter und späterer Minister. Negt ergriff tatkräftig die Gelegenheit, die gewählten links-sozialdemokratischen Inhaber politischer Ämter mit dem Drängen der emanzipatorischen Initiativen zusammenzubringen.

Die Glocksee-Pädagogik folgte in den Anfangsjahren der – bereits in der Kinderladenbewegung entwickelten − Leitidee, die Macht der Erwachsenen über die Kinder zu beseitigen. Diese anti-autoritäre Orientierung zielte darauf, die Kleinen vom Druck ständig möglicher Eingriffe der Erwachsenen zu entlasten. Bedingungen für die Selbstregulierung der Kinder zu schaffen hieß keinesfalls, sie sich selbst zu überlassen, »sondern dass die Dialektik zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Erwachsenen und Kindern, im pädagogischen Arbeitsprozess wie in der Organisation der Schule, tatsächlich ausgetragen wird. Damit das keine bloße Scheinvermittlung bleibt, weil die eine Seite immer im Recht ist, weil die Erwachsenen die richtige Didaktik, die richtige Planung und die richtigen Ziele haben, müssen, wie in jeder dialektischen Beziehung, beide Seiten ein Stück Selbständigkeit und eigene Artikulationsfähigkeit haben.« (Negt 1975/76, S. 52) Nie war gemeint, dass sich Lehrerinnen und Lehrer in der Gruppe unsichtbar machen und sich völlig unbeteiligt außerhalb der kindlichen Prozesse positionieren sollten. Bloße »laissez-faire«-Haltung würde einer Vernachlässigung der Kinder gleichkommen. Bei Konflikten zwischen den Kindern geht es für die erwachsenen Bezugspersonen darum, nicht direkt steuernd eingreifen, da solche Interventionen die Gefahr bergen, die Kinder auf Rollen festzulegen und ihre Kommunikationsweisen zu stören. Sofern die Erwachsenen selbst angesprochen sind, müssen sie reagieren, um für die Kinder in ihrem Wesen greifbar zu sein, wobei entscheidend ist, dass ihre Eingriffe von den Kindern zurückgewiesen werden können. Solche Konflikte, in denen »die Lehrerinnen und Lehrer standen, zeigen die Spannung zwischen Pädagogik und Selbstregulierung, die sie in ihrem Handeln auflösen mussten« (Köhler und Krammling-Jöhrens 2000, S. 46). Nicht nur die Schülerinnen und Schüler lernen also in der Glocksee-Schule, sondern auch die Lehrkräfte ‒ und selbstverständlich auch die involvierten Eltern ‒ durchlaufen Bildungsgänge durch wechselseitigen Austausch und Einfluss.

In den ersten Jahren bestanden weite Freiheitsräume für die Kinder. Die Schule sollte der Lebens- und Erfahrungsraum der Kinder sein. Sie galt nicht als reiner Raum des Lernens, aus dem Spielen zu verbannen sei, vielmehr sollte beides jederzeit möglich sein. Die Türen standen offen, damit der Unterricht in frei wählbaren Angeboten erfolgen konnte. In den 1990er Jahren setzte sich indes eine gewisse Strukturierung durch. Nun verlangte der in den Tagesablauf eingebaute Unterricht verbindlich Teilnahme. Die Spannung von Selbstregulierung und Strukturierung erlaubt aber für die unteren Jahrgänge nach wie vor »viel Offenheit und Aushandlungsspielräume«; erst für die Älteren, für die später dazugekommene Oberstufe, ist der Schulalltag »stark rhythmisiert, individuelle Aktivitäten sind weitgehend auf die Pausen beschränkt« (Köhler und Krammling-Jöhrens 2000, S. 96 f.).

Das Streben nach einem höchst möglichen Maß an Selbstregulierung der Kinder ist durch den Versuch motiviert, Verbindungen von schulischem Lernen und Alltagsleben zuzulassen. Negt diskutiert das Ziel der Glocksee-Idee als Gegenmodell zum »Schulschock«, der vielfach nach der Einschulung in die herkömmliche Schule auftritt. Die Ursachen für diesen Schock können in Ängsten vor einer ungewohnten Institution liegen, aber entscheidend ist die Umwertung der Werte. Spielen, Freundschaften schließen, Phantasieren, sich zwanglos sprachlich verständigen: über alles wird ein Raster der Leistungsbewertung gestülpt. Die Schule entwertet ein Bündel der in der Familiensozialisation erworbenen Produktionsformen von Erfahrung und belegt es mit Strafen, indem sie den Fokus auf messbare Leistung legt. So entstehen Parallelwelten. Zum einen findet der offizielle Unterricht statt, zum anderen gibt es abgespaltene Aktivitäten, unter dem Tisch oder im Träumen während des Unterrichts. Für die Glocksee-Pädagogik geht es dagegen »wesentlich um die Überwindung des Bruches von Primärsozialisation und Schule«, und entsprechend darum, »den Leistungsbegriff vom Kinde her neu zu definieren und die Organisationsformen des Lernens dementsprechend zu verändern« (Negt 1975/76, S. 47).

Die Bedingungen der Aneignung von Texten und Bildern hat sich, ebenso wie das Hören von Musik, im letzten Jahrhundert durch die stürmischen Fortschritte der technisch-industriellen Medien schubweise immer wieder verändert. Zu den Marksteinen dieser Entwicklung zählen das drahtgebundene Telefon, der drahtlose Rundfunk, die illustrierte Zeitung, die Fotografie und der Film, die Schallplatte, das Fernsehen, und in den letzten Jahrzehnten bündelte die digitale Revolution die vorangegangenen Einzelmedien im Personal Computer und im Smartphone (Hieber et al. 2017). In dieser Welt bleibt unbestreitbar die sinnverstehende Aneignung von Informationen eine Hauptaufgabe der Schule. Für die Glocksee-Pädagogik geht es in diesem stürmischen Wandel darum, die sogenannten Kulturtechniken des Lesens, Schreibens, Rechnens und Bildverstehens in den Zusammenhang lebendiger Beziehungen des Kindes zu seiner Lebenswirklichkeit einzubinden. Sie betrachtet das Lernen als Moment eines ganzheitlichen Bildungsprozesses, der sich mit individueller Sozialisationsbiografie und mit gesellschaftlichen Veränderungen entwickelt. »Ein auf die Grundausstattung der Gesamtperson bezogener Leistungs- und Lernbegriff setzt eine Konkretisierung des Verhältnisses zwischen dem schulischen Vergesellschaftungsprozess des Kindes und der gesellschaftlichen Wirklichkeit voraus.« (Negt 2014, S. 69)

Damit komme ich zur zweiten Säule von Negts Bildungsbegriff, der auf der Pädagogik Wagenscheins aufbaut. Diese gibt den Schlüssel in die Hand, der die Verbindung von Lebenspraxis des Kindes mit dem Lernen in der Schule ermöglicht. Vom exemplarischen Prinzip, das Negt für gewerkschaftliche Weiterbildung fruchtbar machte, war bereits die Rede. Wagenschein bezeichnet seine Lehrweise als genetisch-sokratisch-exemplarisch, wobei das Genetische, das vom Kind ausgehende, führend ist. »Kinder denken, sich selbst überlassen, immer von der Sache aus, ihrer Sache, der Sache, die sie antreibt.« (Wagenschein 1973, S. 11) Die sokratische Methode dient der Unterstützung des Erkenntnisprozesses im Gespräch. Die Beschränkung auf den exemplarischen Fall erlaubt es, in die Tiefe zu gehen. Dieses Lernen erfordert Muße. Da kindliche Wahrnehmungs- und Denkprozesse ein Eigenleben haben, können sie nur schlecht in einem vorgegebenen 45-Minuten-Schulstundentakt funktionieren. Wagenschein fordert deshalb den Epochenunterricht. Das entspricht der »Ausgangslage in der Glocksee-Schule«, da »für die Unterrichtsorganisation von vornherein keine organisatorischen Einschränkungen vorliegen«, und zugleich durch die praktizierte »Aufhebung der Fächeraufteilung« die Versenkung in eine Fragestellung möglich ist (Hermann 1975/76, S. 95). So hat die Glocksee-Praxis sich das Konzept Wagenscheins mit großer Selbstverständlichkeit angeeignet.

Der Fachunterricht der traditionellen Schule, der die Glocksee-Schule als Alternative gegenübersteht, folgt dem Aufbau von Lehrbüchern. Das Lehrbuch zeichnet in stark reduzierter Form das jeweilige fachwissenschaftliche Gebäude nach. Solchen Unterricht bezeichnet Wagenschein als das »darlegende Lehren« und vergleicht es mit »der Führung durch eine geordnete Ausstellung der Funde einer abgeschlossenen Expedition« (Wagenschein 1975, S. 59). Eine gute Führung wird durchaus die Schüler zu Wort kommen lassen und Diskussionen ermöglichen. Doch da der traditionelle Fachunterricht der Logik eines bereits bestehenden Wissenssystems folgt, repräsentiert er eine eigene − vom Bestand des lebenspraktischen Erfahrungswissens getrennte − Welt. Der genetische Lehrgang dagegen verzichtet auf die Orientierung an der Systematik eines vorgegebenen Gerüstes, präsentiert nicht Fakten und leitet theoretische Erklärungen her, sondern geht von einer Fragestellung aus, die zu Entdeckungen führen kann. Während die Führung durch Exponate einer Expedition immer ein Stück weit auf das Vertrauen baut, dass die präsentierten Stücke auch den bezeichneten Ursprung und entsprechende Bedeutung haben, ankert der genetische Bildungsgang im lebensweltlichen Erfahrungsraum der Lernenden. »Für jedes Lernen, das dem Einzelnen Orientierungswissen vermittelt, ist […] die Rückbeziehung auf den eigenen Lebenszusammenhang unerlässlich.« (Negt 2016, S. 219).

Carl Friedrich von Weizsäcker argumentiert, es sei »psychologisch unwahrscheinlich, dass der Ort in der Seele des durchschnittlichen Menschen, den früher die Religion einnahm, heute leer stehen könnte«; an diesem Ort stehe »heute die Wissenschaft, oder, wenn man genauer reden will, der Szientismus, das heißt der Glaube an die Wissenschaft« (Weizsäcker 1964, S. 4). Die Parallelen von Kirche und Wissenschaft sind frappierend. Wie die Religion eine organisierte Kirche mit ihrer Priesterschaft hat, die heilige Texte lesen und auslegen können, verhält es sich entsprechend mit dem Wissenschaftssystem. Auch die Wissenschaft hat etwas dem Priesterstand vergleichbares, nämlich die Experten, die fachwissenschaftliche Texte lesen und interpretieren können. Während die statistische Methodik des Sozialwissenschaftlers oder die mathematische Formel des Physikers für Experten verstehbar sind, bleiben sie für Laien undurchschaubar. Für Laien besteht die Möglichkeit, den Experten zu glauben. Aber sie können sich ebenso gut einer Sekte um einen anti-wissenschaftlichen Guru anschließen und diesem glauben.

Der genetische Bildungsgang der an Wagenschein orientierten Glocksee-Pädagogik, der von exemplarischen Fällen ausgeht, kann als eine Übung im Zugang zu wissenschaftlichem Wissen aufgefasst werden. Der Erwerb solcher Kompetenzen ist für das Verstehen unserer verwissenschaftlichten Welt unverzichtbar.Footnote 7 Weiterhin in dieser Richtung zu gehen erscheint angesichts einer Medienwirklichkeit, deren Struktur zur Fragmentierung des Wissens und damit zur Desorientierung beiträgt, für eine demokratische Gesellschaft nach wie vor eine wesentliche Aufgabe.

3 Fazit

Traditionelle Sozialwissenschaft zieht einen Trennungsstrich, der die gesellschaftliche Realität zu etwas macht, das von außen betrachtet wird. Ein Fachgelehrter dieses Typs betrachtet sich als bloßen Zuschauer. Dagegen geht das kritische Denken von der »Theorie als Moment einer auf neue gesellschaftliche Formen abzielenden Praxis« aus (Horkheimer 1988, S. 190). Diesem letztgenannten Ansatz folgend richtet sich auch das Denken Negts auf Möglichkeiten besserer Lebensverhältnisse. In seiner theoretischen und praktisch-politischen Arbeit ergriff er Chancen, wenn sie sich boten. Dabei blieb er nicht Theoretiker, sondern begab sich auch in Tätigkeitsfelder, um – stets in Kooperationen – zweckdienliche Konzepte zu entwickeln. Die Schritte des gesellschaftlichen Wandels gaben den Takt. Am Anfang stand das Thema der gewerkschaftlichen Arbeiterbildung. Als die Studentenbewegung der späten 1960er Jahre zur Triebkraft einer breiteren Bewegung wurde, die verknöcherten − und noch immer durch das nationalsozialistische Erbe geprägten − Verhältnissen den Kampf ansagte, schaltete er sich ein. Er wurde, wie Habermas ihn damals apostrophierte, zum Mentor des Frankfurter SDS (Abb. 5). Nachdem die Anstöße zur Reformarbeit auf allen Ebenen des Bildungssystems, die durch die Protestbewegung initiiert worden waren, bereits ins Stocken geraten waren, gelang Negt die Gründung einer staatlichen Alternativschule. Später versuchte er, sowohl als Mitglied des Sozialistischen Büros als auch in Diskussionskreisen mit links-sozialdemokratischen Politikern, einen progressiven Impetus zur Geltung zu bringen. Durch seine Eingriffe und durch die mit diesen verflochtene Theorieentwicklung schält Negt in seinem vielfältigen Werk die Praxisrelevanz der Kritischen Theorie heraus.

Abb. 5
figure 5

[Foto: Archiv Negt]

Oskar Negt, Rede im Hörsaal IV der Frankfurter Universität (mit handschriftlicher Bezeichnung Negts).

Negts sozialwissenschaftliche Arbeiten folgen einer Programmatik, die sich auch mit Charles Wright Mills Ideen zum Verhältnis von Sozialwissenschaften und kritischer intellektueller Praxis trifft. »Es ist die ständige politische Aufgabe des Sozialwissenschaftlers – wie jedes liberalen Pädagogen – persönliche Schwierigkeiten in öffentliche Probleme zu übersetzen und die Letzteren so zu formulieren, dass ihre Bedeutung für das Leben einer Vielfalt von Individuen deutlich wird.« (Mills 2016, S. 278) Doch in einem Punkt besteht ein Unterschied. Mills zählte zu den US-amerikanischen Intellektuellen, die in den 1960er Jahren den Bruch konstatierten, der das Ende des Zeitalters der »Moderne« einläutete. »Wir stehen am Ende der ›die Moderne‹ genannten Epoche. Genauso wie die Antike von mehreren Jahrhunderten orientalischer Vorherrschaft abgelöst wurde, die man im Westen provinziell ›das dunkle Zeitalter‹ nennt, folgt jetzt dem Zeitalter der Moderne eine postmoderneFootnote 8 Epoche.« (Mills 2016, S. 248) Als Kennzeichen der Postmoderne benennt Mills die Zentralisierung der Macht- und Entscheidungsmittel in den großen wirtschaftlichen Konzernen, im wachsenden Staatsapparat und in der Steigerung des militärischen und ordnungspolitischen Potenzials. Angesichts dieser gesellschaftlich bestimmenden Strukturen sieht er, dass sich Anpassungsverhalten im Leben der Individuen ausbreitet. Die Menschen nutzen die Zeit, die ihnen die Arbeit übriglässt für Konsum, Spaß und Spiele − in einer ihrerseits der ökonomischen Rationalität unterworfenen Freizeitsphäre. Und Mills fragt sich besorgt, ob der entfremdete Menschentyp als »fröhlicher Roboter« (the Cheerful Robot) die Oberhand gewinnen wird (Mills 2016, S. 255). Mills starb 1962. Er konnte weder ahnen noch wissen, dass sich im Laufe der unmittelbar folgenden Jahre in den USA eine Gegenkultur herausbilden würde, die sich in klarer Opposition gegen die bestehenden Strukturen und damit gegen die Hegemonie der White Anglo-Saxon Protestants (WASP) auflehnte, um eine eigene Kultur zu etablieren. Daraus gingen zum einen neue Formen der basisdemokratischen Durchsetzung emanzipatorischer Forderungen hervor (Hieber 2015). Zum anderen hatte auch die technisch-industrielle Revolution ihre Ursprünge in den Sixties, die von Kalifornien ausging. Der Computer war noch in diesen Jahren ein raumfüllendes Großgerät, das nur staatlichen Institutionen, der Rüstungsforschung und Großkonzernen zur Verfügung stand. Gegen die Konzentration von Macht, die damit verbunden war, trat die US-Gegenkultur an, indem sie technische Entwicklungen nutzte. Eine Generation von Hippies begründete das Silicon Valley als Zentrum einer industriellen Revolution, um mit Personal Computer, Smartphone und Internet die individuellen Kommunikationsmöglichkeiten wesentlich zu erweitern (Hieber 2022).

An Negt ging allerdings der Postmoderne-Aspekt von Mills‘ Analyse vorbei. Während in den 1960er Jahren in den US-amerikanischen Geistes- und Sozialwissenschaften ein Diskurs einsetzte, der die Zeichen des neuen Zeitalters erkannte und dessen kulturelle und soziale Bedeutung eruierte, blieb dieser Impuls für kritische Neujustierung in der kritischen Sozialwissenschaft der Bundesrepublik – und nicht nur für Negt − ungenutzt. Dass das der Fall war, ist indes kein Beinbruch.

Bertolt Brecht hat in seinen späten Jahren das Gedicht geschrieben: »Dauerten wir unendlich/So wandelte sich alles/Da wir aber endlich sind/Bleibt vieles beim alten.« (Brecht 1964, S. 128) Doch diese pessimistische Sicht träfe nur zu, wenn wir in unseren Bemühungen isolierte Individuen wären. Tatsächlich aber ist Resignation fehl am Platze. Negt hat als Vertreter der Kritischen Theorie die Welt analysiert, nicht indem er sich in Distanz zum Geschehen begab, sondern indem er eingriff und sich engagierte. Die Lernprozesse, die sich daraus ergaben, bezog er wiederum in die Theoriebildung ein. Deshalb bietet sein Werk Ansatzpunkte für weitere soziologische Kreativität, und es lädt zum Weiterbau der Kritischen Theorie ein. Deshalb müssten in diesem Fall – um auch mal einen großen Dichter zu verbessern − die letzten zwei Zeilen des Brecht-Gedichtes umgeschrieben werden in: »Wir sind zwar endlich/Aber da wir nicht allein sind/Die am selben Strang ziehen/Wird ein Wandel kommen.«