Die Friedrich-Wolf-Gedenkstätte in Lehnitz – ein Exempel

Christel Berger:

Die Friedrich-Wolf-Gedenkstätte in Lehnitz – ein Exempel

Friedrich Wolf (1888 - 1953) – Dramatiker, Dichter, Arzt – gehörte in der DDR zu den Klassikern sozialistischer Literatur, etwa in einer Reihe mit Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Erich Weinert oder Anna Seghers. Obwohl schon früh gestorben, war sein Werk – unter anderem eine vom Aufbau-Verlag publizierte Ausgabe "Ausgewählter Werke" in 16 Bänden sowie häufige Einzelausgaben von Stücken, auch Briefen und Erzählungen – präsent. Sein Drama "Professor Mamlock" gehörte zur Pflichtlektüre in den Schulen, ebenso die Erzählung "Kiki" (das Schicksal eines Hundes in einem französischen Internierungslager). Das Märchen "Die Weihnachtsgans Auguste" – auch verfilmt – kannte fast jeder, und in Kreisen der Literatur- und Theaterwissenschaft galt Wolf zumeist im Vergleich mit Brecht als eine mögliche andere Variante, Theater zu machen. Die Theater spielten sein Werk relativ selten, hielt man doch die meisten seiner Stücke als Zeitstücke für aktuell begrenzt. Die agitatorischen und kathartischen Elemente entsprachen nach Ansicht der Theatermacher nicht mehr dem Zeitgeschmack, die Anliegen (u. a. Paragraph 218, Einheit Deutschlands) schienen erledigt oder "out". Die frühen Arbeiten waren mit "expressionistisch" etikettiert, und das war bekanntlich lange Zeit kulturpolitisch verpönt. Aber der Name Wolfs "lebte" – Polikliniken, Schulen, Krankenhäuser und Theater hießen nach ihm.

Dabei war Friedrich Wolf in den zwanziger Jahren einer der Pioniere des deutschen Theaters. Das soziale Engagement seiner Stücke, das direkte Aufzeigen sozialer Lagen ("Kolonne Hund" 1926; "Cyankali" 1929) und der historische Bezug zu revolutionären Situationen in der deutschen Geschichte ("Der Arme Konrad" 1923 ; Die Matrosen von Cattaro" 1930) mit der im Stück enthaltenen Aufforderung zum Handeln, zum Verändern hatten große Wirkung. Und Friedrich Wolfs Engagement war nicht nur auf die Bühne begrenzt. Als Arzt im Ersten Weltkrieg war er zum Kriegsgegner geworden, der sich geistig und politisch vielseitig orientierte. Er setzte lange Zeit seine Hoffnungen in die bündische Jugend, stand zeitweise SPD und USPD nahe, nahm an Pazifistenkongressen teil, war kurzzeitig Kommunarde in Heinrich Vogelers Worpsweder Gemeinschaft, wurde der erste Stadtarzt in Remscheid mit großem sozialem Engagement, trat schließlich 1928 der KPD bei, engagierte sich in proletarischen Theatertruppen, "tummelte" sich in der Berliner Theaterszene, war Galionsfigur im Kampf gegen den Paragraph 218, kandidierte in Stuttgart für die Kommunisten. Auch als Arzt war er nicht bloßer Durchschnitt. Mit seinem Buch "Die Natur als Arzt und Helfer" (1928) wurde er damals der medizinische Ratgeber vieler Familien in Sachen gesunder Lebensweise. Sowohl soziale Aspekte – helle und geräumige Wohnungen für alle, Arbeit und Freizeit – als auch Fragen der Ernährung (streng vegetarisch, gegen Alkohol und Nikotin), der Kleidung, Erziehung und sexuellen Aufklärung verband er mit Erkenntnissen der Naturheilkunde. Das Buch wird heute von der Medizin "wiederentdeckt" und gehört zu den bleibenden Zeugnissen deutscher Medizingeschichte.
1933 musste Friedrich Wolf Deutschland verlassen, als Jude, Kommunist, bekannter Dramatiker und Arzt war er einer der meistgehassten Gegner der Nationalsozialisten. Über die Schweiz und Frankreich landete er schließlich im November 1933 mit seiner Familie in Moskau. Da war er schon der Autor des Stückes, das in kürzester Zeit die Bühnen der Weltstädte eroberte. (Premiere des "Professor Mamlock" in Warschau im Januar 1934, Aufführungen u. a. in Tel Aviv, Zürich, später Tokio, Oslo, New York, Moskau, Peking,) "Professor Mamlock" ist das Drama, das als erstes den Umgang der Nazis mit Juden thematisierte. Die Geschichte des verdienten und berufserfahrenen jüdischen Arztes, der plötzlich nicht mehr in seiner Klinik arbeiten darf und wegen seiner Rasse die jedem Bürger zustehenden Rechte verliert, ist ein Stück bekennender Antifaschismus, und so wurde es bei Premieren und Aufführungen auch verstanden. In Zürich beispielsweise lieferten sich Anhänger und Gegner der Nationalsozialisten anlässlich der Aufführung des Stücks handgreifliche Kämpfe.
Von Moskau aus besuchte Friedrich Wolf die Premieren seiner Dramen, sprach dort über die Notwendigkeit des antifaschistischen Kampfes. 1934 war er Gast des amerikanischen Schriftstellerkongresses – überall ein gefeierter Mann. Als in der Sowjetunion die Verdächtigungen, Verhaftungen und "Säuberungen" begannen, wäre er gern außer Landes gegangen – nach Spanien als Arzt bei den Internationalen Brigaden. Erst seinem dritten Ersuchen wurde stattgegeben, und so kam er Ende 1937 zwar nicht mehr nach Spanien, sondern nach Frankreich, wo er Material für einen Exilroman sammelte. Als dann 1939 alle Ausländer interniert wurden, war er einer von vielen im großen Lager Le Vernet. Mit Hilfe seiner Frau und Freunden sowjetischer Staatsbürger geworden, konnte er Frankreich verlassen, bevor die Gestapo seiner habhaft werden konnte. In Moskau blieb nicht viel Zeit zur Erholung, hatten die Nazis doch kurz nach seiner Rückkehr das Land überfallen. Wolf arbeitete als Agitator an der Front, war beteiligt an der Gründung des Nationalkomitees "Freies Deutschland" und wollte nach dem Sieg der Roten Armee so schnell wie möglich nach Deutschland, wo seine inzwischen erwachsenen Söhne (der eine – Konrad – als Soldat, und der andere – Markus – als Journalist) bereits waren.
Er erlebte nun den Siegeszug seines "Professor Mamlock" auf deutschen Bühnen, engagierte sich aktiv für den kulturellen Neuaufbau im Osten Deutschlands und wurde 1949 der erste Botschafter der Deutschen Demokratischen Republik in Polen. Nach einem Jahr kehrte er auf eigenen Wunsch an seinen heimischen Schreibtisch in Lehnitz bei Berlin zurück. Seit 1948 wohnte er hier in einem Haus in einer Waldsiedlung, die ein Jahrzehnt vorher für Testflieger eines großen Flugzeugwerks in Oranienburg gebaut worden war. Friedrich Wolf arbeitete an verschiedenen Projekten – Stücken, Filmen, Erzählungen, Romanen – über die neuen Verhältnisse und Menschen in der DDR, aber auch noch einmal über eins seiner Lieblingsthemen, den Bauernkrieg, und beendete ein Drama über Thomas Müntzer. Obwohl stets aktiv und rege, erlebte er Enttäuschungen. Seine Stücke wurden immer weniger gespielt. Seine Vorstellungen von einer "sozialistischen Kulturpolitik" wurden nicht immer realisiert, sein Traum von Gerechtigkeit und Menschlichkeit ging auch unter Führung "seiner" Genossen nicht in Erfüllung.
Nach seinem Tod widmete sich seine Frau Else Wolf gemeinsam mit dem Theaterwissenschaftler Walther Pollatschek der Pflege seines Erbes. Sie gaben die schon genannte Gesamtausgabe heraus. Else Wolf veranlasste auch, dass in ihrem Wohnhaus der Nachlass ihres Mannes archiviert wurde, und sie legte testamentarisch fest, dass nach ihrem Tode das Haus in Lehnitz als Friedrich-Wolf-Archiv der Akademie der Künste der DDR eingerichtet werden sollte. Auf der Grundlage dieses Vermächtnisses haben die Söhne nach dem Tod ihrer Mutter (im Sommer 1973) auf Haus und Grundstück zugunsten der Akademie der Künste verzichtet und dies durch die Übergabe der Rechtsträgerschaft an die Akademie dokumentiert. Bis 1989 bestand dann diese Lehnitzer Außenstelle der Ostberliner Akademie. Hier arbeiteten Wissenschaftler, Archivare und Bibliothekare – archivierten, katalogisierten und editierten Arbeiten von und über Wolf, gaben bei Dissertationen und ähnlichem Hilfestellung und leiteten all die an, deren Institutionen nach Friedrich Wolf benannt waren. Kurz vor der Wende wurden die Originale der Wolf-Schriften aus Sicherheitsgründen in das neu gebaute Archiv in Berlin-Mitte verbracht. Über die weitere Nutzung des Hauses, in dem weitgehend Möbel und Bibliothek original erhalten worden waren, gab es erste konzeptionelle Überlegungen, aber nach der Wende – als die beiden Akademien fusionierten – hatte die neue Berlin-Brandenburger Akademie der Künste kein Interesse an außerhalb liegenden Immobilien, und so wurde das Schicksal des Hauses Alter Kiefernweg 5 im idyllisch gelegenen Lehnitz ungewiss.
"Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch", Hölderlins Weisheit traf auch bei Friedrich Wolf zu: Bereits 1988 – zum hundertsten Geburtstag – hatte es auf der Basis des Kulturabkommens der beiden deutschen Staaten in Neuwied am Rhein ein internationales wissenschaftliches Friedrich-Wolf-Symposion (wissenschaftliche Leitung: Dr. phil. habil. Henning Müller, Berlin) gegeben, an dem sich über 30 Fachleute beteiligten und Friedrich Wolf als eine "facettenreiche Person der Zeitgeschichte und eine wichtige Figur des geistigen Widerstands gegen den Faschismus und die Nazidiktatur" würdigten.
Die Geburtsstadt hatte ihren Sohn quasi "neu" entdeckt. Nach 1945 zuerst verschwiegen und dann vergessen, bemühten sich in den achtziger Jahren verdienstvolle Neuwieder (u. a. der damalige Pressereferent Roland R. Knapp, Pfarrer Jürgen Seim und Dieter Melsbach von der VHS) um die Akzeptanz des "Verlorenen", und so kam es, dass der Stadtrat von Neuwied 1986 mit großer Mehrheit zahlreiche kulturelle Veranstaltungen und Maßnahmen zur Würdigung von Leben und Werk des in Neuwied geborenen Dr. Friedrich Wolf beschloss. Dieses Interesse an Wolf war keine Eintagsfliege und kein Lippenbekenntnis. Gemeinsam mit der langjährigen Leiterin des Lehnitzer Friedrich-Wolf-Archivs, Dr. Emmi Wolf, Freunden der Familie und der Familie Wolf selbst sowie denen, für die der Name "Friedrich Wolf" als Namenspatron "ihrer" Institution kein nur lästiges Ritual war, riefen sie nach der Wende zur Gründung der "Friedrich-Wolf-Gesellschaft" auf, und diese vollzog sich im März 1992 in Berlin. Neben der Auseinandersetzung mit Leben und Werk Friedrich Wolfs und der Pflege des Nachlasses sah das Statut der neuen Gesellschaft auch die Ausarbeitung einer Nutzungskonzeption für die – wie das Haus nun hieß – "Friedrich-Wolf-Gedenkstätte" vor. Das Haus im Alten Kiefernweg war der Gesellschaft noch von der Akademie der Künste zu Berlin zur kostenfreien Nutzung übergeben und demnach als Sitz des Vereins im Statut festgelegt worden. Mit der Fusion der beiden Akademien brachte die Landesregierung einen Gesetzentwurf ein, nach dem – gemäß einem Staatsvertrag – alle früheren Immobilien der DDR-Akademie ins allgemeine Grundvermögen überführt werden sollten. "Eine zeitweilige Ausnahme soll das Wohnhaus des kommunistischen Schriftstellers Friedrich Wolf in Lehnitz, Kreis Oranienburg, bilden. Das Gebäude darf noch 'übergangsweise' von der Friedrich-Wolf-Gesellschaft genutzt werden, soll jedoch 'möglichst rasch' anderweitig verwertet werden. Die Friedrich-Wolf-Plakette am Haus und die Friedrich-Wolf-Büste im Garten sollen dabei erhalten bleiben. Die zum Friedrich-Wolf-Archiv gehörenden Bücher und Gegenstände werden laut Gesetzentwurf der Stiftung Archiv der Akademie der Künste überlassen."
Diese Mittelung in der "Berliner Zeitung" vom 26. März 1993 kam für die Friedrich-Wolf-Gesellschaft wie aus heiterem Himmel. Es setzte eine Welle von Protestschreiben aus Berlin, Tübingen, Frankfurt/Main, Mainz, Neuwied, Stuttgart und Remscheid an die Adresse des Kulturministers und des Ministerpräsidenten Dr. Manfred Stolpe ein. Dr. Emmi Wolf, stellvertretende Vorsitzende der Friedrich-Wolf-Gesellschaft, in ihrer Eigenschaft als Vertreterin der Wolf-Erben im Vorstand, erklärte: "Einer Vermarktung des Friedrich-Wolf-Hauses werden wir uns entschieden widersetzen." Im Unterschied zu anderen von der DDR-Akademie als Archive oder Gedenkstätten genutzten Häusern wie dem Arnold-Zweig-Haus oder dem Johannes-R.-Becher-Haus in Berlin gäbe es bei Wolf keine Rückübertragungsrechte. Und: "Ich möchte darauf hinweisen, dass sowohl der Nachlass als auch Grundstück und Haus von der Familie kostenlos übertragen worden sind. Umso empörender wäre es, wenn das Land Brandenburg so respektlos mit dem Grundstück und Haus umgehen würde."
Daraufhin gab es verschiedene Gespräche und schließlich am 31.03.1993 die Entschließung des Brandenburgischen Landtages, "das Haus weiterhin der Friedrich-Wolf-Gesellschaft zu überlassen." Wie diese Nutzung jedoch aussehen sollte, was beispielsweise das Land dafür und für das Haus tut, brauchte noch genauere Vereinbarungen, und erst nach einer Kleinen Anfrage des PDS-Abgeordneten Dr. Andreas Trunschke im Mai 1995 – nach also über zwei Jahren! –, was die Landesregierung unternähme, um der Friedrich-Wolf-Gesellschaft eine angemessene Nutzung des Friedrich-Wolf-Hauses zu ermöglichen, wurden die andauernden Ungewissheiten in klärenden Gesprächen und Vereinbarungen beseitigt. Das Haus würde keine institutionelle Förderung erhalten, stelle aber auch keine mobile Verfügungsmasse des Landesvermögens dar. Vielmehr wolle das Land das Haus kaufen, und eine zeitweise Projektförderung wurde in Aussicht gestellt. In der Praxis sah das so aus, dass ab 1.4.1996 ein ABM-Projekt mit vier Mitarbeitern zur Gestaltung von Veranstaltungen und zur musealen Nutzung des Hauses bewilligt wurde, wobei bereits vorher in ehrenamtlicher Arbeit Lesungen, Seminare zur Naturheilkunde und Führungen durch das Haus mit Vorträgen über Friedrich Wolf stattgefunden hatten. Dies wurde nun verstärkt und professionell betrieben. Bibliothek und Mobiliar blieben dank eines Vertrages mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste bis auf wenige Ausnahmen im Haus. Die Gedenkstätte wurde zu einer guten kulturellen Adresse im Kreis Oberhavel. (Auch die sonst kaum noch erhältlichen alten Wolf-Ausgaben kann man hier erwerben!)
Seit dem 1.10.1996 war das Haus Besitz des Landes Brandenburg. Das stellte auch einmalig Finanzen zur Verfügung für die dringendsten Sanierungen am Haus. Wer meinte, nun seien die Wege gebahnt für endlich kontinuierliches und störungsfreies Arbeiten, irrte.
Im Januar 1997 war das Haus erneut Gegenstand der Auseinandersetzung, denn anlässlich einer Arbeitsmarktinitiative beschloss der Kreisausschuss Oberhavel auf Betreiben der CDU-Fraktion, die Gedenkstätte als einzigen Antragsteller von der Förderliste zu streichen. Die Ablehnung wurde damit begründet, "dass Wolf sich nie vom Stalinismus distanziert hat und damit nicht als Humanist gelten und Vorbild für die Jugend sein kann". In den örtlichen Medien schlugen die Wellen hoch. Befürworter und Gegner der Maßnahme und der Einschätzung Wolfs kreuzten die Klingen. Dabei meinte u. a. ein CDU-Vertreter: "Friedrich Wolf hat zeit seines Lebens nicht nur den Faschismus, sondern auch die Demokratie der Weimarer Republik bis aufs Messer bekämpft", und gab dann den eigentlichen Anlass des Ärgernisses preis: "Hintergrund des Politikums: Friedrich Wolfs Sohn Markus war über Jahrzehnte Spionagechef des Ministeriums für Staatssicherheit. Markus Wolf gehörte im Dezember 1989 zum SED/PDS Parteivorstand und ist mitverantwortlich für die unergründlichen Schatten von SED-Vermögen. Er ist auch Gründungsmitglied der 'Friedrich-Wolf-Gesellschaft e. V.' "
Der Streit hat dem Haus insofern genutzt, weil viele Interessenten auf die Arbeit der Gedenkstätte aufmerksam wurden und sich ein Stammpublikum bildete, das die verschiedenen Veranstaltungen, die zeitweise ohne jedes Honorar auskommen mussten, begleitete. Außerdem nahmen die Mitarbeiter des Hauses den Streit zum Anlass, mit einer selbst gefertigten Ausstellung im Oranienburger Schloss über die wirklichen Fakten des ereignisreichen Lebens und reichen Schaffens von Friedrich Wolf aufzuklären. Die Förderung des Hauses blieb ungewiss: Dem ersten ABM-Projekt folgten Monate des Wartens, ob es eine Verlängerung geben würde. Nachdem diese erfolgt war, ging wieder Zeit ins Land, bis ein nächstes Projekt genehmigt wurde – und so weiter, bis heute.
Der Zusammenhalt in der Gesellschaft hat sich in diesen Auseinandersetzungen gefestigt. Die Mitglieder wissen umso genauer, warum sie dabeibleiben. Jährlich fand an einem Lebensort Friedrich Wolfs eine Jahresversammlung mit kulturellem Programm und wissenschaftlichen Vorträgen statt – u. a. in Worpswede, Remscheid, Stuttgart, Neuwied, Dresden, Lehnitz. Es zeigte sich, dass es auch in Leben und Werk von Friedrich Wolf unerforschte Aspekte gab, u. a. sein Verhältnis zu den Religionen, seine Haltung zum Judentum, sein Wirken im Exil in Frankreich und in der Sowjetunion. Auch die letzten Jahre in der DDR brauchten einen neuen Blickwinkel. So formt sich das Bild neu, ohne dass Wolf "gewendet" wird: Friedrich Wolf als streitbarer Humanist, als "Feuerkopf", dessen Erfahrungen als Arzt und Schriftsteller, als politisch Engagierter, als Ehemann und Geliebter vieler Frauen, als Vater von sieben Kindern in seinen Texten leben. Nicht frei von Irrtümern, aber nicht zu erschüttern in seinem Glauben an eine gerechtere Welt.
Die Arbeit der Gesellschaft und der Gedenkstätte wirbt und bindet neue Mitglieder (es sind mittlerweile über einhundert), und selbst Sponsoren haben sich gefunden, um die Kulturarbeit des Hauses und die Werterhaltung der Gedenkstätte zu unterstützen. Bemerkenswert an der Gesellschaft: Die "gute Mischung" aus Ost und West hat sich erhalten und trägt in der gemeinsamen Arbeit dazu bei, die jeweils andere Sozialisation besser zu verstehen. Die Westler brachten u. a. große Erfahrungen mit: Dass man nicht bei der ersten Ablehnung eines Antrags resignieren darf, dass man sich lauthals gegen Unwahrheiten wehren muss, dass Werbung auch in einer armen Gesellschaft wichtig ist. Wir aus dem Osten erklären unseren Freunden erlebte Zusammenhänge und Situationen, deren Verständnis viel Differenziertheit braucht. Man hört einander zu, vertraut einander. Wer heute zu Friedrich Wolf gefunden hat, hat "irgendwo links" seinen Platz und ein großes Herz für Kreativität und Eigensinn. Wolfs Lebenswanderungen – seine Erfahrungen, Illusionen und Hoffnungen – zu verstehen und gutzuheißen, dazu braucht es Toleranz, Idealismus und Zivilcourage. Die Gesellschaft pflegt diese Tugenden.
Mittlerweile mögen auch viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Filmleute und Schauspielerinnen die Gedenkstätte, weil die Lesungen und Veranstaltungen in der Bibliothek Wolfs, in seinem Wohnzimmer oder auf der Terrasse vor einem sympathischen Publikum eine eigene Atmosphäre haben. Daniela Dahn und Hermann Kant, Egon Bahr und Markus Wolf, Renate Holland-Moritz und Fritz Rudolf Fries, Joachim Seyppel und Michael Kumpfmüller, Michael Kleeberg und Kerstin Hensel und viele andere haben hier gelesen. Filme über Zeitgenossen und -genossinnen Wolfs wie Ernst Busch oder Eva Siao gehören genauso ins Programm wie Diskussionen über Geschichte und Gegenwart. Und Medizin und Naturheilkunde werden nicht vergessen. Mehr und mehr melden sich Schulklassen an. Nun interessiert nicht nur der "Professor Mamlock", auch der Fabel-Dichter Wolf und der Glossenschreiber Dr. Isegrimm (ein Pseudonym Wolfs nach 1945) werden bestaunt, und im vergangenen Jahr entdeckte ein Gymnasiasten-Theater aus Oranienburg Friedrich Wolfs frühes Stück "Die schwarze Sonne" und hatte großen Erfolg damit.
Die Bilanz ist positiv. Die Gedenkstätte "lebt", aber Sicherheiten gibt es keine. Nur die erst neulich geäußerte Bestätigung des Oranienburger Bürgermeisters, die Gedenkstätte unterstützen zu wollen. Durch die Gebietsreform wird Lehnitz mit Oranienburg fusionieren.
Inwieweit der Titel des Aufsatzes "Ein Exempel" gültig ist im Sinne des Exemplarischen, soll jeder Leser für sich entscheiden. Es gab in unserem Fall Besonderheiten, Glücksumstände, andererseits steckt der "Zeitgeist" auch in unserem "Beispiel".

 
PROF. DR. CHRISTEL BERGER ist Literaturwissenschaftlerin und war viele Jahre Leiterin der Gedenkstätte Friedrich Wolf. Vorstehender Text erschien in der Publikationsreihe der Friedrich-Wolf-Gesellschaft EINSPRUCH im Jahr 1998.