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Wie ein Mord der RAF zwei Familien zerstört hat

Jürgen Ponto Jürgen Ponto
Von der RAF ermordet: Der Banker Jürgen Ponto, hier im Dezember 1974
Quelle: pa/dpa
Corinna Ponto, Tochter des ermordeten Bankers Jürgen Ponto, und Julia Albrecht, Schwester der Mörderin, brechen mit einem Buch über Opfer der RAF nach Jahrzehnten ihr Schweigen.

Patenschaften sind nicht unbedingt das Resultat verwandtschaftlicher Beziehungen. Ihnen liegt meist eine Wahl zugrunde. Von einem Paten soll aus freien Stücken eine Fürsorgepflicht übernommen werden. Patenschaften basieren nicht auf Tauschbeziehungen. Die Patenkinder übernehmen im Gegensatz zu jenen, die diese Beziehungen gestiftet haben, keine Verpflichtungen. Es sind insofern höchst einseitige Angelegenheiten, ihnen ist eine gewisse Empathie zu eigen.

Zwei Patentöchter haben nun ein Buch über Opfer der RAF verfasst, dem die prekäre Beziehung zweier ursprünglich eng miteinander befreundeter Familien zugrunde liegt (Titel: "Patentöchter“). Die eine, Julia Albrecht, war die Patentochter des am 30. Juli 1977 von der RAF ermordeten Bankiers Jürgen Ponto, die andere, dessen Tochter Corinna, die Patentochter von Albrechts Vater, einem angesehenen Hamburger Rechtsanwalt.

Die beiden Männer hatten gemeinsam Jura studiert und waren eng miteinander befreundet; ihre Freundschaft wiederum stiftete eine enge Bindung zwischen den Familien.

Sie dauerte bis zu jenem Schreckenstag im Sommer 1977, als Julias Schwester Susanne einem RAF-Kommando Zugang zum Haus der Pontos in Oberursel verschaffte. Ponto hätte entführt werden sollen. Als sich der Vorsitzende der Dresdener Bank zu wehren versuchte, indem er die von Christian Klar auf ihn gerichtete Waffe wegdrehte, wurde er von Brigitte Mohnhaupt niedergeschossen. Die damals 26-jährige Susanne Albrecht war selbst Mitglied der RAF. Sie war nicht nur Zugangsbeschafferin, sondern auch Mittäterin. Unter Ausnutzung der Freundschaftsbeziehungen hatte sie eine Mordaktion ermöglicht, die von Frau Ponto, die das furchtbare Geschehen aus unmittelbarer Nähe miterleben musste, als Hinrichtung ihres Mannes wahrgenommen wurde. Unter Kommentatoren galt Susanne Albrechts Tat als besonders perfide, noch verwerflicher als das, was Mohnhaupt und Klar begangen hatten.

Es gab keine Erklärung für das Unfassbare

Unter dem Schock dieses Attentats trat zwischen beiden Familien eine tief reichende Blockade auf, die trotz eines vorsichtigen Verständigungsversuches nicht mehr zu überwinden war. Die Beziehungen waren gekappt, jede Familie für sich in ihrem inneren Zusammenhalt gefährdet, wenn nicht gar zerstört. Niemand hatte eine Erklärung für das Unfassbare. Die Albrechts waren durch die Tat der Tochter regelrecht stigmatisiert.

Nach drei Jahrzehnten des Schweigens haben Julia Albrecht und Corinna Ponto einen Briefwechsel begonnen, der im Zentrum des Buches steht. Was diesen Band zu einem ungewöhnlichen Dokument macht, ist die Tatsache, dass es die Kluft zwischen Angehörigen, die der Opfer- wie der Täterseite zuzurechnen sind, zum Ausgangspunkt einer ebenso spannungsgeladenen wie vielschichtigen Kommunikation macht.

Der Leser wird zum Zeugen eines Prozesses, in dem zwei Frauen um die Zurückgewinnung der Sprache ringen. Immer wieder ist es eine Gratwanderung, die sie unternehmen müssen, um nicht selbst in den zwischen ihren Familien klaffenden moralischen Abgrund gerissen zu werden.

Julia Albrecht schreibt von der "Niedertracht des Verrats an der befreundeten Familie“. Ihr inzwischen verstorbener Vater habe die Tat "als Vernichtung seiner selbst“ wahrgenommen. Obwohl er noch am ehesten von der Verstrickung seiner Tochter Susanne in die Untaten der RAF gewusst habe, sei er völlig unfähig gewesen, sich deren Verhalten zu erklären. Ebenso wenig wie für seine Frau und ihre anderen Kinder gab es eine Antwort auf die Frage nach dem Motiv, den Gründen für die Ermordung seines engsten Freundes Jürgen Ponto.

Warum warf Susanne Albrecht alle Skrupel über Bord?

Doch bereits damals konnte man wissen, dass die RAF angetreten war, um das von ihr verhasste System zu treffen. In den Augen ihrer Kommandomitglieder war Ponto als Chef einer der wichtigsten deutschen Banken ein besonders hochrangiger Vertreter des Finanzsystems, das angeblich für Unterdrückung und Ausbeutung mitverantwortlich war. Die Tatsache, dass mit Susanne Albrecht eines ihrer Mitglieder sein (zumindest im Privatbereich überhaupt nicht vorhandenes) Sicherheitssystem ausspionieren konnte, war eine besondere Gelegenheit.

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Die Opfer der RAF sind – und darin ist Corinna Ponto zuzustimmen – alles andere als zufällig ausgesucht worden. Es waren neben Polizisten, Chauffeuren und anderen Bediensteten vor allem Angehörige bestimmter Funktionseliten, auf die es die RAF abgesehen hatte. Die meisten entstammen dem Wirtschafts- und dem Finanzkapital, dem diplomatischen Dienst, der Politik und der Justiz. Es waren Industriemanager, Bankchefs, Fabrikdirektoren, Wirtschafts- und Militärattachés sowie ein Kammergerichtspräsident und ein Generalbundesanwalt.

Als die RAF zur "Offensive 77“ blies, um ihre inhaftierten Kernmitglieder freizupressen, ermordete sie mit Generalbundesanwalt Siegfried Buback, dem Bankier Ponto und Hanns-Martin Schleyer, dem Präsidenten des Arbeitgeberverbandes, drei führende Repräsentanten von Staat, Finanzkapital und Großindustrie. Der Angriff diente einerseits zwar der Freipressung, andererseits richtete er sich aber auch gegen die drei Säulen des bundesdeutschen Staats- und Gesellschaftssystems.

Doch warum hatte Susanne Albrecht alle Skrupel über Bord geworfen? War sie so voller Hass auf die Bourgeoisie, der sie selbst entsprungen war? Die Infragestellung des von ihrer Familie repräsentierten Wertesystems reichte jedenfalls so tief, dass sie allesamt heillos überfordert waren. Vater Albrecht stellte sich gar die Frage, ob es auch so etwas wie eine "Schuld der Eltern“ gebe? Wie war es möglich, dass die Tochter den Freund verriet und damit auch dessen und die eigene Familie? Was sollten er und seine Frau in ihrer Erziehung verkehrt gemacht haben? Auf all diese beunruhigenden, ja verstörenden Fragen gab es für ihn keine Antwort.

Ihr Schuldeingeständnis wirkte kalkuliert

Viele Jahre lang wusste man nicht, was aus Susanne Albrecht geworden war. Immer wieder tauchten – falsche – Hinweise auf ihren Aufenthalt auf. Erst als die Mauer fiel und sich die DDR auflöste, stellte sich heraus, dass ein Dutzend ehemaliger RAF-Mitglieder unter falscher Identität im SED-Staat untergetaucht war. Als sie 1990 verhaftet wurden, befand sich auch Susanne Albrecht unter ihnen.

Vor Gericht gestellt, ließ Julia Albrecht keinen Verhandlungstag aus, um mitzuverfolgen, was ihre einst so verehrte Schwester zu der Untat bewogen hatte. Doch die Einblicke waren ernüchternd. Zwar distanzierte sich die Angeklagte von dem Verbrechen, aber sie weigerte sich, Verantwortung zu übernehmen. Ihr Schuldeingeständnis wirkte kalkuliert und vorhersehbar. Julia wirft ihr vor, völlig ausgeblendet zu haben, dass es in ihrer Rolle als Türöffnerin um nichts anderes als um ein Menschenleben gegangen sei. Für sie war das, was sie in Stammheim erlebte, "moralisch der Tiefpunkt“.

In dem Buch wird das in der Privatheit versteckte Unglück sichtbar, in das Terroristen ihre Opfer von einer Minute auf die andere stürzen können. Corinna Pontos und Julia Albrechts Anspruch ist es nicht nur, die Tat und ihre Hintergründe neu zu vermessen, sondern "Innenräume der Erinnerungen und Gefühle“ zu betreten.

Das hat vor ihnen so noch niemand getan. Möglich wurde es wohl nur, weil sich zwei Angehörige der jüngeren Generation getroffen und bei ihrem Versuch unterstützt haben, das Unaussprechliche, das wie ein Bleigewicht auf beiden Familien lag, immer wieder neu zu umkreisen – und wenn auch nicht zu bezwingen, so doch zu durchdringen.

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Das Resultat zeigt, wie die in Bezug auf die Verbrechen der RAF vorherrschende Sprachlosigkeit überwunden werden kann. Während sich im Prozess gegen Verena Becker die einstigen RAF-Mitglieder fast ausnahmslos ausschweigen und auch vonseiten der staatlichen Behörden viel zu wenig unternommen wird, um das Oberlandesgericht Stuttgart bei seiner Rechtsfindung durch die Freigabe der dafür notwendigen Dokumente zu unterstützen, haben hier zwei Frauen ein Beispiel geliefert. Sie haben sich – auch auf die Gefahr hin, sich dabei gegenseitig verletzen zu können – den Untiefen ihrer Traumatisierungen ausgesetzt. Die Familien- und Freundesgeschichten im Schatten der RAF werden uns wohl noch lange beschäftigen.

Julia Albrecht/Corinna Ponto, "Patentöchter. Im Schatten der RAF“ – Ein Dialog, Kiepenheuer und Witsch

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