Psychiatrienetz: Strauß/Schwarwel: Nicht gesellschaftsfähig
Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Nicht gesellschaftsfähig - Alltag mit psychischen Belastungen

Ein Riesenwälzer, 2020 erschienen im Verlag Glücklicher Montag, Leipzig. Wer dahinter steht? Verantwortlich für die Kopfgeburt und Produktion: Die Produzentin Sandra Strauß und der Cartoonist Tommy Schwarwel, die gemeinsam das Leipziger Studio für Animation und Film, Comic und Graphic Novel, Cartoon und Karikatur und vieles mehr betreiben. Was ist ihr Ziel? Hier ein Auszug aus dem Geleit:

»Wie ihr gleich auf unseren 612 #nichtgesellschaftsfähig-Seiten lesen werdet, haben wir es zusammen und gemeinsam mit all unseren Beteiligten geschafft, ein Œuvre an intensiven, gefühlvollen und offenherzigen Texten und Beiträgen zu vereinen, die ihre Wirkung haben, die wirken und nachwirken – mit einem tiefen Blick in unsere Psyche, unsere Seele, in die Wahrnehmung, Erlebenswelt und in das Gefühlsleben. (…) Und ja, es sollte genau diese bunte Mischung werden, die es jetzt ist: ein Kompendium, ein Almanach, ein Magazin, ein Lesebuch und irgendetwas dazwischen mit kurzen Texten, vielen Fotos, Bildern, Illustrationen, Comics und Cartoons von vielen verschiedenen Beteiligten.«

Sämtliche Autorinnen und Autoren, interviewte Betroffene wie auch medizinisch und therapeutisch Tätige sind aktiv in der psychiatrischen Szene. So wurde als betroffener Künstler u. a. Torsten Sträter gewonnen, ein Comedian, der mit recht trockenem, abgehacktem Schriftdeutsch-Humor sein Dilemma nach außen lächelnd, obwohl innerlich weinend, beschreibt – mehr wird nicht verraten.

Ob berühmt und in der großen Öffentlichkeit präsent oder still im Kämmerlein, alle zusammen stellen einen sehr großen Teil unserer Gesellschaft dar. Auch viele Betroffene sind durchaus fähig, inmitten dieser Gesellschaft erfolgreich und glücklich zu leben und zu überleben. Psychische Erkrankungen werden salonfähig, viele Stimmen brechen im Buch Tabus mit »Statements zur Enttabuisierung und Entstigmatisierung an die Gesellschaft«, die parallel z. T. auch mit dem Hashtag #ngf in den sozialen Medien geteilt werden.

Ein Aufruf, auch im Zuge der Pandemie, mehr über Sorgen und Ängste zu sprechen, war »don‘t panic«; Betroffene erzählen hier mutig ihre Geschichten. Beim Lesen werden sich mit Sicherheit viele Aha-Effekte und Déjà-vu-Erlebnisse ergeben, der Leser kann spüren »Genauso erging es mir auch, oje das schmerzte« und sie geben Hoffnung, wir können trotz alledem unseren Weg gehen. Jeder, jeden Tag und wenn es sein muss, im Bett liegen bleiben und lesen oder auch schreiben und zeichnen, unser oft letztes und ausdruckvollstes Mittel, um sich der Welt mitzuteilen!

»Nicht gesellschaftsfähig« ist ein gelungenes Werk. Wer eine Abneigung gegen dicke Schmöker hat wird von der Vielfalt der Interviews, persönlichen Berichte und Artikel aufgelockert durch Fotos, Cartoons und Comics wirklich überrascht sein. Jeder Beitrag ist ein Kunstwerk für sich. Gothic- und Punkfans kommen auf ihre Kosten, gerade sie drücken den Kampf zwischen Diesseits und Jenseits künstlerisch aus und finden sich hier wieder.

Und ja: Es ist »schwere Kost«, wiegt gefühlte fünf Kilogramm und wirkt schwer verdaulich – mit Nebenwirkungen und Triggerwarnung: Achtung, kann Panik und Ängste hervorrufen. Das Positive daran: Triggergefährdete können es schaffen, dass Trigger sie nicht mehr berühren, wenn sie lernen, Abstand zu gewinnen, das erfordert natürlich Übung und Disziplin, sich selbst zu beruhigen, um letztendlich auf den Weg der Erkenntnis und Heilung zu gelangen. Ein Aufruf, Hilfe zu suchen und das Stigma nicht länger in totaler Isolation als Martyrium zu ertragen.

»Nicht gesellschaftsfähig« ist ein »Almanach im Magazin-Style«, der in jedem Wartezimmer zu finden sein sollte. Er sollte zur Pflichtlektüre in allen Praxen werden. Wahrscheinlich wird er wie die Ausstellungskataloge in Museen angekettet ausliegen müssen, damit er nicht entwendet wird und vielen Betroffenen und Interessierten zur Verfügung steht. Denn man findet darin immer gerade das, was man braucht, was einen trägt und zuversichtlich stimmt.

Daniela B. Schmid in Psychosoziale Umschau

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024