Schlüsselwörter

1 Einleitung

Unter Neonazismus sind rechtsextreme Bestrebungen zu verstehen, die der Wiedererrichtung eines nationalsozialistischen politischen Systems den Boden bereiten wollen. Neonazis stellen sich programmatisch und/oder durch ihre Symbole und ihr Handeln in die Tradition des Nationalsozialismus.

Als rekonstruktive Erscheinungsform konnte der Neonazismus erst nach der Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands im Mai 1945 entstehen. Neonazismus ist ein internationales Phänomen, die meisten seiner Hochburgen liegen jedoch traditionell im deutschsprachigen Raum. Die positive Bezugnahme auf den Nationalsozialismus reicht bei Neonazis über eine Exkulpation der historischen Erscheinung hinaus, weil sie in ihm ein Vorbild oder eine Inspiration für die Zukunft sehen. Im Mittelpunkt stehen kann der historische Nationalsozialismus als Gesamtes, aber auch konkrete Subströmungen und Personen, die „Kampfzeit“ oder die nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945.

Neonazismus ist eine Unterkategorie des Rechtsextremismus und äußert sich im Rahmen von politischen Organisationen, aber auch als Merkmal von Subkulturen oder Szenen. Parolen und Symbole des historischen Vorbilds werden adaptiert und zuweilen mit neuer Bedeutung aufgeladen. Um Gesetzesverstöße zu vermeiden und auch aus politisch-strategischen Erwägungen angesichts ihrer politischen Marginalisierung treten Neonazis nicht in allen Situationen offen auf, sondern arbeiten mit Andeutungen und kodieren ihre politischen Ansichten.

Vom Neonazismus werden sowohl legale als auch illegale Methoden des politischen Handelns genutzt – von Wahlteilnahmen über Demonstrationen, der Verbreitung von Propaganda bis hin zu Gewalt. Neonazistische Gruppen griffen immer wieder zu terroristischen Mitteln.

Im Wesentlichen entstand der Neonazismus in Deutschland als aktivistische, militante Szenerie in den 1970er-Jahren. Als politisch organisiertes Spektrum, aber auch als sub- und jugendkulturelle Erscheinung erreichte er in Deutschland seinen bisherigen Höhepunkt in den 1990er- und 2000er-Jahren. In den vergangenen Jahren hat er sich auf das Wirken einiger Bewegungsorganisationen verdichtet und erhält seine subkulturelle Infrastruktur aufrecht.

Der vorliegende Beitrag ordnet den Neonazismus zunächst anhand der Forschungsliteratur in das größere Feld des Rechtsextremismus ein und arbeitet seine wesentlichen Merkmale heraus. Danach wird die Entwicklung des Neonazismus in den deutschen Staaten skizziert und um eine knappe Perspektive auf internationale Entwicklungen ergänzt. Es folgt eine Betrachtung der unterschiedlichen Strömungen sowie ein Aufriss der Themen, die der Neonazismus bedient und welche Mittel er dabei einsetzt. Wesentliche Akteure und eine Abschätzung ihrer personellen Stärke werden anschließend genannt, bevor der Wissensstand zum Phänomen rekapituliert wird und Desiderata herausgestellt werden.

2 Abgrenzung und Merkmale

In der Literatur ist unstrittig, dass zum Neonazismus eine positive Bezugnahme auf den Nationalsozialismus gehört. Schon 1979 definierte Hein Stommeln Neonazismus als „Versuch der Wiederbelebung nationalsozialistischen Gedankenguts“, der sich mit dem politischen Bestreben verknüpfe, eine entsprechende Staatsordnung zu errichten (Stommeln 1979, S. 8). Hans-Gerd Jaschke bestimmte 1994, dass Neonazis „sich offen in die Tradition des Nationalsozialismus stellen – ideologisch-programmatisch und/oder über Symbolik und Gruppenverhalten“ (Jaschke 1994, S. 38).

Neonazismus wird gemeinhin als Ausformung des Rechtsextremismus eingeordnet, manchmal als eine Art Zuspitzung desselben. So befand Martin Thein 2009, dass der Neonazismus die Ideologieelemente des klassischen Rechtsextremismus „steigert“ (Thein 2009, S. 33). Christoph Butterwegge sah 1996 den Neonazismus als „besonders militante Fraktion“ des Rechtsextremismus (Butterwegge 1996, S. 15) und Norbert Madloch benannte im Jahr 2000 den Neonazismus als „radikalste und brutalste Spielart des heutigen Rechtsextremismus“ (Madloch 2000, S. 259). Es ließe sich festhalten, dass schon dem Ansinnen, den Nationalsozialismus dessen historischen Verbrechen zum Trotz zu verherrlichen und revitalisieren zu wollen, eine besonders radikale Qualität innewohnt.

In den meisten Betrachtungen wird Gewalt als ein für die Praxis des Neonazismus typisches Mittel herausgestellt. Samuel Salzborn beschrieb etwa 2014 den Neonazismus als Metier „außerparlamentarischer Gruppen“, die das Ziel der „Wiedererrichtung einer den Nationalsozialismus kopierenden politischen Ordnung“ eine, wofür sie „Gewalt und Terror“ einsetzten (Salzborn 2014, S. 45). Abweichend von dieser Sichtweise kritisierte Martin Thein 2009, dass der Befund der Gewalttätigkeit teilweise auf „übertrieben anmutenden Einschätzungen“ beruhen würde. Seiner Ansicht nach gab es Anzeichen, dass neonazistische Kameradschaften aus „taktischen Erwägungen“ auf Gewalt verzichten und nicht versuchen würden, ihre Ziele gewalttätig durchzusetzen (Thein 2009, S. 34).

In der Geschlechterperspektive dürfte außer Frage stehen, dass Jaschkes Befund, es handele sich bei Neonazis um „zumeist männliche Aktivisten“ (Jaschke 1994, S. 38), anhaltende Gültigkeit hat. Allerdings wurde aus der feministischen Rechtsextremismusforschung auf die Präsenz von Frauen im Neonazismus hingewiesen, die zwar konstant eine Minderheit seien, nichtsdestotrotz aber einen erheblichen Anteil ausmachten und für deren Bedeutung eine Wahrnehmungslücke bestehe.Footnote 1

Begriffslogisch ist der Neonazismus als historisch verortete Erscheinung zu begreifen, die erst nach dem Ende des „Dritten Reichs“ entstehen konnte. Es wäre möglich, jede pro-nationalsozialistische Bestrebung, die nach dem 8. Mai 1945 erfolgte, als neonazistisch einzuordnen. Tatsächlich ist schon in der frühen Bundesrepublik die Nutzung des Terms nachweisbar (etwa: Kaindl-Hönig 1949). Jedoch erscheint es sinnvoller, vom Neonazismus die Nachkriegsnetzwerke des ehemaligen nationalsozialistischen Personals („Altnazis“) zu unterscheiden, und zwar sowohl deren Versorgungs- und Erinnerungsgemeinschaften oder Interessenvertretungen als auch ihre Bestrebungen innerhalb der Institutionen und politischen Organisationen in der Bundesrepublik. Vielmehr ist der Neonazismus als Wiederaneignung des Nationalsozialismus durch Akteure zu begreifen, die erst mit dem Eintritt einer neuen Generation Rechtsextremer in den politischen Aktivismus begann. Diese waren politisch kaum mehr oder gar nicht mehr im System des Nationalsozialismus geprägt worden und wendeten sich (häufig unter dem Einfluss von Altnazis) dennoch der Ideologie, Weltanschauung und den Symbolen des Nationalsozialismus zu.Footnote 2

Neonazismus kann auf formeller Ebene unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Zu ihm zählen entsprechend ausgerichtete publizistische Formate, Propagandaformen und politische Organisierungsarten wie Parteien, Vereine und auch Zusammenschlüsse wie Aktionsgruppen, „Freundeskreise“ oder „Kameradschaften“. Zudem sind kulturelle Ausprägungen wie Szenen und Subkulturen zum Neonazismus zu zählen, sofern ihnen eine solche ideologische Ausrichtung in ausreichender Festigkeit und Ernsthaftigkeit zugrunde liegt.Footnote 3

Neonazismus ist eine Subkategorie des Rechtsextremismus und in das damit bezeichnete politische Lager eingebettet. Zuweilen wird er auch synonym zu oder als deutsche Ausprägung des internationalen Neofaschismus verstanden. Im deutschen Rechtsextremismus allgemein ist eine Tendenz zur Entschuldung des Nationalsozialismus feststellbar, dessen Verbrechen nicht selten bestritten oder verharmlost werden. Qualitativ geht der Neonazismus allerdings über diese apologetische Tendenz hinaus, weil er dem Nationalsozialismus zugeschriebene positive Eigenschaften anhaltende Gültigkeit zuspricht: Der Nationalsozialismus wird nicht nur als Erscheinung einer spezifischen Epoche verstanden, sondern als sinnvolle Idee für die Zukunft und als adäquater Begriff für eine erstrebenswerte, ideale Ordnung imaginiert.

Schon hieran lässt sich eine Unterscheidung beispielsweise zur Neuen Rechten festmachen. Diese rechtsextreme Strömung entstand in der Bundesrepublik im gleichen zeithistorischen Kontext wie der Neonazismus und weist als Adaption der so genannten „Konservativen Revolution“, im Solidarismus und anderen Teilbereichen tiefe Bezüge zum NS-Erbe und zu frühnationalsozialistischen Ideen und Protagonisten auf. Der Nationalsozialismus und seine Symbole werden aber gerade nicht als Bezeichnung für ein in der Zukunft liegendes politisches Ziel genutzt, zuweilen wird sogar eine Tradition zu einer anti-nationalsozialistischen Dissidenz behauptet.

3 Geschichte

Erste nationalsozialistische Neusammlungsversuche nahmen schon in der Besatzungszeit zwischen 1945 und 1949 und in der Gründungsphase der Bundesrepublik ihren Anfang.Footnote 4 Im westlichen Einflussbereich konnten sich trotz anfänglicher alliierter Beschränkungen schon frühzeitig ehemalige Nazis politisch betätigen. In Organisationen wie der 1949 gegründeten „Sozialistischen Reichspartei“ (SRP)Footnote 5 wurde der Reichsgedanke aufrecht erhalten und ein nostalgisch-verklärender Blick auf den Nationalsozialismus gepflegt (Institut für politische Wissenschaft 1957). Als die SRP 1952 verboten wurde und 1953 zudem die „Naumann-Verschwörung“ zur Unterwanderung der FDP in Nordrhein-Westfalen durch ehemalige Nationalsozialisten um Werner Naumann (1909–1982) aufflog, wurde offenbar, dass eine unmittelbare Fortführung dieser Art von Politik nicht mehr aussichtsreich war. Die vormalige NSDAP-Anhängerschaft wählte mehrheitlich die Parteien der Adenauer-Regierung. In Interessenorganisationen wie Soldaten- oder Vertriebenenverbänden blieben ehemalige Nazis aktiv.

Eine Latenz für ein nationalsozialistisches Revival wurde angesichts der Hinwendung mancher Angehöriger nationalistischer Jugendverbände zu nationalsozialistischen Ideen deutlich. Schon die SRP hatte ab 1950 eine „Reichsjugend“ aufgebaut, deren Erbe nach dem Parteiverbot die bis zu deren Verbot 1994 bedeutsame „Wiking-Jugend“ (WJ) antrat. In diesen und anderen Mitgliedsorganisationen des bis Ende der 1960er-Jahre tätigen Dachverbands „Kameradschaftsring Nationaler Jugendverbände“ (KNJ) wurden ehemalige NS-Funktionäre in der Jugendarbeit tätig. Zwischen seiner Gründung 1956 und dem Verbot 1961 diente der deutlich in nationalsozialistischer Tradition stehende und dem KNJ angehörende „Bund Nationaler Studenten“ (BNS) als weiteres wichtiges Sammelbecken für junge Rechtsextreme. Vereinigungen wie der „Bund Heimattreuer Jugend“ (BHJ) präsentierten sich – trotz des schon in der Namensgebung nachvollziehbaren Bezugs zur Hitlerjugend (HJ) – in Richtung der Öffentlichkeit durchaus als „demokratisch“. Allerdings wurden immer wieder Vorfälle bekannt und zu Skandalen, bei denen ihre Mitglieder nationalsozialistische Traditionen zelebriert hatten. In, teilweise aber auch an und neben diesen Organisationen bestand damals und besteht bis heute ein kleines, aber für den Rechtsextremismus stabilisierendes völkisch-antisemitisches Kernmilieu aus Familienverbünden, in denen nationalsozialistische Ideen von Generation zu Generation tradiert werden.

Nicht mehr zu leugnen war die Existenz jugendlicher Milieus, die ihre antisemitischen und rechtsextremen Überzeugungen mittels der Symbole des Nationalsozialismus ausdrückten, angesichts mehrerer hundert Vorfälle im gesamten Bundesgebiet während der sogenannten Hakenkreuzschmierwelle 1959 und 1960 (Dudek und Jaschke 1982, S. 71; Bundesregierung 1960; Bessel-Lorck et al. 1966). Hier waren erstmals Angehörige von Jahrgängen am Werk, die so jung waren, dass sie während des Nationalsozialismus kaum mehr durch Organisationen wie das Jungvolk erfasst oder geprägt worden waren.

Trotzdem kann in dieser Phase insgesamt noch nicht von der Existenz eines formierten Neonazismus ausgegangen werden. In seiner 1967 auf Englisch publizierten, klassischen Studie zum radikalen Nationalismus in Westdeutschland ordnete Kurt Tauber zwar einige der von ihm untersuchten politischen Akteure wie die SRP (Tauber 1967, S. 126) oder den Schriftsteller Hans Grimm (1875–1959) als „neo-nazi“ ein (Tauber 1967, Bildanhang). Als Charakterisierung für den neueren antidemokratischen Nationalismus in Deutschland sei diese Bezeichnung aber „irreführend“ (Tauber 1967, S. XVI). Insofern sei, so Tauber, zu dieser Zeit Neonazismus eher nur ein „Phantom“ (Tauber 1967, S. 982).

Der wichtigste Impuls für die Entstehung des Neonazismus als politscher Strömung kam erst am Ende der 1960er-Jahre. Die 1964 gegründete „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD) hatte versucht, sich von der Reichsnostalgie ihres politischen Lagers zu emanzipieren und sich als rechtsextreme, aber staatstragende politische Kraft in der Bundesrepublik zu etablieren. Zunächst erzielte die Partei beachtliche Wahlerfolge auf den Ebenen der Bundesländer. Bei den Bundestagswahlen 1969 verpasste die NPD jedoch knapp den schon sicher geglaubten Einzug in den Bundestag. Angesichts dieses Scheiterns war für das rechtsextreme Lager der Sinn eines zivilen Erscheinungsbildes infrage gestellt (Botsch 2012, S. 47), wodurch Räume entstanden für fundamentaloppositionelle sowie für den Einsatz von Gewalt offene Strategien und schließlich auch für neonazistische Positionen. Die von der NPD initiierte „Aktion Widerstand“ 1970 und 1971 gegen die Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung nahm einen gewaltsamen Verlauf und bot dabei Erlebnisräume für eine junge Generation Rechtsextremer, die sich teilweise terroristischen Strategien zuwandten (Kopke 2010). Als ein Personenreservoir für gewaltvolle Praktiken entpuppte sich der schon im Bundestagswahlkampf von 1969 als gewalttätig aufgefallene „Ordnungsdienst“ (OD) der NPD, daneben entstanden weitere Gruppen.

Etwa zeitgleich, 1969, scheiterte der Hamburger Wolf Dieter Eckart (Jg. 1939) noch damit, einen „Bund Deutscher Nationalsozialisten“ (BDNS) auszurufen, weil noch vor dem Termin der Gründungsversammlung ein Verbot ausgesprochen wurde. Nichtsdestotrotz betrieb Eckart über Jahre einen „Freundeskreis der NSDAP“, verbreitete entsprechende Propaganda und übte auf den späteren Neonazi-Anführer Michael Kühnen Einfluss aus.Footnote 6 Eckart arbeitete unter anderem mit Gerhard Lauck (Jg. 1953) zusammen, einem deutschstämmigen US-Amerikaner, der 1972 in seiner Heimat die Netzwerk- und Propaganda-Agentur NSDAP-AO („Aufbau-“, beziehungsweise „Auslandsorganisation“) gegründet hatte.

Im Zuge der Ereignisse zwischen dem Ende der 1960er- und den frühen 1970er-Jahren bahnten sich somit in der Bundesrepublik die Rahmenbedingungen an, unter denen sich der Neonazismus formieren konnte. In der weiteren Folge setzte – auf zunächst niedrigem quantitativem Niveau – ein Anwachsen der neonazistischen Organisierung ein. Typisch wurden aktionistische oder publizistisch-propagandistische Gruppen, die sich meist um jeweils dem historischen Nationalsozialismus noch direkt verbundene Führungsfiguren scharten – etwa die „Deutsche Bürgerinitiative“ (DBI) um Manfred Roeder (1929–2014), der „Kampfbund Deutscher Soldaten“ (KDS) um Erwin Schönborn (1914–1989), die „Bürger- und Bauerninitiative“ (BBI) und die Zeitschrift „Die Bauernschaft“ um Thies Christophersen (1918–1997) oder die „Nationale Deutsche Befreiungsbewegung“ (NDBB) um Roland Tabbert (Jg. 1929). Ebenfalls diesem Typus entsprach die 1971 von Friedhelm Busse (1929–2008) gegründete „Partei der Arbeit“ (PdA) mit ihrem deutlich neonazistisch-aktivistischen Profil. 1975 wurde die Gruppe umgeformt zur „Volkssozialistischen Bewegung Deutschlands“ (VSBD) (Hirsch 1981), die sich besonders ausgeprägt als Durchlauferhitzer für spätere Akteur*innen des Rechtsterrorismus erwies, bis sie 1982 verboten wurde.Footnote 7 Die VSBD war zeitweise Mitglied der „Aktion Neue Rechte“ (ANR) und kooperierte mit der NSDAP/AO in den USA.

Eike Hennig datiert die Ansätze für die Entstehung eines jugendgeprägten Neonazismus auf 1974 (Hennig 1989, S. 181). In diesem Jahr gab es vier neonazistische Gruppen in der Bundesrepublik mit rund 100 Mitgliedern. Diese Zahl steigerte sich den Angaben von Stommeln zufolge bis 1979 auf 25 Gruppen mit insgesamt etwa 1400 Mitgliedern (Stommeln 1979, S. 44).

Die schon ab dem Ende der 1960er-Jahre operierende und 1971 aufgedeckte „Wehrsportgruppe Hengst“ um das NPD-Mitglied Bernd Hengst war ein Vorläufer einer ganzen Reihe von Wehrsportgruppen (WSG) in der Bundesrepublik, die in den 1970er-Jahren – oft im Austausch und mit hoher politscher und personeller Nähe zu den schon genannten Gruppen – tätig wurden. Zu ihnen gehörten beispielsweise die WSG Priem, WSG Rohwer, WSG Schlageter oder WSG Ruhrgebiet sowie die 1973 gegründete (und bis zum Verbot 1980 existierende) WSG Hoffmann, die am mitgliederstärksten und bekanntesten war (vgl. Fromm 1998). Die Wehrsportgruppen dienten als weitere Durchlaufstationen für junge rechtsextreme Militante und somit als Keimzellen des Rechtsterrorismus in dieser Zeit. In ihrer Größe, ihrer politischen Strategie und ihrem öffentlichen Auftreten unterschieden sie sich mitunter und schwankten dabei zwischen einer Selbstdarstellung als Vereine apolitischer Militaria-Fans oder als Waffentrainingsagentur für militante Neonazis mitsamt militärischem Drill.

1977 rief Michael Kühnen (1955–1991) in Hamburg die „Aktionsfront Nationaler Sozialisten“ (ANS) ins Leben (Hofmann et al. 1984). Die Gruppe, zwischenzeitlich vereint mit den „Nationalen Aktivisten“ (Angermann 2023, S. 103) zur ANS/NA, bestand bis zum Verbot 1983. 1978 führte die ANS eine Aktion durch, die prägend für den bundesdeutschen Neonazismus wurde: In uniformen schwarzen Lederjacken gekleidet, versuchten die Neonazis in die Hamburger Innenstadt zu marschieren. Einige trugen dabei Eselsmasken über den Gesichtern und dazu Schilder mit der Aufschrift „Ich Esel glaube noch, daß in deutschen KZs Juden ‚vergast‘ wurden“. Mithilfe solcher medienwirksamer Provokationen gelang es Kühnen, sich selbst und seine Gruppe bundesweit bekannt zu machen. Eine vergleichbare Strategie verfolgte in Frankfurt am Main zeitweise der schon erwähnte, mit Kühnen eng verbundene, Aktivist Erwin Schönborn, der ab dem Ende der 1970er-Jahre Einfluss auf jugendliche Neonazis in dieser Region ausübte.

Ebenfalls in den 1970er-Jahren entwickelte sich derweil eine zeitgenössisch als „Hitlerwelle“ bezeichnete oft verkitschte, manchmal nostalgische Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus in der westdeutschen Gesellschaft und Popkultur (Becker 2021; zeitgenössisch Mannzmann 1979). Kühnen setzte vor diesem Hintergrund das „Faszinosum Hakenkreuz“ zum Marketing für seine politischen Ziele ein und entwickelte das ostentative Bekenntnis zum Nationalsozialismus zu einer politischen Marke. Eine andere Strategie verfolgte die von Ex-Angehörigen der NPD-Jugendorganisation und ehemaligen Mitgliedern der VSBD um 1984 gegründete „Nationalistische Front“ (NF), die unter ihrem prägenden Anführer Meinolf Schönborn (Jg. 1955) nicht nur Öffentlichkeitsarbeit betrieb, sondern einen Schwerpunkt auf Kaderbildung und zusätzlich auf den Ausbau der Präsenz in Subkulturen legte. 1979 wurde die dann lange Zeit beständigste und größte Neonaziorganisation „Hilfsgemeinschaft für nationale politische Gefangene“ (HNG) gegründet, die strömungsübergreifend und milieustabilisierend wirkte, indem sie eine Betreuung inhaftierter Neonazis absicherte. Die HNG wurde 2011 verboten.

Ab 1980 kam es zu einer ganzen Welle von rechtsterroristischen Anschlägen in der Bundesrepublik, die zu einem großen Teil von Neonazis begangen wurde. 1980 wurde mit dem Anschlag auf das Münchener Oktoberfest der bis heute opferreichste Anschlag durch Rechtsextreme in der Geschichte der Bundesrepublik verübt. Auch wenn wichtige Aspekte der Tat unaufgeklärt sind, steht die Mittäterschaft von Gundolf Köhler außer Frage, der zeitweise der WGS Hoffmann angehörte (Chaussy 2020). Im gleichen Jahr erfolgten die tödlichen rassistischen Anschläge der „Deutschen Aktionsgruppen“ um Manfred Roeder in Hamburg, der VSBDler Frank Schubert erschoss zwei Schweizer Polizeibeamte und in Erlangen verübte das WSG-Hoffmann-Mitglied Uwe Behrendt den antisemitischen Doppelmord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke (vgl. die Beiträge in Puls und Virchow 2023).

Am Anfang der 1980er-Jahre gab es zudem einen weiteren Impuls für die Fortentwicklung des Neonazismus. Aus der Punk-Jugendkultur spaltete sich damals – angelehnt an britische Vorbilder – eine Skinheadszene heraus, in der eine männlich-proletarische Ästhetik von wichtigen Protagonisten mit rechten Inhalten verknüpft wurden. Bands wie „Kraft durch Froide“ (Berlin, 1982–1987, inzwischen wiedergegründet) oder „Commando Pernod“ (Hamburg, 1986–1994) vereindeutigten diese Tendenzen hin zu einem neonazistischen Profil (Dornbusch und Raabe 2002). Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in den Jugendkulturen der DDR, wo sich unter den Bedingungen des repressiven und autoritären Staates ebenfalls eine nach rechts neigende Skinheadszene herausbildete, die sich zum Ende der 1980er-Jahre hin in manchen Teilen immer klarer neonazistisch orientierte. Bis zum Ende der DDR wuchsen die rechten Jugendszenen um „Glatzen“ und „Faschos“ immer weiter und rekrutierten sich auch aus „Normalos“ und gewaltbereiten Fußballfans (Brück 1992, S. 44; Wagner 2014).Footnote 8

In der Bundesrepublik wurde nach dem Verbot der ANS 1983 Kühnens Netzwerk in Form einer „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“ (GdNF) und durch Übernahme der schon seit 1979 als anti-jesuitisch-rechtsextremer Splitterpartei existierenden „Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei“ (FAP) (Christians 1990) sowie weiteren Kleinorganisationen fortgeführt. Auch die dann offen neonazistisch agierende WJ diente als Organisationsplattform. Zu nennen ist zudem die Rolle der NPD-Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“ (JN, 2018 umbenannt in „Junge Nationalisten“), die sich öffentlich gegen den Vorwurf des Neonazismus verwahrte (Haßler 2022, S. 369), in deren Basisgruppen sich jedoch trotzdem Neonazi-Kameradschaften bildeten. Eine Kontroverse um die Ablehnung oder Vereinbarkeit von männlicher Homosexualität mit dem Nationalsozialismus beziehungsweise um eine mögliche Homosexualität Kühnens führte zu einem „Bewegungsstreit“ und somit 1986 zur Spaltung des organisierten Neonazismus in ein Kühnen-treues und ein Kühnen-feindliches Lager (Christians 1990, S. 115–133).

Ab dem Ende der 1980er-Jahre begann das Neonazi-Spektrum stärker als zuvor, Demonstrationen in ihr Aktionsrepertoire zu integrieren, etwa in den Aufmärschen zum Gedenken an den 1987 verstorbenen ehemaligen Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß im bayerischen Wunsiedel.

Wie das ganze rechtsextreme Lager wurde auch der Neonazismus vom Umbruch in der DDR und von dessen Folgen überrascht. Schon zuvor bestehende Verbindungen in das damalige Gebiet der DDR wurden von den Neonazi-Organisationen aufgegriffen und ausgebaut. Die kleinen Neonazigruppen aus dem Westen erwiesen sich dabei als flexibler als ihre unmittelbare politische Konkurrenz wie die Partei „Die Republikaner“. Zudem passten ihre Angebote eher zu den Bedürfnissen der jungen Rechtsextremen im Osten. Ein schon 1990 entwickelter „Arbeitsplan Ost“ aus dem Kühnen-Spektrum entwarf den Strukturaufbau im Osten, unter anderem mit der Verankerung der „Deutschen Alternative“ (DA) im Raum um Dresden und Cottbus und der „Nationalen Alternative“ (NA) mit einem Zentrum in Berlin-Lichtenberg (vgl. Angermann 2021). „Rechts sein“ war Mode unter Jugendlichen – nicht nur, aber mit besonderer Intensität im Osten. Die Skinheads wurden zu einer die Jugendszenen prägenden Erscheinung. Der Rechtsrock boomte und oft wurden dabei Parolen und Symbole genutzt, in denen sich jugendlich-provokantes Gebaren und die Verherrlichung des Nationalsozialismus kombinierten. „Hängt dem Adolf Hitler den Nobelpreis um“, forderte die aus Nürnberg stammende Band „Radikahl“ in ihrem 1991 erstmals veröffentlichten Szenehit.

Die im Zuge der Einheit gewachsenen nationalistischen und rassistischen Stimmungslagen wurden von den Neonaziorganisationen befeuert. So wurde zudem die Gewaltwelle befördert und eskaliert, die Ost- aber auch Westdeutschland erfasste und zu deren Symbolen die Bilder zu den Morden von Solingen und Mölln und den Pogromen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen wurden.

Im Laufe des Jahrzehnts wurden vor diesem Hintergrund staatlicherseits wichtige Neonaziorganisationen verboten, darunter NA, DA, die „Nationale Offensive“ (NO), die WJ und die FAP. Der organisierte Neonazismus wurde dadurch wenigstens kurzzeitig bis an den Rand der Handlungsunfähigkeit gebracht (Stöss 2010, S. 119). Auf die staatlichen Repressionsmaßnahmen erfolgten zwei unterschiedliche Reaktionen aus dem Neonazi-Spektrum:

Erstens traten viele, durch die Verbote organisatorisch heimatlos gewordene Neonazis in die NPD ein, die sich unter den Vorsitzenden Günther Deckert (1940–2022, im Amt 1991–1996) und Udo Voigt (Jg. 1952, im Amt 1996–2011) für diese Klientel geöffnet hatte. 2004 wurden schließlich sogar einflussreiche Neonazifunktionäre in den Bundesvorstand der Partei berufen. Spätestens seit dieser Öffnung muss die NPD nicht mehr nur unter dem Paradigma des Rechtsextremismus betrachtet werden, sondern als eine Partei, die vollständig oder teilweise im Kontext des Neonazismus zu diskutieren ist. Sie habe sich zumindest „ideologisch eine national- und sozialrevolutionäre Ausrichtung mit neonationalsozialistischen Einflüssen gegeben“, befand 2007 Marc Brandstetter (Brandstetter 2007, S. 335), während Steffen Kailitz der Partei im gleichen Jahr zusprach, eine „originär nationalsozialistische Partei“ zu sein (Kailitz 2007, S. 337). Die Wesensverwandtschaft der NPD mit dem Nationalsozialismus wurde 2017 vom Bundesverfassungsgericht bestätigt (BVerfG 2017). Im Zuge ihrer fortschreitenden Neonazifizierung gelang der NPD eine Revitalisierung und der Aufbau neuer Strukturen.

Zweitens wurde von führenden Neonazis die Strategie der „Freien Kameradschaften“ propagiert. Eine informell organisierte Zellenstruktur sollte Schutz vor neuen Verboten bieten. Diese Form erwies sich als Erfolgsmodell, weil gerade die losere, bürokratiearme Erscheinung geeignet war, Jugendliche und junge Erwachsene aus den neonazistisch geprägten Subkulturen in eine politische Organisation einzubinden. Dem sich herausschälenden Bewegungscharakter und -gefühl im Rechtsextremismus dieser Zeit entsprach das „Kameradschafts“-Modell in besonderem Maß. Die „Kameradschaften“ operierten je nach Region teilweise in Konkurrenz, teilweise in enger Abstimmung und mit personellen Überschneidungen zur NPD (Röpke und Speit 2004; Virchow 2004), wobei die zweitgenannte Tendenz im Laufe der 2000er-Jahre stärker wurde.

Der Rechtsrock erreichte in den 1990er-Jahren eine Blüte mit einem großen Publikum, Konzerten, Bands, Plattenfirmen und Tonträgern. Internationale Netzwerkorganisationen wie „Blood & Honour“ (B&H, 2000 in Deutschland verboten, allerdings teilweise funktional fortgeführt) und die „Hammerskins“ (verboten 2023) gründeten deutsche Ableger (Dornbusch und Raabe 2002). Einerseits professionalisierten sie den Rechtsrock, andererseits waren sie Ort von neonazistischen Diskussionen über den Einsatz neuer terroristischer Strategien. Etwa zeitgleich wurden raumgreifende und Gewalt verheißende Demonstrationen zu einem massenhaft eingesetzten Mittel der Neonazipolitik. Als eine Initialzündung hierfür ist eine Großkundgebung 1997 in München zu sehen, die sich gegen die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ richtete und mit rund 5000 Teilnehmenden ein strömungsübergreifender Mobilisierungserfolg wurde. Von 1997 bis zum Verbot 2016 diente das „stoertebeker.net“ beziehungsweise später „Altermedia Deutschland“ als zentrales, internet-basiertes Diskussionsorgan für den parteifreien Neonazismus. Nach dem Abtauchen der drei Mitglieder des Kerns des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) im Februar 1998 begann die Serie von Morden, Anschlägen und Überfällen dieser rechtsterroristischen Gruppe, deren Taten nur durch die Unterstützungsleistungen aus ihrem politischen Milieu und dem schuldhaften systematischen Versagen der Sicherheitsbehörden möglich waren.

Für die NPD begann eine Zeit von Wahlerfolgen, wie sie diese Partei seit dem Ende der 1960er-Jahre nicht mehr erzielt hatte. 2004 gelang der Einzug in den sächsischen Landtag mit 9,1 % der Stimmen, 2006 folgte der Einzug in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern mit 7,3 %. Beide Landtagspräsenzen konnte die Partei bei den Wahlen 2009 beziehungsweise 2011 verteidigen. In Abgrenzung zur NPD wurden zeitweise einige neue Kleinorganisationen gegründet, wie die „Bewegung Deutsche Volksgemeinschaft“ (BDVG, 1999 bis ungefähr 2004) in Süddeutschland, die „Bewegung Neue Ordnung“ (BNO, 2004 bis ungefähr 2009) in Ostdeutschland oder der sich als „Querfront“-Projekt ausgebende „Kampfbund Deutscher Sozialisten“ (KDS, 1999 bis 2008).

Im Kameradschaftsspektrum sorgten ab ungefähr 2004 Phänomene wie die „Autonomen Nationalisten“ für eine Auffrischung der Ästhetik und des Parolen- und Aktionsrepertoires (Peters und Schulze 2009; Schedler und Häusler 2011; Schulze 2017). Die neonazistische Demonstrationspolitik erreichte mit teilnahmestarken Aufmarschserien in Halbe (Brandenburg), Wunsiedel (Bayern) oder Dresden (Sachsen) einen Höhepunkt. Auch die Größe von häufig von der NPD ausgerichteten Rechtsrockveranstaltungen wuchs. Beim „Pressefest der Deutschen Stimme“ 2004 im sächsischen Mücka versammelten sich rund 7000 Neonazis. Verbote von etlichen „Kameradschaften“ stellten hingegen zusehends den Zweck dieses Organisierungsansatzes als repressionssichere Form infrage. Zwischen 2005 und 2015 wurden gegen rund 20 Kameradschaften und Kameradschaftsvernetzungen Verbote ausgesprochen, darunter einflussreiche Gruppen wie die „Kameradschaft Tor“ aus Berlin 2005, die „Mecklenburgische Aktionsfront“ 2009, den „Nationalen Widerstand Dortmund“ und die „Spreelichter“ (auch: „Widerstandsbewegung in Südbrandenburg“) 2012.

Sodann rutschte die NPD durch selbst verschuldete Probleme wie finanzielle Unregelmäßigkeiten allmählich in eine anhaltende Krise, die sich später verstärkte. Durch die Erfolge der AfD ab 2013 wurde die NPD als Wahlpartei in die Bedeutungslosigkeit manövriert. Schon 2012 und 2013 gründeten sich mit „Die Rechte“ und „Der III. Weg“ neue neonazistische Parteien. Zumindest erwähnenswert sind Absplitterungen wie die 2020 aus der Taufe gehobene „Neue Stärke Partei“. Der Regruppierungsprozess des Neonazismus ist nicht abgeschlossen.

Neuere, für den Rechtsextremismus bedeutende Mobilisierungen wie die flüchtlingsfeindlichen Proteste ab 2015 oder die Pandemieleugnungsproteste ab 2020 fanden unter reger Beteiligung von Neonazis statt, wurden durch diese jedoch insgesamt nicht angeführt. Bei der erstgenannten Kampagne waren neonazistische Akteure in einigen Regionen noch führend und prägend beteiligt. Bei zweitgenannten war dies seltener der Fall, obwohl es auch hier Beispiele für bedeutende Mobilisierungsagenturen wie etwa die „Freien Sachsen“ gibt, die im Neonazismus wurzeln. Anstatt der im Neonazismus sonst üblichen großdeutschen Ausrichtung vertritt diese Gruppe einen sächsischen Separatismus. Das Demonstrationsgeschehen und das Organisierungsniveau der politischen Gruppen hat sich insgesamt zugunsten anderer Akteure verringert – obwohl die dem Neonazismus verbundenen Milieus sich nicht entscheidend verkleinert, sondern eher stabilisiert haben. Dies betrifft auch die geschrumpfte kulturelle Ausstrahlungskraft. Der Rechtsrock bleibt eine lebendige Subkultur, deren Angehörige im Schnitt älter, aber nicht weniger zahlreich geworden sind. Konzerte wie jenes von deutschen Neonazis klandestin organisierte Konzert 2016 in Unterwasser (Schweiz) mit 6000 Beteiligten oder das Festival „Rock gegen Überfremdung II“ 2017 mit gleichfalls rund 6000 Neonazis in Themar (Thüringen) belegen die Größe und Organisationskompetenz des Spektrums. Die Entfaltungsmöglichkeiten wurden durch die Verbote der „Weiße Wölfe Terrorcrew“ 2016, der in der B&H-Tradition stehenden Gruppe „Combat 18“ im Jahr 2020 und der „Hammerskins“ im Jahr 2023 beschnitten, aber nicht gekappt. Unterdessen sind wieder stärker subkulturell orientierte Formen wie Kampfsportgruppen und sich an der Rocker-Ästhetik und mit kriminellen Milieus überlappende „Bruderschaften“ zu Bedeutung gelangt (vgl. Claus 2020). Eine kleine, aber vitale Subszene im Metal hat sich der Verherrlichung des Nationalsozialismus – inklusive seiner Verbrechen – verschrieben. Ein Magazin mit dem unverblümten Titel „Nationaler Sozialismus heute“ (NS Heute) erscheint seit 2017 legal und versucht, als ein Leitorgan zu dienen. Ein wachsendes Phänomen sind rechtsextreme Räume im Internet, die in den sozialen Medien entstanden sind und sich teilweise neonazistisch – und nicht selten pro-terroristisch – positionieren. Aus diesen Sphären haben sich auch in der Bundesrepublik neue rechtsterroristische Gruppen rekrutiert. Zu beachten ist daneben das gewachsene Phänomen der „Reichsbürger“, deren Ideen durch ihre Interpretationen des Reichsgedankens teilweise in den Neonazismus integrierbar sind.

Einen Überblick zu den skizzierten Entwicklungen, Akteuren und Schlüssel-Ereignissen der Geschichte des Neonazismus in Deutschland gibt die folgende Zusammenstellung (Tab. 1).

Tab. 1 Entwicklungsphasen des deutschen Neonazismus. Eigene Darstellung

4 Internationale Dimension

Neonazismus ist ein internationales Phänomen. Seinen Schwerpunkt hat er jedoch – wenig überraschend – in Deutschland. Entsprechungen finden sich allerdings in fast allen Ländern, in denen historisch nationalsozialistische Bewegungen tätig waren. Teilweise schließen Neonazis unmittelbar politisch an diese Traditionen in ihren Ländern an. Teilweise wird aber auch der Zeichenvorrat des Nationalsozialismus für die provokante, subkulturelle Inszenierung von rechtsextremen Überzeugungen genutzt. Das Hakenkreuz funktioniert in vielen Regionen der Welt gewissermaßen als fast schon popkulturelles Markenzeichen für die Inszenierung eines militanten Rechtsextremismus.Footnote 9

Frühe internationale Vernetzungsversuche gingen von Rechtsextremen im anglofonen Raum aus, die Kontakte im deutschsprachigen Raum suchten. Zu nennen sind etwa die aus Oswald Mosleys (1896–1980) „Union Movement“ stammende „Natinform“ mit Wolfgang Sarg als deutschem Kontaktmann in den 1950er-Jahren (Tauber 1967, S. 243–247) oder die 1959 gegründete „Northern League“, für die unter anderem der Hamburger Jürgen Rieger (1946–2009) tätig wurde (Smoydzin 1966, S. 135–144; zu Rieger vgl. Schulze 2020). 1962 initiierte der US-Amerikaner George Lincoln Rockwell (1918–1967) die „World Union of National Socialists“ (WUNS) (Jackson 2019; Kahn 2021) mit Personen wie dem Frankfurter Bruno Lüdtke (1926–2013) als deutschen Kontakten (Smoydzin 1966, S. 147–174). Der öffentlichkeitswirksame Einsatz von Provokationen, den Rockwell mit seiner „American Nazi Party“ (ANP) seit dem Ende der 1950er-Jahre entwickelt hatte, kann wie eine Blaupause für die spätere Medienstrategie der Neonazis um Michael Kühnen gelesen werden. Ab den 1970er-Jahren diente die schon erwähnte, in den USA ansässige Propaganda-Agentur NSDAP/AO deutschen Neonazis als Partnerorganisation (Bergen 2003).

Weiterhin sind deutsche Neonazis international vernetzt und nehmen etwa an Konzerten oder Demonstrationen im Ausland teil. Als internationale Treffpunkte in den vergangenen Jahren entpuppten sich Veranstaltungsserien wie der „Imia-Marsch“ in Athen (Griechenland), der „Tag der Ehre“ in Budapest (Ungarn), der „Marsch der Legionäre“ in Riga (Lettland), der „Lukov-Marsch“ in Sofia (Bulgarien), das „Hot Shower“ Festival in Italien oder das „Asgardsrei“-Festival in Kiev. Der deutsche „III. Weg“ unterhielt schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 enge Beziehungen zum ukrainischen Neonazismus. Genauso gibt es Beispiele für pro-russisch positionierte deutsche Neonazis mit entsprechenden Kontakten.

Nicht-deutsche Neonazi-Organisationen und entsprechende Szenen waren und sind insbesondere in Europa verankert. Der Neonazismus in Österreich ist traditionell ganz besonders eng mit dem deutschen verbunden. Langjährig aktive Bewegungen sind zudem im Benelux-Raum, in Skandinavien (etwa: „Nordische Widerstandsbewegung“) und im Vereinigten Königreich zu finden. In Spanien, Italien und auch Frankreich greifen vergleichbare Gruppen eher auf den Symbolvorrat und die Traditionen der jeweiligen nicht-nationalsozialistischen faschistischen Bewegungen zurück. Bisweilen beziehen sich aber auch dort insbesondere jugendliche und terrorismus-affine Gruppen auf den deutschen Nationalsozialismus. In Griechenland lässt sich die politisch zeitweise erfolgreiche, militante Partei „Chrysi Avgi“ („Goldene Morgenröte“) dem Neonazismus zuordnen (Fielitz 2016). In den vormalig zum Ostblock gehörenden Staaten – inklusive Russland und zentralasiatischer Länder – haben sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs neonazistische Gruppen als politische Erscheinungen etablieren können, deren Einfluss hin und wieder nennenswerte Größenordnungen erreicht. Neonazistische Orientierungen sind in Subkulturen und unter Fußballfans anzutreffen.Footnote 10 In Nordamerika sind Neonazis diverser Schattierungen Teil der dortigen politischen Landschaft des Rechtsextremismus geblieben – ähnliches gilt für Australien. In Südamerika finden sich entsprechende, vor allem subkulturelle Szenen etwa in Argentinien und Brasilien (vgl. Gaudín 2011; Maynard 2014). In Südafrika vertraten die 1976 gegründete „Afrikaner Weerstandsbeweging“ und ihre späteren Abspaltungen nicht nur eine militante rassistische, sondern auch eine neonazistisch geprägte Politik (Atkins 2004, S. 12–13).

5 Binnendifferenzen und Strömungen

Der Nationalsozialismus ist durch seine Verbrechen in der öffentlichen Wahrnehmung delegitimiert. In der Bundesrepublik sind seine als verbrecherisch eingestuften Organisationen verboten und die Nutzung einiger ihrer Zeichen ist strafbewährt. Auch weil dem Neonazismus per Definition eine Wesensverwandtschaft zum NS innewohnt und eine ebensolche Wesensverwandtschaft seit dem Verfassungsgerichtsurteil gegen die SRP 1952 (BVerfG 1952, aber einschränkend zu beachten BVerfG 2017) als Begründung für Organisationsverbote dienen kann, ist der Neonazismus systematischer als andere rechtsextreme Strömungen von Repressalien bedroht. Mit dieser Repressionsbedrohung hat sich der Neonazismus permanent auseinanderzusetzen. Die konkrete Ausgestaltung und Intensität staatlicher Gegenmaßnahmen konstituieren eine Variable, die auf die Strategiefindung und Gestalt des Neonazismus Einfluss nimmt – beispielsweise wäre das Kameradschaftsmodell ohne die Verbote in den 1990er-Jahren wahrscheinlich nicht entworfen worden.

Manche Neonazis distanzieren sich aus taktischen Erwägungen in der Öffentlichkeit von ihrer politischen Orientierung und verlagern entsprechende Artikulationen in private Räume. Im Gegensatz dazu bekennen sich andere ostentativ zum Nationalsozialismus, was neben dem Aufmerksamkeitsgewinn in der Öffentlichkeit unter anderem der Binnendistinktion gegenüber als kompromisslerisch empfundenen anderen Kräften im eigenen Lager dient. Nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Frage nach einer sinnvollen Präsentation der eigenen Inhalte, ist der Neonazismus innerhalb des Rechtsextremismus darum zwar nicht notwendig isoliert, aber eine polarisierende Strömung.

Nicht untypisch für das Spektrum ist es, in der öffentlichen politischen Praxis mit Ambivalenzen und Andeutungen zu arbeiten: Symbole oder Parolen sind so gestaltet, dass sie dem eigenen Publikum als nationalsozialistisch verständlich bleiben, diese Bedeutung bei kritischen Nachfragen jedoch bestritten werden kann. Diese Herstellung einer „plausible deniability“ oder das „dog-whistling“ reichen tief in den subkulturellen Bereich, wo sie keineswegs nur auf fast schon ins Allgemeinwissen eingegangene Formeln wie den Zahlencode „88“ (für „Heil Hitler“) beschränkt geblieben sind. Eine gewisse Lust am Spiel mit Symbolen und der Selbstmythisierung kommt dabei zuweilen eine ebenso große Rolle zu wie tatsächliche Tarnungsabsichten. Zu den Kodierungen zählt im Prinzip auch die Nutzung der Formulierung „nationaler Sozialismus“, die regelmäßig synonym zu „Nationalsozialismus“ genutzt wird (gerade auch weil dieser Begriff schon Ende des 19. Jahrhunderts geprägt wurde und somit auf andere politische Ideen als die des Nationalsozialismus verweisen könnte) (vgl. Haarfeldt 2019; Begrich 2009).Footnote 11 „Neonazi“ ist als Selbsteinordnung nicht üblich, sondern meist eine Fremdzuschreibung, während das simple „Nationalist“ gängig und seltener das unkodierte „Nationalsozialist“ anzutreffen ist.

Wenn der „Nationalsozialismus“ im Neonazismus adressiert wird, wird er regelmäßig als Befreiungsversprechen verwendet, als utopisches Bild einer widerspruchsfreien Ordnung, deren Details in der Gegenwart noch unscharf bleiben können. Genauso ist eine Verherrlichung des historischen Nationalsozialismus anzutreffen, der als „gute alte Zeit“ porträtiert wird und der so originalgetreu wie möglich mit nur einigen technischen Anpassungen reinstalliert werden soll. Positive, oft verkitschte Zerrbilder des Nationalsozialismus, die oft genug direkt der zeitgenössischen Propaganda entnommen sind, dienen hier als Anhaltspunkte, dass in dieser Epoche die Werte und Inhalte, die im Rechtsextremismus allgemein von Bedeutung sind, weitgehend realisiert wurden: eine natürliche und hierarchische, ethnische und rassische Ordnung, das Recht des Werten und Starken, als angemessen empfundene Rollen für die Geschlechter, Familie, soldatische Männlichkeit, Kampfgeist, Treue, soziale Gerechtigkeit und ähnliches. In diesen Perspektiven ist der Neonazismus weniger eine eigenständige politische Ideologie, sondern mehr ein szenenhaft verbundenes Sammelsurium von rechtsextremen Gruppen und Personen, die ihre rechtsextremen politischen Ideen entlang des Symbolrepertoires einer bestimmten historischen Epoche ausdrücken. Im Neonazismus inbegriffen sind allerdings Positionen, die die nationalsozialistischen Massenmorde und andere NS-Verbrechen als adäquaten Umgang mit Feinden verherrlichen und als Vorlage und Vorbild für die eigene gewalttätige Praxis und eine künftige Umsetzung der eigenen Vernichtungsideen betrachten.

Gleichwohl gibt es ideologische Strömungen innerhalb des Neonazismus. Je nach Spielart werden die Bedeutung der Elemente Nation, Volk und Rasse unterschiedlich betont.

Eine keineswegs trennscharfe, aber immerhin mögliche Binnendifferenzierung des Neonazismus in programmatischer Hinsicht lässt sich entlang der Epoche des Nationalsozialismus festmachen, die jeweils in den Mittelpunkt gestellt wird: die „Kampfzeit“ oder das „Dritte Reich“ (wobei sich zweitere in die Phase 1933 bis 1939 und in die Zeit des Zweiten Weltkriegs unterteilen ließe).

Manche Neonazis stellen die Organisationen und die Politik der nationalsozialistischen Bewegung während der Weimarer Republik in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen und parallelisieren ihre eigene politische Lage und ihr politisches Tun mit Organisationen wie den Freikorps oder der SA. Diese Schwerpunktsetzung hat unter anderem den Effekt, dass sie sich einer Positionierung gegenüber den späteren Verbrechen des Nationalsozialismus an der Macht und der konkreten Politik des NS-Regimes enthalten zu können glauben. Oft geht damit eine Betonung von sozialrevolutionären und „sozialistischen“ Elementen einher, in der die proletarischen Fraktionen des Nationalsozialismus besonders hervorgehoben werden und eher das Element Volk betont wird. Dies geht bis hin zu einer Ablehnung der Person und Politik Hitlers, dem ein Verrat an der Ursprungsidee des Nationalsozialismus vorgeworfen wird. Stattdessen werden inner-nationalsozialistische Konkurrenten Hitlers wie Ernst Röhm, wahlweise auch die Gebrüder Gregor und Otto Strasser oder der „Nationalbolschewist“ Ernst Niekisch verehrt. Hitler sei es schuldig geblieben, an die erfolgreiche „nationale Revolution“ 1933 mit einer „zweiten Revolution“, nämlich einer sozialen, anzuknüpfen. Zuweilen werden Aufforderungen an die politische Linke formuliert, sich im Rahmen einer „Querfront“ gegen das „System“ dem Kampf des Neonazilagers anzuschließen.

In einer zweiten Strömung werden die Person und das Handeln Hitlers und die Ausgestaltung der Nation im Staat des „Dritten Reichs“ bejaht und verherrlicht. Mit Parolen wie „1. Mai – arbeitsfrei seit 1933“ zeigen Neonazis, dass sie die NS-Politik als richtig und wegweisend befürworten. Sofern Missstände im „Dritten Reich“ eingeräumt werden, werden diese im Wesentlichen als lässliche Fehler entschuldet oder dem Wirken von feindlichen Elementen wie „Bolschewisten“ und „Juden“ zugeschrieben. Breiten Raum nimmt im Neonazismus die Beschäftigung mit den militärischen Aspekten des Zweiten Weltkrieges ein, indem ein heldenhafter militärischer Kampf der deutschen Streitkräfte gesehen und als Beleg der Richtigkeit der nationalsozialistischen Idee gewertet wird. Besonders durch die Betonung der letzten Kriegsphase wird der Zweite Weltkrieg als deutscher Abwehrkampf gegen den Bolschewismus im Interesse Deutschlands und Europas stilisiert.

Milieustabilisierende Bedeutung hatte über Jahrzehnte die kleine Organisation „Artgemeinschaft“ inne. Bei ihr stand in Fortführung der schon in der Kaiserzeit entstandenen rassistisch-antisemitischen „nordischen Bewegung“ die Rasse im Mittelpunkt der Ideenwelt. Die Existenz einer nordischen Menschenart wurde pseudowissenschaftlich behauptet und darüber die Notwendigkeit für eine Selbstvergottung der „nordischen Rassen“ hergeleitet, wofür eine Überwindung des als jüdisch charakterisierten Christentums nötig sei. 2023 wurde die „Artgemeinschaft“ verboten, wobei mit einem Fortbestehen der entsprechenden Netzwerke und „Sippschaften“ zu rechnen ist. Wenn auch auf anderen Vorlagen beruhend, entsprach die von der „Wiking-Jugend“ propagierte „Nordland“-Ideologie ebenfalls diesem Modell.

Seltener finden sich Spielarten des Neonazismus, die sich den genannten Unterteilungen eher entziehen. Zu nennen sind etwa – politisch weitgehend unbedeutende – weltabgewandte, okkulte Deutungen des Nationalsozialismus wie im „religiösen“ und „esoterischen Hitlerismus“, der international mit Namen wie Savitri Devi und Miguel Serrano verbunden ist beziehungsweise war.

6 Themen und Repertoire

Der Neonazismus ist in den allgemeinen Rechtsextremismus eingebunden und darum sind seine Aktionsfelder und Themen in aller Regel an die jeweiligen Konjunkturen des Rechtsextremismus rückgekoppelt.

Unterschieden werden kann zwischen – erstens – neonazistischen Kernthemen, die durchgehend eine hohe Bedeutung für das Selbstverständnis und als Ausgangspunkt politischer Kampagnen haben und – zweitens – variablen Themen, die gesellschaftliche Themen beziehungsweise aktuelle Themen rechtsextremer Kampagnen mal stärker, mal schwächer aufgreifen und mit eigenen neonazistischen Betonungen und Methoden bearbeiten.

Das explizite Ziel etlicher Neonaziorganisationen war es, die gesellschaftlichen und legalen Bedingungen für eine Renaissance des Nationalsozialismus zu erreichen. Beispielsweise forderten die Gruppen aus dem Kühnen-Spektrum die Aufhebung der Regelungen, die einer Wiederzulassung der NSDAP als politischer Partei im Wege stehen. Dieses Ziel ist im Hintergrund weiterhin präsent, wenngleich es seltener expliziert wird.

Von herausragender Bedeutung ist die Geschichts- und Erinnerungspolitik. Interpretationen der deutschen Geschichte, die an die nationalsozialistische Geschichtsschreibung und entsprechende Legenden anknüpfen, werden fortgeführt und um eine verherrlichende Sicht auf den Nationalsozialismus selbst und auf den Zweiten Weltkrieg ergänzt. Dazu gehören die Relativierung und Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen, etwa im Rahmen der Holocaustleugnung, die besonders intensiv zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren betrieben wurde (Broschüre „Die Auschwitz-Lüge“ 1973, Konferenz „Wahrheit macht frei“ 1990, später Aktivitäten um Personen wie Horst Mahler und Ursula Haverbeck). Geschichtsmythen, etwa zur „nordischen“ Frühgeschichte, zum Handeln von Waffen-SS und Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, der Heldenkult um Figuren wie Albert Leo Schlageter oder Horst Wessel, werden weiter gestrickt und führende Exponenten des NS wie etwa Rudolf Heß gewürdigt. Bei Erinnerungsritualen werden nationalsozialistische Vorlagen reinszeniert oder Kriegsgräber ebenfalls im Sinne einer Heldenverehrung gepflegt oder als Versammlungsstätte genutzt. Enorme Bedeutung und eine bemerkenswerte Größe erreichten zeitweise Gedenkmärsche, mit denen Neonazis zu den Jahrestagen der Bombardierungen von deutschen Städten am Ende des Zweiten Weltkriegs mobilisierten – allen voran die Aufmärsche in Dresden, die zwischen 2004 und 2010 Höhepunkte erreichten (Langebach und Sturm 2015). Im Vergleich zu manchen anderen Strömungen des Rechtsextremismus ist auch nach 1990 im Neonazismus die „deutsche Frage“ noch vergleichsweise präsent, da das Ziel einer Wiedereinverleibung einstiger deutscher Gebiete wie Schlesien und Sudetenland nicht aufgegeben wird.

Als Kampagnenthema bearbeitet der Neonazismus seit dem Aufkommen dieser Schwerpunktsetzung des Rechtsextremismus den Komplex der rassistischen Mobilisierung rund um Felder wie „Gastarbeiter“, Migration und Asyldebatte. An den verschiedenen entsprechenden Mobilisierungswellen war der Neonazismus häufig impulsgebend und mit besonders drastischen Positionen und drastischen Methoden bis hin zu Mord und Terrorismus beteiligt.

Der Neonazismus ist seit jeher einer der wichtigsten Träger der rechtsextremen, in der Tradition des Antikommunismus stehenden Anti-Antifa-Kampagnen, bei denen gegen politische Gegner vorgegangen wird. Zur Zielscheibe werden dabei zum Beispiel vermeintliche und tatsächliche Angehörige der „Antifa“, Journalist*innen, Mitglieder von Gewerkschaften oder anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie von demokratischen Parteien.

Große Teile des Neonazismus sind aktivistisch und interventionistisch ausgerichtet und dementsprechend bemüht, mit eigenen Positionen und Deutungsangeboten zu aktuellen gesellschaftlichen Konfliktthemen Stellung zu beziehen beziehungsweise Präsenz und Einfluss in Protestbewegungen zu entwickeln. So betonten in der Mitte der 2000er-Jahre begleitend zu den Hartz-IV-Protesten neonazistische Kampagnen die eigenen, als „antikapitalistisch“ präsentierten Inhalte oder bezogen in Opposition zum Irakkrieg „antiimperialistische“ Positionen. An den Pandemieleugnungs-Protesten 2020 und 2021 nahmen Neonazis ebenso teil, wie sie eigenes Material zu antifeministischen und „gender-kritischen“ Kampagnen beisteuern.

Die Mittel, mithilfe derer der Neonazismus seine Politik betreibt, sind breit gefächert. So sind Neonazis an der rechtsextremen Publizistik beteiligt, verfassen und veröffentlichen entsprechende Literatur und geben Zeitschriften heraus. Von besonderer Bedeutung ist dabei der Bereich der verherrlichenden Erinnerungsliteratur an den NS und den Zweiten Weltkrieg, in jüngerer Zeit etwa über die Zeitschrift „Ein Fähnlein“. Ein eigener Bereich ist der Vertrieb von antiquarischer Literatur aus dem Nationalsozialismus.

Auch das klassische Instrument der politischen Partizipation in parlamentarischen Demokratien – die Teilnahme an Wahlen – wird von Neonazis verwendet. Allerdings ist im Neonazismus die Frage umstritten, ob eine Wahlteilnahme als korrumpierender Akt der Anpassung an das „System“ abzulehnen ist. Manche Neonazigruppen firmierten und firmieren nur als politische Parteien, um so das Parteienprivileg für sich beanspruchen zu können, was unter anderem Schutz vor staatlichen Repressionen und Vorteile bei der Ausrichtung von Veranstaltungen bieten soll. Seltene Wahlteilnahmen solcher Gruppen dienen dazu, die Kriterien zu erfüllen, die zur offiziellen Qualifikation als Partei nötig sind und sind nicht der Hoffnung auf tatsächliche Wahlerfolge geschuldet. Die seit den 1990er-Jahren stärker vom Neonazismus geprägte NPD hingegen war lange Zeit als klassische Partei zu bewerten, für die Wahlteilnahmen ein wichtiges Standbein der eigenen Politik waren. Zusammen mit der Umbenennung der Organisation in „Die Heimat“ im Jahr 2023 wurde jedoch auch eine strategische Neuausrichtung der NPD weg vom Wahlparteimodell und hin zu einer Aktionsplattform eingeleitet.

Bedeutsam ist ferner die Ausrichtung von internen Veranstaltungen, durch welche die Kohäsion des eigenen Lagers gestärkt, Inhalte an die Anhängerschaft vermittelt und Traditionen am Leben erhalten werden sollen. Dazu gehören Vorträge zu geschichtlichen und politischen Themen, bei denen lange Zeit „Zeitzeugen“ aus dem Nationalsozialismus ihre Weltanschauung an die junge Generation direkt weitergeben konnten. Regelmäßig finden auch Winter- und Sommerwendenfeiern statt oder – wie erwähnt – Gedenkrituale zum Volkstrauertag oder zu Daten wie dem Todestag von Horst Wessel. Obwohl ihre Quantität abgenommen hat, sind Fahrten und Lager bedeutsam, bei denen an Traditionen der Hitlerjugend, der Jugendbewegung und teilweise des Wehrsports angedockt wird.

Offensiv und öffentlich ist hingegen die neonazistische Demonstrationspolitik, die im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts einen vorläufigen Höhepunkt bezüglich der Zahl und der Größe dieser Versammlungen erreichte. Nach außen ging es um die Verbreitung der eigenen Inhalte und Kampagnen unmittelbar in der Öffentlichkeit und mittelbar über ihre Verbreitung in der Presseberichterstattung; oft zusätzlich auch um die Manifestierung von Ansprüchen auf den öffentlichen Raum und die Einschüchterung von politischen Gegner*innen. Als niedrigschwelliges, abenteuerverheißendes Beteiligungsangebot für die eigene Anhängerschaft, aber auch als aktivistische Bewährungsprobe erfüllen die häufig von Gegenprotesten begleiteten Neonazi-Demonstrationen zudem Funktionen nach innen (Virchow 2006).

Der Neonazismus ist ferner kontinuierlich seit seiner Frühphase ein Spektrum, aus dem heraus Gewalt praktiziert wird. Zum Bild, das sich der Neonazismus von der Welt und vom Funktionieren von Gesellschaft macht, gehört Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung von Interessen, und so wird sie in diesem Spektrum beständig affirmiert, verherrlicht und ästhetisiert. Die Gewaltpraxis umfasst spontane und situative Angriffe auf Angehörige der Feindgruppen des Neonazismus, aber auch systematisch, strategisch und geplant ausgeübte Gewalt. Beinhaltet ist darin das Handeln von terroristischen Gruppen und Personen, von denen der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) nur das bekannteste Beispiel ist.

Ein gewichtiger Aspekt in den neonazistischen Aktivitäten ist die Kulturarbeit, besonders im Bereich der Jugend- und Popkultur. Namentlich der Rechtsrock wird in seiner übergroßen Mehrheit von Neonazis dominiert. Entsprechende Bands spielen Konzerte und produzieren Tonträger, die von spezialisierten Plattenfirmen vertrieben werden. So wird seit Jahrzehnten eine Szene von Fans und Aktiven aufrechterhalten, aus der heraus finanzielle Mittel geschöpft werden können, die aber auch Teile des Mobilisierungspotenzials für den politischen Aktivismus stellen. Von einer Jugendkultur – wie er es in den 1980er- und 1990er-Jahren war – ist der Rechtsrock mittlerweile zu einer vorrangig von Erwachsenen getragenen Erscheinung gealtert. An den Rechtsrock angebunden sind neonazistisch orientierte Szenen, in denen Kampfsport trainiert und so die Gewaltpraxis des Spektrums professionalisiert wird. In den rechtsextrem orientierten Internet-Jugendkulturen sind derweil internationale und auch deutschsprachige Segmente entstanden, die sich auf die Agitation für neonazistische Inhalte und entsprechende terroristische Aktivitäten spezialisiert haben.

7 Größenordnung und Akteure

Die Personenstärke des Neonazismus ist nicht genau bestimmbar, sondern nur abschätzbar, schon weil die sich häufig nach außen abschottenden Kernorganisationen keine überprüfbaren Informationen über ihre Mitgliederzahlen veröffentlichen. Die Summe der Mitglieder der jeweils aktiven Organisationen dürfte sich seit längerer Zeit in der Bundesrepublik durchgehend im vierstelligen Bereich bewegt haben und hat möglicherweise punktuell die Schwelle zur Fünfstelligkeit überschritten. Daneben sind die Personen zu beachten, die Neonazismus-affinen Subkulturen angehören. Ihre Zahl dürfte die Zahl der Mitglieder von Organisationen deutlich übersteigen (siehe Abb. 1), wobei hier die noch einmal erhöhten Schwierigkeiten bei der Abschätzung von Zahlen und für die Operationalisierung der Kategorie „Zugehörigkeit“ zu beachten wären. In der Summe aus politisch organisierten Neonazis und Subkulturangehörigen ist von einem Spektrum auszugehen, dessen Größe im unteren fünfstelligen Bereich zu veranschlagen ist.

Abb. 1
figure 1

Angaben des BfV zur Anzahl von Neonazis in der Bundesrepublik im Zeitverlauf. Eigene Darstellung (Die Erfassung konzentrierte sich auf das Kernpersonal des Neonazismus, der in und an Organisationen tätig war. Der Mitgliederstamm der NPD ist hier nicht eingerechnet. Seit 2018 macht das BfV keine Zahlenangaben zum Neonazismus mehr. Seit 1991 erfasste das BfV separat zur Neonazi-Zählung auch Rechtsextreme, die wechselnd als „Skinheads“, als „Gewaltbereite“ oder als „subkulturell orientiert“ eingestuft wurden und denen mindestens eine Affinität zum Neonazismus zugeschrieben werden kann.)

Im insgesamt stagnierten organisierten Teil des Spektrums sind im Bundesgebiet derzeit folgende Organisationen beziehungsweise Organisationsansätze zu nennen:

Die Heimat: Mit noch rund 3000 Mitgliedern (Stand 2022) ist die mittlerweile umbenannte NPD die älteste rechtsextreme Partei in der Bundesrepublik und mitsamt ihrer Jugendorganisation „Junge Nationalisten“ (JN) die weiterhin größte neonazistisch geprägte Organisation. Allerdings hat sie ihre Funktion als Wahlpartei weitgehend eingebüßt und befindet sich in einer tiefen politischen, personellen und finanziellen Krise. In Reaktion darauf beschloss die NPD beim Parteitag in Riesa 2023, sich künftig „Die Heimat“ zu nennen. Bei Beibehaltung des Parteiencharakters und -privilegs soll die Organisation künftig vor allem als „Netzwerker, Dienstleister, punktueller Bündnispartner und regionaler Motor von Bürgerprotesten und regierungskritischen Initiativen“ wirken (Klarmann 2023).

III. Weg: Die mit Stand 2023 rund 700 Mitglieder zählende Gruppe ist in etwa 20 Regionalverbänden organisiert, die auf drei Gebietsverbände verteilt sind. Der III. Weg wurde 2013 in Antizipation von Vereinsverboten als Partei gegründet. Die Gruppe propagiert einen „Deutschen Sozialismus“, vertritt einen elitären Anspruch und stellt vergleichsweise hohe Anforderungen an die eigenen Mitglieder.

Die Rechte: Diese wenige hundert Mitglieder zählende Gruppierung unterhielt mit Stand 2021 formell Landesverbände in 12 Bundesländern. 2012 wurde Die Rechte als Partei konstituiert, um ein Auffangbecken für Mitglieder verbotener und politisch stagnierter Kameradschaften zu schaffen. Ihre Bedeutung hat in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen. Der Landesverband in der einstigen Hochburg in Nordrhein-Westfalen fusionierte 2023 mit der NPD.

Kameradschaften und Bruderschaften: Das oben beschriebene, ab dem Ende der 1990er-Jahre zur Blüte gekommene bundesweite Netz „Freier Kameradschaften“ hat an Bedeutung eingebüßt. Nur noch eine sehr überschaubare Anzahl von Neonazi-Kleinzellen versteht sich als „Kameradschaft“ (respektive als „Nationaler Widerstand“, „Freie Kräfte“ oder „Autonome Nationalisten“). Allerdings ist in den vergangenen Jahren aus dem Spektrum ein neuer Typus niedrigschwelliger Organisierung entstanden. Tendenziell unter Beibehaltung ihrer weltanschaulichen Überzeugungen, aber mit abnehmendem Grad des politischen Aktivismus, schließen sich gewaltbereite Neonazis zu „Bruderschaften“ zusammen, die noch stärker subkulturell ausgerichtet sind und sich ästhetisch und stilistisch an der Rockerkultur orientieren. Die Übergänge zum Rechtsrock-Bereich, aber auch zu kriminellen Milieus, sind dabei stellenweise verwischt. An den Modus von Kameradschaften schließen zudem militante Aktionsgruppen und ideologisierte Kampfsportzusammenschlüsse an, auf deren Konto teilweise schwere Straftaten gehen (etwa: „Knockout 51“ in Thüringen).

8 Wissensstand

Zum deutschen Neonazismus ist im Laufe der Jahrzehnte eine Fülle von Literatur veröffentlicht worden. Die höchste Publikationsfrequenz wurde jeweils ab dem Beginn seiner Boomphasen am Ende der 1970er- und am Anfang der 1990er-Jahre erreicht. Manchmal ist dabei nicht immer erkennbar, dass es sich um Werke zum Neonazismus handelt, etwa wenn ein sehr enger Rechtsextremismusbegriff zugrunde gelegt wurde, der sich – ohne dies zu explizieren – im Wesentlichen auf den Neonazismus und sein direktes Umfeld beschränkte. Andere Werke fokussierten – orientiert an der Wahrnehmung der Entwicklungen im Feld – auf „rechtsextreme Jugendszenen“ oder auf Jugendgewalt und besprachen deren neonazistische Ausrichtung nur am Rande beziehungsweise nutzten „Neonazismus“ als Synonym für den Rechtsextremismus unter Jugendlichen oder für Jugendliche als Objekt rechtsextremer Werbestrategien. Neben der Thematisierung in wissenschaftlichen Werken ist der Neonazismus beständig in journalistischen und zivilgesellschaftlichen Berichten unterschiedlicher Qualität angesprochen worden. Neben sensationalistischen Reports, die in den schlechteren Fällen grelle Selbstinszenierungen des Neonazismus ungebrochen reproduzierten, sind maßgebliche außerwissenschaftliche Untersuchungen in Form von grauer Literatur oder als Recherchen zivilgesellschaftlicher, antifaschistischer oder gewerkschaftsnaher Gruppen veröffentlicht worden.Footnote 12

Dieser Fülle an Veröffentlichungen zum Trotz kann festgehalten werden, dass Neonazismus in der Literatur oft eher als ein Schlagwort verwendet wird, kaum wissenschaftlich reflektiert oder operationalisiert und auch nicht umfassend beforscht wurde. Im Prinzip ist weiterhin das Urteil gültig, das Hans-Gerd Jaschke bereits 1994 fällte: „Strenggenommen gibt es […] keine systematische sozialwissenschaftliche Erforschung des Neonazismus“ (Jaschke 1994, S. 42). Eine zeitgeschichtliche Einordnung und Aufarbeitung des deutschen Rechtsextremismus ist in den vergangenen Jahren vorangeschritten, doch auch hier sind den Neonazismus betreffend Defizite zu konstatieren. Monografische Studien zu wesentlichen Organisationen wie der WJ oder der HNG liegen bisher nicht vor. Neben der Organisationsgeschichte wären auch Studien zu thematischen Konjunkturen, zu Strömungen, zu Interaktionen mit der Gesellschaft, zu Modernisierungsprozessen, zur Publizistik oder zur Wirksamkeit von Verboten oder Studien zum weiteren politischen Leben von Mitgliedern verbotener Organisationen wünschenswert. Teilweise sind inzwischen seitens des Neonazismus selbst Ansätze für eine Selbsthistorisierung zu verzeichnen (etwa Wulff und Rose 2010 sowie Berichte in der N.S. Heute).

Dem derzeitig hohen Publikationsvolumen zum Rechtsextremismus entgegen, erscheinen die Desiderate zu den aktuellen Erscheinungsformen des Neonazismus eher noch anzuwachsen. Studien zu den derzeitig aktiven Gruppierungen, aber auch zum spezifisch neonazistischen Handeln in neuen Medien, den neonazistischen Subkulturen oder internetbasierten neonazistischen Jugendszenen sind rar. Dies mag mit Blick auf den Wahrnehmungs- und auch den Bedeutungsverlust des Neonazismus gegenüber anderen Spielarten des Rechtsextremismus erklärbar sein. Angesichts der weiterhin tausende Personen starken Gruppierungen und der dokumentierten Gewaltpraxis und -latenz, die diesem Spektrum innewohnen, kann die Existenz dieser Forschungslücken weder befriedigend sein, noch sollte sie leichtfertig hingenommen werden.