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DIE WELT

"Kraweel! Kraweel!"

Autorenlesungen sind manchmal peinlich. Doch gerade darin liegen ihr Trost und ihre Schönheit

Viel braucht es dazu nicht: ein Wasserglas als motorische Herausforderung, vorhandene Kopfbehaarung, eine knarzende Jacke sowie ein nicht ganz lupenreines "s". Und dann: "Melusine./ Kraweel! Kraweel!/ Taubtrüber Ginst am Musenhain,/ trübtauber Hain am Musenginst./ Kraweel! Kraweel!" Diese spezielle Form der Peinlichkeit heißt dann Dichterlesung.

Liest der Autor, ist dies unweigerlich mit der Bekanntgabe seiner Körperlichkeit verbunden. "Dem Dichter gelang es", schreibt Robert Walser ein halbes Jahrhundert vor Loriots legendärem Sketch, "ein gewisses Erbarmen einzuflößen, indem sich sein Anzug nicht frei von Bemängelungswürdigkeit zeigte." Ach, und: "Des Dichters Haar war meiner Meinung nach nicht ganz einwandfrei gescheitelt." Wer soll sich da noch auf Versfüße konzentrieren?

Die Institution "Dichterlesung" wird als bildungsbürgerliche Pflichtübung belächelt und vom großen Rezensionsfeuilleton weit gehend ignoriert. Dabei genehmigen sich Abend für Abend Tausende Literaturfreunde in Stadthallen, Literaturhäusern, Kellern und Türmen einen Autor oder eine Autorin. Man harrt freundlich aus auf unbequemen Stühlen. Beneidet in der staubtrockenen Luft den Dichter um sein Wasserglas. Beobachtet einander verstohlen in der Pose des Rodinschen Denkers. Vor allem: Man lässt sich, des Lesens mächtig, Texte vorlesen, die man oft schon kennt. Und das meist auch noch schlecht. Warum? Wie konnte es zu dieser in ihrer Fragwürdigkeit so beständigen Einrichtung des Kulturbetriebs kommen?

Zuerst einmal musste der lesende Mensch, der bis ins späte Mittelalter hinein die geschriebenen Worte laut aussprach, verstummen. Noch für Augustinus hatte gegolten: "außen lesen und innen begreifen". Wer lesen konnte, las, um zu memorieren, Lektüre bedeutete vor allem Gebet oder Predigt. Erst die Erfindung des individuellen, leisen Lesens, verbunden mit dem Geniekult des Sturm und Drang, verschaffte dem Dichter seinen Auftritt vor zahlendem Publikum. Inzwischen ist die Welt so laut, dass man nur noch in der Dichterlesung Gelegenheit findet, in Ruhe seinen eigenen Gedanken nachzuhängen.

Der jüngste Evolutionsschritt in der Geschichte der Lesung besteht nun darin, dass endlich einmal ernsthaft über ihr gegenwärtiges Erscheinungsbild und ihre Möglichkeiten nachgedacht wird. "Auf kurze Distanz" heißt der Sammelband, den Thomas Böhm, Literaturkritiker, Hörspiellektor und Programmleiter des Literaturhauses Köln, herausgegeben hat. Darin beklagt er die "mangelnde historische, wissenschaftliche, feuilletonistische Auseinandersetzung mit der Lesung", die nicht nur zum "Klischee der bildungsbürgerlichen Pflichtveranstaltung" geführt habe, sondern auch zum "Fehlen jeglicher Maßstäbe des Gelingens von Literaturvermittlung durch Lesungen". So gingen die schlechten Veranstaltungen immer weiter - "entgegen den kulturellen und letztlich auch wirtschaftlichen Interessen aller Beteiligten".

Aber allein die Tatsache, dass Böhm 17 Schriftsteller, Literaturvermittler und Wissenschaftler versammeln kann, spricht für die Dynamik und Vielschichtigkeit des Phänomens. Da wird nachgedacht über Stimme, Vortrag und Moderation (Ulrike Draesner, Walter van Rossum, Michael Lentz, Bernt Hahn), über die Lesung als "begehbares Feuilleton" in Literaturhäusern, Buchhandlungen, Schulen und Szene-Lokalen (Monika Rinck, Hauke Hückstädt, Norbert Niemann, Benedikt Geulen), über Verfransungen mit Performance und Popkonzert (Johannes Ullmaier), über Whiskey statt Wasser bei der Lesung und das damit verbundene Anrecht des Publikums, "mitzuerleben, wie der Referent sich zu Grunde richtet" (Harry Rowohlt). Ein vielstimmiger, reizvoll kakophonischer Gesang.

Das Wichtigste für den Literaturvermittler, meint Böhm, sei, der Lesung im Vorfeld ein "Erkenntnisinteresse" zu Grunde zu legen. Für den Leser/Lesungs-Besucher besteht dieses Interesse zuallererst in der Gretchenfrage der modernen Literaturandacht, die zu stellen mindestens einem der Anwesenden nie peinlich ist: "Ist das autobiografisch?" Und zweitens aus dem Wunsch, einem tröstlich marktfernen, per se intelligenten, authentischen Ereignis beizuwohnen. Beides gilt sowohl für die traditionelle Lesung mit Wasserglas als auch für die betont unambitionierte Lesebühnendarbietung unter der Disko-Kugel.

John von Düffel weiß inzwischen, dass der vermutlich heftigste Wunsch des Lesungspublikums dazu neigt, sich selbst zu erfüllen. Am Anfang seiner Lesungen "Vom Wasser" behauptete er noch eisern, das Buch habe inhaltlich nichts mit seinem Leben zu tun. Einige Lesungen und Zuhörerfragen später kapitulierte er: "Das, was nicht autobiografisch war, war inzwischen autobiografisch geworden. Dichtung und Wahrheit hatten sich in einem unentwirrbaren Suggestionssog vereint." Vollends zu sich selbst kommt die Lesereise als Autobiografiegenerator, wenn der Schriftsteller die Zeit auf Reisen nutzen muss, um sein nächstes Buch zu schreiben. Erzähle mir, Dichter, vom Dichter, dem viel Gereisten, und seinem schizophrenen Berufsbild: "Das ist nicht mein Beruf", wundert sich Max Frisch in "Montauk" selbstentfremdet, "aber da stehe ich."

Wenn es zum Berufsbild des Autors gehört, den Autor darzustellen, kann man ja gleich ins Kino gehen. Zumal es dort ab nächstem Donnerstag möglich ist, sich der Illusion hinzugeben, der Autobiografie eines Schriftstellers teilhaftig zu werden: Schauspieler Ethan Hawke, auch im richtigen Leben dichtend ("Aschermittwoch"), darf am Anfang von Richard Linklaters Kinofilm "Before Sunset" ein wenig überrascht herumstammeln, als ihm am Ende einer Lesung die Autobiografiefrage gestellt wird. Hier endlich genießt der Zuschauer die Gewissheit, dabei gewesen zu sein, als die Erinnerungen entstanden sind, die Hawkes Figur zum Schriftsteller werden ließen: Vor neun Jahren redeten Hawke und Julie Delpy in "Before Sunrise" eine Nacht lang in Wien unaufhörlich sich verliebend aufeinander ein. In der Fortsetzung "Before Sunset" reden sie wieder und reden, schweifen durch all die schönen Straßenmöglichkeiten, bis der Film in Musik übergeht und sanft die Augen schließt, um Hawke neue, aufzeichnungswürdige Erinnerungen produzieren zu lassen.

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Unsere Kultur des gesprochenen Dichterwortes steht offenbar zwischen zwei Extremen: der Obsession, sich ein Bild vom Autor zu machen; und dem Genuss, es verschwinden zu lassen. Das führt dann entweder zu Rainald Goetz, der sich dereinst in Klagenfurt mit einer Rasierklinge die Stirn ritzte und dadurch schlagartig berühmt wurde; oder zum Hörbuch, als dessen Vordenker Goethe und Schiller gelten dürfen. "Der Rhapsode", erklären sie in ihrer Schrift "Über epische und dramatische Dichtung", solle "als ein höheres Wesen" in seinem Gedicht "nicht selbst erscheinen, er läse hinter einem Vorhange am allerbesten, so dass man von aller Persönlichkeit abstrahierte und nur die Stimme der Musen im Allgemeinen zu hören glaubte."

Und damit wären wir bei der zweiten großen Sehnsucht, die den klassischen Lesungsbesucher umtreibt: jener nach der reinen Kunst, nach dem "Non-Event-Event". Veranstaltungen wie etwa Judith Hermanns Lesung aus "Nichts als Gespenster" in den morbiden Berliner "Sophiensälen" sind nichts als professionelle Events, die auf dem Markt gerade deshalb erfolgreich sind, weil sie ihren Besuchern ein Gefühl von Marktunabhängigkeit verkaufen - so Stephan Porombkas "böse Pointe". Marketing war schließlich schon immer ein enger Verbündeter der Literatur: "Wer das leugnet, handelt auf fahrlässige Weise, weil er meint, Literatur habe durch ein ausgezeichnetes Wesen, durch ein Image der Marktdistanz ein grundsätzliches Anrecht darauf, wahrgenommen und konsumiert zu werden."

Doch nicht erst wenn alles stimmt, kann die Autorenlesung ihre "tröstliche Schönheit" (Gerhard Schröder) voll entfalten. Manchmal besteht ihre Wirkung gerade im "Trost der Peinlichkeit" ("FAZ"); darin, "dass der Autor den angelesenen Erwartungen nicht entspricht", wie der Literaturkritiker Thomas Steinfeld die eigentliche "Peinlichkeit der Lesung" apostrophiert. Wenn Günter Grass, wie kürzlich geschehen, im Stadion des FC St. Pauli zwei mal 45 Minuten lang vorliest, spricht freilich alles für den perfekten Event: die Besetzung eines gemeinhin literaturfreien Ortes, der Starauftritt. Und das Erkenntnisinteresse: Literatur ist rund und dauert 90 Minuten.

Solche Ent- und Verfremdungseffekte zwischen Autor und Werk, Publikum und Literatur-Ort, lehrt Böhms Band, sind schön und richtig. Hier soll noch einmal Robert Walser zu Wort kommen, unser Haar- und Mantelspezialist. Als der mittellose Dichter nach drei Tagen Fußmarsch in Zürich angekommen war, um aus seinem Werk zu lesen, bescheinigte ihm der Veranstalter bei der Generalprobe: "Aber Herr Walser, Sie chönd ja nüd läse!"

Robert Walser war sauer. Nicht aus verletzter Eitelkeit, sondern weil er sich um sein Honorar Sorgen machte. Schließlich sprang ein Rezitator ein. Walser saß dann inkognito und dankbar in der ersten Reihe: "Es wurde geklatscht, und ich klatschte mit; weshalb hätte ich's nicht tun sollen? War's mir doch, als säße ich da wie irgendein Beliebiger und mein Kamerad läse Dinge, die mir völlig neu seien. . . . Ich war es nicht und war's doch, und es war nicht mein und doch wieder niemand anderes Werk als meines."

Thomas Böhm (Hg.): Auf kurze Distanz. Die Autorenlesung. Tropen, Köln. 192 S., 15,80 EUR.

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